VRKSASANA
Der Baum (Vrksasana) öffnet das Nabelchakra. Diese starke Zentrierung auf die eigene, energetische Mitte fördert das klare Denken und das innere Gleichgewicht.
Als ich am Samstagmorgen das Wohnzimmer betrat, kam gerade die Sonne hinter einer Wolke hervor und strahlte die neuen grünen Blättchen an meinem Ficus an, sodass sie aussahen, als hätte man lauter Lämpchen in ihnen angeknipst. Das war ein Zeichen, da war ich ganz sicher.
Ich wusste nur nicht genau, wofür.
Wie anders war das noch vor wenigen Wochen gewesen, als ich morgens mit Kobolden im Kopf aufgewacht war! Wenn ich zurückdachte, dann schien mir damals jeder Morgen grau. Das konnte natürlich daran liegen, dass es vor ein paar Wochen noch März gewesen war. Aber auch an dem neuen Energie- und Lichtfluss, der seitdem zwischen meinen vernachlässigten Chakren strömte.
Mittlerweile schämte ich mich nicht einmal mehr für die peinliche Angelegenheit mit Chris. Wenigstens nicht mehr so sehr. Wahrscheinlich war er mir vom Universum gesandt worden. Nicht um der Mann an meiner Seite zu werden, sondern um endlich aufzuwachen aus meiner zynischen und materialistischen Existenz. Und mich an Orte und zu Menschen zu führen, die mich geistig weiterbringen konnten. Ich legte mich auf den Boden, nahm die Ruhestellung ein und ließ meine Gedanken fließen.
Sie flossen zu meinem Kleiderschrank. Und sie flossen zu Chris.
So hatte ich das eigentlich nicht vorgehabt.
Es war nicht zu leugnen: So aufregend ich Siv fand, ich war immer noch nicht ganz über Chris hinweg. Und sei es, weil ich genau wusste, was ich angezogen hätte für unser Wiedersehen. Wenn es denn eines gegeben hätte.
Ganz im Gegensatz zu dieser Verabredung mit Siv heute Nachmittag. Es gab da dieses unschlagbare Kleid, türkis, mit aufgenähter Stoffblume. Mädchenhaft, aber nicht kitschig, sexy, aber nicht aufreizend. Im Sommer funktionierte es mit Flipflops, im Winter mit Stiefeln, und man konnte es auch noch mit einem Not-Blazer am nächsten Tag ins Büro anziehen, ohne dass Berger komische Bemerkungen machte. (»Na, Frau Frank? Auswärtsspiel gehabt?«) Ein Kleid, das mich so unnachahmlich umarmte, dass Männer, die mich darin sahen, regelmäßig Lust bekamen, es auch zu tun.
Hatte jedenfalls schon ein paarmal hervorragend funktioniert. Bloß passte mein Datekleid etwa so gut zum »Delhi Deli« wie eine Hollywood-Robe in eine rheinische Trinkhalle. Noch dazu am Nachmittag.
Ach, Chris.
Yogaklamotten. Vielleicht war das die rettende Idee.
Bis halb drei hatte ich noch Hoffnung, dass der Paketbote rechtzeitig kommen würde. Denn die Aurahose und die Stulpen vom Namaste-Versand wären auf jeden Fall eine gute Basis gewesen. So als käme ich gerade von der letzten Übungsreihe oder ginge gerade hin, nein, noch besser: Als seien mein Leben und meine Yogapraxis so untrennbar miteinander verwoben, dass es gar keinen Unterschied mehr machte, was ich trug.
Aber daraus wurde ja nun nichts. Also entschied ich mich wieder für die Variante »fröhliche Gärtnerin«: gekrempelte Röhrenjeans, Karoblüschen, flache Sneakers. Trotz meines Missgeschicks mit dem Stromkabel konnte Siv ja immer noch denken, dass ich der Typ für Grünpflanzen war. Gerade als ich einen Finger in meinen einzigen Blumentopf tauchte, um mir mit Erde ein paar authentische Ränder unter den Nägeln zu machen, sah ich aus dem Augenwinkel ein vertrautes Gesicht. Es blickte mich von einem Flyer an, der zuoberst auf einem Fensterbankstapel gelandet war.
Ich versuchte, so zu tun, als hätte ich ihn nicht gesehen, aber mit Buddha waren solche Spielchen nicht zu machen. Schon hörte ich wieder die altbekannte Stimme.
»Ich will mich ja nicht einmischen«, mischte Buddha sich ein, »aber warum arbeitest du so hart an einem Bild, das gar nichts mit dir zu tun hat?«
»Wie jetzt?«, gab ich mich begriffsstutzig.
Nicht mit Buddha!
»Du weißt genau, was ich meine. Du willst diesem Mann etwas verkaufen, das ihm gefällt. Obwohl das gar nicht du bist.«
»Bin ich wohl!«, gab ich patzig zurück. »Hast du die neuen Blätter an meinem Ficus gesehen?«
»Das liegt nur daran, dass du die Pflanze nicht mehr abwechselnd vertrocknen lässt und dann vor lauter schlechtem Gewissen ertränkst«, erklärte Buddha sachlich.
»Was bist du eigentlich? Ein Gott oder ein Gartenratgeber?«, fragte ich spitz.
»Ich bin für dich immer der, den du gerade am nötigsten brauchst«, gab Buddha sanft zurück.
»Ach was. Dann sag mir mal, was ich anziehen soll.«
»Nimm die grüne.«
»Bitte, wie?«
»Nicht die lila Bluse. Die grüne. Du bist Frühlingstyp, nicht Sommertyp. «
»Toll. Warst du in deinem früheren Leben mal Frauenzeitschriftenredakteurin? «
Ich musterte das gütige Gesicht auf dem Flyer. Wieso hatte ich den überhaupt aufbewahrt, nach meiner missglückten Probestunde bei Nitya? Dann zwinkerte Buddha mir zu, und ich wunderte mich nicht einmal mehr darüber.
»Was glaubst du denn, Schätzchen?«, fragte er. »Bei so vielen Leben, wie ich sie schon hinter mir habe?«
Ich tätschelte freundschaftlich seine Glatze. »Wer hätte das gedacht«, sagte ich, »mit dir kann man ja richtig Spaß haben.«
»Du solltest dir trotzdem mal Gedanken machen. Über das Bild, das du versuchst abzugeben. Und was in dir ist, wenn du dich nicht in einem Gegenüber spiegelst.«
Ich hätte das nicht sagen sollen, mit dem Spaß. Jetzt wurde er wieder so sauertöpfisch-philosophisch.
»Also keine Erde unter den Fingernägeln«, schloss ich. Buddha nickte und stieß einen kleinen Seufzer aus, der uralt klang und von weit her zu kommen schien.
Ich wäre gern unbemerkt ins »Delhi Deli« eingetreten und hätte erst
einmal von der Tür aus geschaut, ob Siv schon da war. Zwar war ich
zehn Anstandsminuten zu spät, aber das Buddhamobil hatte ich
draußen nirgends gesehen. Und ich hasste es, allein in einem Lokal
auf einen Mann zu warten. Dieses Kaninchen-vor-der-Schlange-Gefühl,
als würden einen alle anstarren und sich fragen, was diese Frau
wohl falsch gemacht hatte, dass der Kerl sie versetzte.
Doch ich hatte meine Rechnung ohne die Tempelglöckchen an der Tür gemacht. Sie läuteten beim Eintreten so aufdringlich, dass alle ihre Köpfe drehten bis auf den Imbiss-Inder mit den undurchdringlichen Augen. Er stand auf die gleiche Weise hinter der Theke wie bei meinem letzten Besuch mit Anna. Man hätte meinen können, dass er auch immer noch dasselbe Glas putzte. Langsam fragte ich mich, ob er echt war. Möglicherweise musste man ihn morgens aufziehen.
Der Moment der Peinlichkeit dauerte aber nicht lang. Siv war tatsächlich schon da und rührte mit einem langen Löffel in einer Lache auf dem Grund seines Chaiglases. Er saß genau unter dem 1997er-Kalender mit dem Bild des elefantenköpfigen Gottes und bildete schon wieder einen äußerst reizvollen Kontrast dazu. Langsam fragte ich mich, ob das nicht doch eine Masche war. Ob er sich bewusst in Szene setzte. Genau so, wie sein makelloses Gesicht vor dem Hintergrund eines abgerockten Beachclubs noch besser zur Geltung kam.
»Siv!«, ich stolperte auf ihn zu und zupfte an meiner Bluse. »Wirklich schön, dich hier zu treffen! Mir ist so richtig nach einem heißen Chai.«
Das war glatt gelogen. Draußen spielten Schäfchenwolken am Himmel fangen, pummelige Teenager führten ihre Victoria-Beckham-Sonnenbrillen und ihre frisch enthaarten Beine aus, und in meinem früheren Leben hätte ich mit Sicherheit schon die zweite Iced Latte des Tages spazieren getragen. Aber ich wollte nichts sagen, das die Atmosphäre zwischen Siv und mir verdorben hätte. Wir würden hier sitzen, Chai trinken, vom Beruflichen aufs Private kommen und dann aufs noch Privatere. Nach der dritten Runde konnten wir ja vielleicht in ein nettes Gartenlokal wechseln, es gab hier gleich in der Nähe diesen romantischen Hinterhof-Mexikaner. Der Beginn einer lauschigen Frühsommernacht.
Siv lachte. »Du hast wirklich einen schönen Sinn für Ironie! Und völlig recht, es ist eigentlich nicht das Wetter für heiße Getränke! Lass uns lieber ein bisschen spazieren gehen, in den Park.«
»In den Park?« Ich sah ihn entsetzt an. »Aber da gibt es doch gar nichts!«
»Wie meinst du, da gibt es nichts?«
»Na, zu trinken«, stotterte ich. »Die haben nicht mal einen Kiosk.«
Er betrachtete mich amüsiert. »Komisch«, sagte er, »ich dachte, du wärst mehr so der naturverbundene Typ.«
Spaziergänge. Das letzte Date, bei dem ich spazieren gegangen war, war im Erscheinungsjahr des Elefantenkalenders gewesen. Mit Mirko Hansen aus der 11 b, in den ich monatelang heimlich verliebt gewesen war, ohne dass er sich auch nur meinen Vornamen merken konnte. Wenn er überhaupt mit mir sprach, nannte er mich Wiebke statt Evke. Eines Tages hatte er mir im Stadtpark ein Eis ausgegeben und mich später mit dem Bindegürtel meines Sommerkleides an einen Strauch geknotet, weil er das plötzlich für eine lustige Idee hielt. So war es dann weitergegangen. Monatelang hatte er sich nicht entscheiden können, ob er mich toll fand oder bescheuert. Irgendwann beruhte das Gefühl auf Gegenseitigkeit. Drei Tage später war Schluss.
»Spazieren gehen«, flötete ich, »das ist … na, mal wirklich etwas anderes. Da ist man so nah dran an den Dingen.«
Der Inder hinter der Theke wackelte mit den Schultern. Vielleicht lachte er, ich war aber nicht ganz sicher. Vielleicht waren es auch die letzten Zuckungen, bevor man ihn wieder aufziehen musste.
»Sie«, fragte ich, »haben Sie auch Chai to go?«
Die gute Nachricht: Es gab Chai to go. Sogar mit Milchschaum. Die schlechte: Ich musste ihn in einem Becher tragen, wie sie aus Kaffeeautomaten an ganz schlechten Autobahnraststätten kommen. Abwechselnd löste ich Daumen, Zeige- und Mittelfinger vom heißen Plastik, wenn der Schmerz unerträglich wurde. Ich hatte nur die Wahl, mir entweder die Hand zu verbrennen oder die Lippe.
Wir überquerten die Straße, wichen haarscharf einem Fahrrad
fahrenden Kind mit einem zwei Meter hohen
Prinzessin-Lillifee-Wimpel an einer sehr flexiblen Kunststoffstange
aus und bogen schließlich in den Park ein. Ich warf einen leidenden
Seitenblick auf Siv. Wenn er wirklich so ein Karma-Yoga-Jünger war,
konnte er die Gelegenheit gern wahrnehmen und das glühende Monster
für mich tragen. Doch er machte keine Anstalten dazu.
Auf der großen Wiese im Park kauerten Frauen mit Migrationshintergrund auf Picknickdecken mit Plastikunterseite und öffneten eine Tupperware nach der anderen, während ihre Männer große, blutige Fleischstücke auf einem Grill verteilten. Jungen kurvten mit ihren Skateboards um die Ecken. Mädchen joggten bauchfrei.
»Also«, fragte Siv, »was genau wolltest du jetzt von mir wissen?«
Der Chai war immer noch kochend heiß. Am liebsten hätte ich mich hingesetzt. Allerdings hätte Siv dann meine Naturverbundenheit überhaupt nicht mehr ernst genommen.
Auf seine Frage wäre mir so einiges eingefallen. Ob er eine Freundin hatte, zum Beispiel. Oder was er mit seinem rasierten Kopf machte, dass der immer so appetitlich glänzte. Glücklicherweise konnte ich mich beherrschen.
»Ja, also«, fing ich an, »wie gesagt, ich werde in meiner Abteilung demnächst einen Yoga-Workshop geben. Ich arbeite in einem großen Reisekonzern, Sunny Side, vielleicht erinnerst du dich, es gab da diese bekannte Radiowerbekampagne. Gesungen von Aisha Schnepfke, die in der fünften Staffel von DSDS Dritte geworden ist. ›Reisen zu kleinen Preisen‹. Später hieß der Text ›Reisen zu ganz kleinen Preisen‹. Und dann ›Reisen zu winzig …‹«
»Evke?« Siv war stehen geblieben und legte mir ohne Vorwarnung seine Hand auf den Unterarm. Ich zuckte vor Überraschung zurück. Der Chai spritzte und hinterließ einen Fleck in Höhe meines Nabelchakras. Immerhin war der Becher jetzt nicht mehr ganz so voll.
Siv ließ seine Hand auf meinem Arm liegen und sah mir in die Augen. Und ich in seine. Schokoladenbraun, mit goldenen Sprenkeln. Das Meer bei Goa, im Sonnenuntergang. Dann beugte er sich zu mir herunter. Ich hätte beinahe mit meiner Nasenspitze seine Nasenspitze berühren können. Wenn ich nicht komplett bewegungsunfähig gewesen wäre.
»Siv«, hauchte ich. Die Härchen auf meinem Unterarm stellten sich auf. Der ganze Park um mich herum begann sich zu drehen. Grills und Laufradkinder, Joggingfrauen und saftig grüne Buchen wirbelten wie ein Windrad um mich herum, immer schneller, bis ich nichts mehr erkennen konnte.
Jetzt würde es geschehen. Schneller als erwartet, überraschend. Yogis hatten eben oft ihr eigenes, ganz unberechenbares Tempo. Vielleicht brauchte der Namaste-Versand zwei Wochen, um meine Armstulpen einzutüten. Aber Siv nur eine Viertelstunde, um mich zu …
»Evke, ich muss dich mal kurz unterbrechen. Weißt du, was ich am Yoga besonders schätze? An dieser ganzen Community?«
Stumm schüttelte ich den Kopf. Halb rechnete ich immer noch damit, dass er mich küssen wollte. Doch ich musste zugeben, es war schon eine etwas seltsame Einleitung.
»Dass die Menschen einander ohne Masken begegnen. Pur, wenn du verstehst, was ich meine. Weil sie sich nicht hinter Oberflächlichkeiten verstecken müssen, den imposanten Berufsbezeichnungen auf ihren Visitenkarten, Adressen in schicken Wohnvierteln, Automarken. Nichts gegen deine Reisefirma, aber so genau will ich das alles gar nicht wissen.«
Jetzt war ich völlig aus dem Konzept gebracht. Alles war plötzlich sehr still, bis auf das Geschrei eines Jungen auf der Wiese.
»Ich hab dem Metin seine Grillzange nicht!«, rief er. »In echt jetzt!«
Siv drückte meinen Arm freundschaftlich, so wie man es bei einem Kind machen würde. Dann ging er einfach weiter, als wäre nichts passiert.
Ich stolperte hinterher und fühlte mich, als hätte gerade jemand einen Gartenschlauch auf mich gehalten und voll aufgedreht.
»Weißt du«, begann Siv, »im Grunde gibt es beim Yoga keine Regeln. Du kannst natürlich eine Gruppe anleiten und die Asanas in der Reihenfolge vorführen, wie wir es auch beim Workshop in Werderhorst gemacht haben. Du kannst dir aber auch selbst ein Programm zusammenstellen. Das ist oft eine Frage des Gespürs, der Achtsamkeit für die Energie, die in einer Gruppe herrscht. Da merkst du selbst am besten, was für die anderen gut ist. Und für dich selbst.«
Ich nickte eifrig, dankbar, dass er das peinliche Schweigen gebrochen hatte. Auch wenn er scheinbar nicht registrierte, wie es meiner eigenen Energiebilanz gerade ging.
Hatte er überhaupt mitbekommen, was er da getan hatte? Dieser seltsame Beinahekuss, der sich dann als Nullnummer entpuppt hatte? Vielleicht funkten Yogis auf einer völlig anderen Frequenz als andere Menschen. Auf dem Workshop in Werderhorst war ich absolut überzeugt gewesen, dass Siv mich angeflirtet hatte. Und dass es nur einen Schritt von mir brauchte, eine kleine Einladung, um mehr daraus zu machen. Aber scheinbar hatte ich mich getäuscht. Vielleicht war es eher so eine keusche, allgemeine Zuneigung für sämtliche Kreaturen. Menschen, Tiere, Pflanzen.
Eine Weile liefen wir stumm, während es in meinem Kopf eher nach Sturmflut auf Hallig Hooge aussah als nach Sonnenuntergang am Strand von Goa. Dann näherte sich seine Hand wieder und landete auf meiner Schulter. Durch den Stoff meiner Bluse hindurch drückte er mich sanft. Vielleicht bildete ich es mir ein, aber der Druck war anders als der vorher. Eine Nuance weniger väterlich.
Ich schöpfte wieder Hoffnung.
»Ich hoffe, du nimmst mir das nicht krumm«, sagte er, »ich wollte dich nicht belehren. Natürlich kannst du mir alles erzählen, was du möchtest. Wenn das so für dich stimmt.«
Wieder seufzte ich. Diesmal nicht mehr vor Hitzeschock. Was für ein sensibler Mann.
»Also, wenn du mich noch etwas fragen möchtest …«
»Wie heißt du denn eigentlich wirklich?«
Wieder mal so eine Frage, die irgendwo in meiner Mundhöhle herumgelegen haben musste und einfach so herausgepurzelt war.
»Wirklich?«
Siv sprach das Wort überdeutlich aus, als hätte er es noch nie gehört und müsste es in einem Sprachkurs wiederholen. »Wie meinst du das, wirklich? Meinst du den Namen, den meine Eltern mir einmal gegeben haben, vor langer Zeit? Denn wenn du mich nach meinem wirklichen Namen fragst, ist die Antwort ganz leicht. Den kennst du schon.«
»Siv?«, fragte ich lahm.
»Sivananda«, echote er.
»Und hast du dir das selbst ausgesucht?«, fragte ich weiter.
Er schüttelte den Kopf und lächelte unergründlich. Dabei sah er sehr sexy aus. Ein Mann mit Geheimnissen. Allmählich begann ich zu verstehen, was Männer an schweigsamen Frauen fanden.
»Das passiert, wenn man sich weihen lässt«, erklärte er schließlich. »Man sucht sich sein persönliches Mantra aus und einen persönlichen Schutzpatron aus der hinduistischen Götterwelt. Aber den Namen, den gibt einem der Lehrer.«
»Man hat einen persönlichen Gott?«
»Die Hindugötter stehen alle für verschiedene Aspekte des einen, Göttlichen. Du bist zum Beispiel eher so der Ganesh-Typ«, sagte er.
Der Ganesh-Typ. Wie kam er denn da drauf? Unauffällig blickte ich an meinen Hosenbeinen herunter. Die Jeans waren wohl doch nicht so vorteilhaft, wie ich vorhin gedacht hatte.
»Der Elefant?«
»Genau. Ganesh, der elefantenköpfige Gott, der mit seiner Kraft einen Weg durch den Dschungel bahnt. Er steht für die Energie des Neubeginns.«
Na dann. Dann war das wohl so eine Art Kompliment.
»Andere Götter stehen für die Kraft der Erhaltung, der Veränderung, der Kreativität«, erklärte er weiter. »Ich selbst fühle mich besonders mit Shiva verbunden. Seiner Leichtigkeit, Dinge immer wieder aufzulösen und neu zu denken.«
Wir waren wieder am Ausgang des Parks angekommen, und Siv blickte auf die Uhr. »Gut«, sagte er, »ich muss dann mal los. Sehen wir uns beim Sommerfest?«
»Sommerfest?«
»Mittwochabend, in der Buddha Lounge. Gibt ein leckeres veganes Büfett und Mantra-Dance für alle. Ich würde mich freuen!«
Wieder dieser Blick wie ein südindischer Sonnenuntergang.
Und dann legte er auch noch seine Hand an meinen Hosenbund.
Was wurde das denn?
Er strich über den Stoff meiner topmodischen Denim-Röhre, dann schnalzte er mitfühlend mit der Zunge.
»Und tu mir einen Gefallen«, sagte er leise, »nicht mehr diese Hosen. Ich kann fast körperlich spüren, wie sie deine Energie blockieren. Und du hast jede Menge Energie, das weißt du ja.«
Bei den letzten Worten waren wir wieder auf der Grillwiese angekommen. Die Familie stritt noch immer. »Ich hab die in echt nicht«, schrie der Junge. »Ich schwör!« Noch einmal spürte ich den leichten Druck auf der Schulter, dann hob Siv grüßend die Hand. »Namaste«, sagte er, »schön, dass wir so offen gesprochen haben.«
Schließlich wandte er sich ab und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Während ich noch dastand und nachgrübelte, ob Siv das mit den Hosen ernst gemeint hatte und wo wohl Metins Grillzange geblieben war, dudelte »Karma Camaeleon« aus meiner Brusttasche. Ich fingerte nach dem Handy und klappte es auf. Unbekannter Teilnehmer.
Sicher wieder irgendein trauriger Telemarketing-Mensch, der viel telefonierende Frauen unter dreißig für eine neue Super-Flatrate gewinnen sollte. Oder jemand mit einem altmodischen Analogtelefon ohne Nummernanzeige. Wen kannte ich denn, der so etwas noch benutzte?
Plötzlich hatte ich eine Eingebung. Mein Vater! Vielleicht wurde er langsam ungeduldig, weil ich mich seit Wochen nicht auf seine E-Mail meldete.
»Hallo?«
Die Stimme des Anrufers klang undeutlich und irgendwie gepresst. Papa war es jedenfalls nicht.
»Evke? Bist du das? Ich muss dich mal sprechen. Hier ist Steve.«
»Steve?« Etwas griff mit kalten Fingern nach mir. Steve hatte mich in meinem ganzen Leben noch nie angerufen. Das konnte nur eines bedeuten. Nämlich …
»Um Gottes willen, Steve! Ist irgendwas mit Melli?«
Am anderen Ende war es still bis auf ein statisches Knacken. Ich schickte ein kurzes Stoßgebet ins Universum, ohne genau zu wissen, an wen. In dringenden Fällen würde es hoffentlich auch so bei der richtigen Adresse landen. Vielleicht bei einer tierköpfigen Schutzpatronin für beste Freundinnen.
»Nee«, kam es schließlich gedehnt zurück, »das kann man so nun auch nicht sagen.«
Ich sog so viel Luft ein, wie ich auf einmal bekommen konnte, und ließ sie gleich wieder frei.
»Mann, Steve. Jetzt hast du mich aber ganz schön erschreckt. Muss ich mir also keine Sorgen machen.«
Wieder war es still, und ich fragte mich schon, welches meiner Worte er diesmal nicht verstanden hatte. Jetzt? Hast?
Dann stöhnte er. »Nein. Oder vielleicht doch. Ich weiß es doch auch nicht.«
»Erzähl, was ist los?«
»Geht nicht. Bin auf Arbeit. Aber können wir uns mal treffen? Auf einen Kaffee oder ein Bier?«
Mein erster Schrecken verwandelte sich in vorsichtige Neugier.
»Klar können wir. Solange ich auch was anderes trinken darf.«
Er lachte irgendwie freudlos. »Entschuldigung, du bist ja eher der Typ für Sekt auf Eis. Bier, das ist dir wahrscheinlich zu proletisch.«
»Proletarisch.«
»Sag ich doch. Proletisch.«
»Okay, Steve«, sagte ich versöhnlich, »vielleicht auch beides. Nächste Woche?«
»Dienstag. Gleich nach der Arbeit. Barbies Bierbar.«
»Oh. Das klingt ja dringend.«
»Wenn du wüsstest«, stöhnte Steve, »wenn du wüsstest.«