SUPTA VAJRASANA

Die Diamantenstellung (Supta Vajrasana) öffnet das Herz.

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/epubstore/H/J-Hagedorn/Mantramanner/OEBPS/e9783641058159_i0063.jpgUnser Reiseprogramm auf Ibiza ließ sich in zwei Worten zusammenfassen.

Eine Unverschämtheit.

Einfach eine Unverschämtheit, weil es mit so viel Liebe zusammengestellt war, als hätte jemand dabei an ein Honeymoon-Paar gedacht.

Eine doppelte Unverschämtheit, weil ich es nicht gemeinsam mit einem Mann genießen konnte, in den ich verliebt war.

Eine dreifache, weil … nun ja, weil genau dieser Mann ja in greifbarer Nähe war. Trotzdem benahmen wir uns schon seit drei Tagen penetrant so, als wären wir Kollegen. Als hätte es die Nacht nach der Betriebsfeier nie gegeben und nicht einmal das Gespräch auf der Dachterrasse.

Dabei führten wir einen seltsamen Tanz umeinander auf. Wenn ich mit einem Glas Cava an der Brüstung einer Terrasse stand, neben mir ein Lautsprecher, aus dem entspannte Elektromusik blubberte, unter mir das türkise Meer, das an steil aufragende Felswände spritzte, war es unter Garantie Chris, der ganz zufällig eine Olive von seinem Teller für mich übrig hatte. Wenn ich auf dem Hippiemarkt von einem Stand mit rosa Stickblüschen in Kleinmädchengrößen aufschaute, wühlte sich mit Sicherheit Chris auf der anderen Seite durch bestickte Schals. Dann wieder legten wir beide eine demonstrative Gleichgültigkeit an den Tag, die schon beinahe feindselig wirken mochte. Wir saßen an entgegengesetzten Enden des kleinen Ausflugsbusses, und wenn ich die Erste war, die sich ein Mountainbike schnappte, dann war er mit Sicherheit der Letzte. Wir starrten aneinander vorbei, wenn die Sonne hinter der Terrasse eines schicken Beachclubs unterging, wir ignorierten gemeinsam den Mond beim nächtlichen Bummel in der Festung von Eivissa.

Unser seltsames Verhalten schien niemandem aufzufallen, jedenfalls hatte ich noch keine Gerüchte gehört. Im Geist legte ich die Fingerspitzen zusammen, führte sie an mein Herz und verneigte mich vor Klaus-Peter. Seit er und die Sekretärin des Controlling-Geschäftsführers beide nicht an der Piraten-Bootsfahrt rund um die Südspitze Ibizas teilgenommen hatten, hatte die Gruppe wenigstens jemanden, der ihnen eine Portion Drama und Abenteuer lieferte.

Die Abende waren lang und lau, die Meeresfrüchteteller voller Knoblauch und der Weißwein unwiderstehlich. Nachts konnte ich dann in meinem Kingsize-Bett nicht schlafen, egal ob ich senkrecht, quer oder mit den Füßen zum Kopfende lag, und fühlte mich von den drei Kissen darin persönlich ausgelacht, wo doch schon zwei davon mir auf unmissverständliche Weise klarmachten, wie allein ich war. Da konnte ich noch so sehr in mir ruhen, auf die Dauer war die Liebesbeziehung zu mir selbst dann doch recht eintönig. Kaum war es hell, wachte ich aus unruhigen Träumen auf, die alle auf einem blauen Sofa spielten und nach Chris rochen.

Völlig gerädert ging ich dann um halb acht im Yogadress zur Early-Morning-Stunde in ein sonnendurchflutetes Studio im ersten Stock und ließ mich von einer winzig kleinen Spanierin mit Kringellocken und einem kindlichen Körper beschimpfen, weil ich meine Asanas nicht sorgfältig genug ausführte. Sie war Anhängerin der Yogaschule von B. K. S. Yengar, und ihr großer Meister legte großen Wert auf millimetergenaue Stellungen.

Am ersten Morgen hatte sie mir sogar verboten, in den Schulterstand zu gehen. »Note laike sise!«, hatte sie in ihrem gleichzeitig harten und weichen Spanisch-Englisch gerufen, und ich hatte ihr wohlweislich verschwiegen, dass ich nicht nur Schülerin war, sondern auch Lehrerin. Es war beinahe noch unangenehmer als der Moment, in dem ich in der Kantine gezeigt hatte, dass ich meine Handflächen nicht auf dem Fußboden ablegen konnte. Frau Rosenkötter ließ grüßen.

Seitdem verbrachte ich die meiste Zeit in der »Stellung des Kindes«, mit angezogenen Beinen auf dem Boden kauernd. Manchmal schlief ich darüber ein. Kein Wunder. Schließlich hatte ich die halbe Nacht wach gelegen und war todmüde.

Zudem konnte ich mich hier wenigstens in einer von vierundzwanzig Stunden entspannen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet Chris hier hereinplatzen würde, lag im Minusbereich.

Und dann kam der letzte Abend.

Schon wieder hatten es die Organisatoren ekelhaft gut mit uns gemeint. Zwar hatte ich immer geglaubt, ich sei die einzige Person mit einer Vorliebe für spanische Dachterrassen. Aber Miguel, der kleine Lockige mit den außergewöhnlich vielen Zähnen, hatte wohl auch schon mal davon gehört. Jedenfalls fanden wir beim Essen in einem Lokal in der Altstadt jeder eine persönliche Einladung auf dem Tisch.

»Party on the Sunny Side of Life«, prangte in goldenen Buchstaben auf der gefalteten Karte. Ab zweiundzwanzig Uhr sollten wir uns oben auf dem Dach einfinden, zu einem Abschiedscocktail und Musik von einem berühmten DJ, der morgen einen großen Gig in einem der Techno-Clubs hatte und ausnahmsweise für uns auflegen würde. Wahrscheinlich war er im gleichen Hotel untergebracht und brauchte uns als Versuchskaninchen. Wenn seine Musik sogar fünfzigjährige Marketingleiter zum Tanzen bringen würde, so dachte er sich vermutlich, dann sollte er es beim zwanzigjährigen Partypublikum deutlich leichter haben.

Darunter stand noch etwas, in winzigen Buchstaben. Dresscode: White as the night.

Panisch ging ich in Gedanken mein Reisegepäck durch. Ich hatte überhaupt nichts Weißes dabei.

Oder halt: Ich hatte etwas. Meinen Yogadress. Die Hose und das Wickelshirt mit dem OM-Aufdruck. War zwar nicht das, was ich üblicherweise für eine Party getragen hätte. Aber wenigstens die Farbe stimmte.

Über dem Tisch trafen sich Chris und mein Blick, und er schien etwas sagen zu wollen. Jedenfalls öffnete er die Lippen und schloss sie wieder, wie ein Koi-Karpfen, der nach Luft schnappte. Ich sah ihn fragend an, doch dann winkte er ab. Bald kam eine Platte mit ölig eingelegtem Tintenfisch, Scampi und Muscheln, und gefräßiges Schweigen legte sich schwer über unseren Tisch.



Um Viertel vor zehn stand ich vor dem Kleiderschrank in meinem Zimmer und dachte über zwei Probleme nach.

Das eine betraf meine Füße. Ich hatte nämlich keine weißen Schuhe. Nicht einmal annähernd. Stattdessen hatte ich mich für ein paar schwarze Römersandalen entschieden, die ich gestern im spanischen Schlussverkauf erstanden hatte. Aber so richtig passend waren die auch nicht. An nackten Waden sahen sie gut aus, aber unter einer Hose bildeten die Wildlederfransen einen hässlichen Wulst. Einzige Alternative war barfuß gehen. Und bekanntlich zog ich meine Füße nicht für jeden aus. In einer Yogastunde mochten sie Teil einer großen, demokratischen Versammlung von Gleichhässlichen sein, aber bei einer Party standen sie nicht auf der Gästeliste.

Mein zweites Problem war deutlich größer, hatte blonde Locken, ausgeprägte Kieferknochen und sexy Hände.

Wenn Chris und ich nach dieser Reise einfach wieder auseinandergehen würden, dann wäre es diesmal für immer. Von den vielen Dingen, die keiner von uns aussprach, war dies das allerklarste. Eine dritte Chance würde es nicht geben. Nicht mal auf dem Betriebsfest im nächsten Frühjahr.

Allmählich begann ich mich zu fragen, ob ich nicht genau den entgegengesetzten Fehler machte wie vor einem halben Jahr. Ob ich diesmal so unnahbar war, dass Chris glauben musste, ich würde mich nicht mehr für ihn interessieren. Dass er glauben konnte, ich wäre mir nun endgültig selbst genug.

Die ganze Zeit fragte ich mich: Konnten Yoga-Frauen und Mountainbike-Männer miteinander glücklich werden? Und warum eigentlich nicht? Schließlich gab es auch Mischehen zwischen Muslimen und Christen. Und Wohngemeinschaften, in denen HSV- und St.-Pauli-Fans lebten. Nahm ich wenigstens an.

Ich brauchte dringend Beratung. Ich brauchte eine Selbsthilfegruppe. Ich brauchte den Rat einer Betroffenen.

Und plötzlich fiel es mir ein. Ich kannte sogar eine.

Melli.

Steve und sie – war das nicht genau so eine Kombination? Und außerdem, ich musste es mir eingestehen, verstand sie viel von Liebe. Wahrscheinlich mehr als ich.

Jahrelang hatte ich mich innerlich lustig gemacht über ihre langweilige Beziehung und die samstäglichen Pärchendialoge an der Tiefkühltruhe im Supermarkt. Erst in den letzten Monaten hatte ich verstanden, wie echt Melli war. Nie war sie einer Taktik gefolgt. Sondern immer nur dem, was ihr Herz ihr sagte.

Gut, es konnte durchaus passieren, dass ihr Herz kein besonders verlässlicher Ratgeber war. Trotzdem folgte sie ihrem Gefühl, auch wenn es sie manchmal in steinige Gegenden brachte oder an Türen, hinter denen keiner zu Hause war.

Und, nicht zu vergessen: Sie hatte einen Kerl, der ihren Altar andübelte. Obwohl dafür der Plasmafernseher aus dem Schlafzimmer verschwinden musste.

Ich nahm einen tiefen Atemzug. Spürte, wie die Luft kühl durch meine Nasenlöcher einströmte, wie ich sie in meiner Lunge wärmte, zum Leben erweckte und wieder entließ. Dinge kamen und gingen. Ich musste nichts tun. Nur das eine noch.

Und während draußen die Stadt zu ihrem späten, ihrem brausenden und tosenden Nachtleben erwachte, griff ich nach meinem Handy und wählte Mellis Nummer.