KURMASANA
Die Schildkröte (Kurmasana) fördert die Flexibilität und hilft beim geistigen Rückzug in belastenden Lebenssituationen.
Und dann kam dieser Dienstag, an den ich mich mein ganzes Leben lang erinnern würde.
Ich weiß, das sagt sich so leicht: »mein ganzes Leben lang erinnern«. Aber, ganz ehrlich: Selbst bei wichtigen Ereignissen wissen wir doch später meistens nur noch so ungefähr, wie sie abgelaufen sind. Und nicht mehr jedes Detail drum herum. Oder kann sich jemand daran erinnern, was er an dem Morgen des Tages gefrühstückt hatte, an dem er den ersten Sex seines Lebens hatte? Oder bei welchem Lied morgens der Radiowecker angesprungen war an dem Tag, an dem Michael Jackson starb? Eben.
Dieser Dienstag hatte es so sehr in sich, dass ich mich auch in Jahrzehnten noch an jede Kleinigkeit erinnern würde. Am Abend war ich jedenfalls sicher: Ich hatte in den letzten zwölf Stunden nicht nur meine aktuellen Karmasünden abgebüßt, sondern sicherlich auch die meiner nächsten fünf Leben.
Das Tückische war, dass der Tag gar nicht so schlecht anfing. Und auch zwischendrin durchaus seine Momente hatte. Als ich um halb acht die Augen aufschlug, spielte die Welt da draußen jedenfalls ihr schönstes Sommertheater: Schäfchenwolken, Strahlesonne, Vogelgezwitscher, dazu diese komischen, kleinen Pappelsamen-Wattebäusche, die wie Schnee durch die laue Juliluft wehten. Der Wäschereimops trug ein neues blaues Samthalsband, der Leierkastenspieler leierte »All you need is love« (so kam es mir jedenfalls vor), der Patriotenpunk klimperte zum Gruß mit seinem Pappbecher voller Kleingeld. Nicht einmal die Liftbeleuchtung konnte meine grundlos beschwingte Stimmung dämpfen. Das alles ging so lange gut, bis ich mein Büro betrat und sah, dass jemand auf meinem Drehsessel kippelte, der da nicht hingehörte.
Der Jemand war Lisa-Marie. Und Lisa-Marie hielt etwas in der Hand.
Als sie mich bemerkte, streckte sie es mir anklagend entgegen und blickte mich an wie einer von zwei Cops in einem dreckigen Polizeithriller, der gleich ein sehr unangenehmes Verhör starten würde. Definitiv nicht der Good Cop, sondern der Bad Cop.
Ich trat noch einen Schritt näher, aber da ahnte ich es schon, mehr als ich es identifizierte. Lisa-Marie hatte ihre Bärchentasse gefunden.
In meiner Schreibtischschublade.
»Wie kommst du dazu, in meinen Sachen herumzuwühlen?«, ging ich in die Vorwärtsverteidigung. Verstohlen sah ich mich nach Berger um. Doch der hatte sich offensichtlich verdrückt. Typisch Mann. Hatte wohl Angst vor einer gepflegten Auseinandersetzung unter Frauen. Ich war fest entschlossen, mich für nichts zu entschuldigen. Für was auch? Ich hatte die Bärchentasse ja nicht einmal entführt. Im Gegenteil, ich hatte sie ja sogar wiedergefunden! Nur zurückgehalten hatte ich sie, für den richtigen Zeitpunkt.
»Ich höre immer nur ›richtiger Zeitpunkt‹«, vernahm ich plötzlich eine feine Stimme aus Richtung meines Schreibtisches. Verblüfft blickte ich mich um. Da saß Mr Minibuddha und zwinkerte mir verstohlen mit seinen Kunststoffaugen zu. Was mischte der sich denn plötzlich ein? Der hatte doch noch nie einen Ton von sich gegeben!
»Erinnert dich das an etwas?«
Hm. Punkt für ihn. Es erinnerte mich tatsächlich an was. Da musste ich gar nicht so tief in der Vergangenheit graben. Schließlich wartete ich in einer ungleich wichtigeren Angelegenheit auch bereits seit Wochen auf den richtigen Zeitpunkt.
Aber daran wollte ich nun wirklich nicht denken. Im Moment hatte ich ein anderes Problem.
»Lisa-Marie«, wiederholte ich lahm, »wie kommst du dazu, einfach meine Schreibtischschublade aufzumachen?«
Lisa-Marie warf sich mit einer Kopfbewegung eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich habe meine Quellen«, sagte sie in einem Ton, der wohl schneidend wirken sollte.
»Es ist aber nicht so, wie du denkst«, ging ich in die Defensive.
»Das hat mein Ex auch gesagt«, pampte Lisa-Marie zurück. »Und zwar, als ich ihn zufällig am Flughafen-Check-in getroffen habe, Arm in Arm mit meiner besten Freundin.«
»Wie schrecklich!«, rief ich mit Emphase. Zum einen, weil Lisa-Marie mir leidtat. Das konnte man nun wirklich keinem wünschen. Zum anderen, weil es mir nur recht war, wenn sie das Thema wechselte. »Wohin sind sie geflogen?«, erkundigte ich mich mitfühlend.
»Venedig«, sagte Lisa-Marie düster, »lenk nicht ab.«
»Ich meine nur«, ich baute mich vor meinem eigenen Schreibtisch auf und kippelte gegen die Tischkante, »ich habe deine Tasse nicht entführt. Ich hab sie nur zufällig gefunden.«
»So. Zufällig gefunden.«
Jetzt hörte sich Lisa-Marie nicht mehr an wie Bad Cop aus dem schmutzigen Agententhriller. Eher wie Oberinspektor Derrick, der dem verdächtigen Schwiegersohn im Rautenpullunder schon durch seinen Ton signalisierte: Freundchen, ich glaub dir kein Wort.
»Ja«, beharrte ich, »sie stand auf dem Klo herum. Keine Ahnung, wie sie da hingekommen ist.«
»Auf dem Klo. Keine Ahnung. Alles klar. Mit den Erpresserbriefen im Lift hast du natürlich auch nichts zu schaffen, oder? Wo sich die ganze Abteilung so krass drüber lustig gemacht hat?«
»Ja eben!«, rief ich. »Die haben sich vielleicht über meine, ähem, ich meine natürlich: deine Briefe lustig gemacht. Aber nicht über dich.«
»Netter Versuch«, gab Lisa-Marie sarkastisch zurück. Dann stand sie auf und beugte sich so nah zu mir, dass sich unsere Nasenspitzen beinahe berührten. Nur der Schreibtisch trennte uns noch und stemmte sich heldenhaft zwischen uns.
»Jetzt will ich dir mal was sagen«, begann sie und tippte bei jedem Wort mit ihrer Bärchentasse geben mein Brustbein. »Dein ganzes Yoga-Gesäusel, von wegen Frieden und Harmonie für alle Wesen, das kannst du alles in der Pfeife rauchen. Eine ganz berechnende, kalte Schlange bist du, jawohl. Du hast ja nicht die kleinste Ahnung, was diese Tasse hier mir bedeutet.«
Sie klopfte jetzt härter, und es fühlte sich an, als würde im nächsten Augenblick eines von beiden einen mächtigen Sprung bekommen. Entweder die Bärchentasse. Oder mein Brustbein.
»Die hat nämlich mein Freund mir geschenkt«, zischte sie, »zum Fünfmonatigen.« Beim Wort Freund schlug sie so hart gegen mich, dass mir beinahe die Luft wegblieb. Gleich, wenn sie weg war, brauchte ich eine Stellung, um mich wieder zu erden. Den Baum vielleicht.
Immerhin hatte sie es auf eine mindestens fünfmonatige Beziehung gebracht, und das mit achtzehn. So lange hatte ich es noch nie geschafft. Noch nie!
Und ich war achtundzwanzig.
»Warte!«, rief ich ihr hinterher, während sie hinausrauschte. »Dein Freund, war das etwa der Typ mit Venedig?«
Sie rauschte weiter und tat so, als hätte sie meine Frage nicht gehört. Volltreffer. Besser machte das aber auch nichts. Im Gegenteil. Ich bedauerte sie und fragte mich, ob tief in mir tatsächlich eine derart rabenschwarze Seele hockte. Im Moment gab es jedenfalls mehr Argumente dafür als dagegen.
»Buddha, mein Freund«, sagte ich, trat einen Schritt vom Schreibtisch zurück und stellte mich hüftbreit hin, »ich glaube, das ist der Beginn einer wunderbaren Feindschaft.«
Dann winkelte ich beim Ausatmen ein Bein an, legte die rechte Fußsohle gegen den linken Oberschenkel und streckte die Arme über dem Kopf, Handflächen zusammen. Der Baum. So bekam ich jedenfalls wieder Luft.
»Schade«, hörte ich Buddha wispern. »Du warst auf einem so guten Weg.«
Ich verdrehte den Kopf und verlor das Gleichgewicht. Dabei stieß ich mit der rechten Hüfte an meine Schreibtischkante. Aua. Missmutig rieb ich die schmerzende Stelle und sah Buddha an. Musste der jetzt auch noch auf mir herumhacken? Am liebsten hätte ich ihm die Zunge herausgestreckt. Doch machte man so was mit einem Gott?
»Wie, ich war auf einem guten Weg? Was ist denn das für eine Vergangenheitsform? Schau mich doch an, mein spirituelles Verhältnis zu Siv, meine Yogastunden bei Sunny Side!«
Buddha blickte mich mit der ganzen Nachdenklichkeit seiner mindestens hundert Leben an. Vielleicht war es die diffuse Bürobeleuchtung, aber seine Kunststoffaugen sahen plötzlich aus wie tiefe Bergseen aus dem tibetischen Hochland.
»Wir sind Lernende«, sagte er dann, »und Lehrende. Und wir sind es immer zur gleichen Zeit.«
Ich wollte ihn gern fragen, was dieser Kalenderspruch nun wieder mit mir zu tun hatte, aber mittlerweile hatte Berger das Büro betreten. Launig warf er seine mit Pinguinen bedruckte Krawatte über die Schulter, setzte sich federnd hin und zupfte seine Hose zurecht.
»Na«, fragte er, »wie ist heute das Karma-Klima?«
»Katastrophal«, murmelte ich, flüchtete mich an meinen eigenen Schreibtisch und vertiefte mich in meinen E-Mail-Eingang, »fragen Sie bloß nicht weiter.«
Wenigstens mein liebster Kommunikationskanal meinte es heute nicht so schlecht mit mir wie alle anderen. Geschrieben hatten mir der Namaste-Versand (»Sari-Pants für den Trip zu sommerlichen Kraftplätzen nur 49,90 Euro!«) sowie zwei Herren aus Südafrika, die mich als vertrauenswürdige Person für die treuhänderische Aufbewahrung eines Millionenvermögens auserkoren hatten, vorausgesetzt, ich überwies die geringfügige Bearbeitungsgebühr von 2900 US-Dollar auf ein Konto bei der Staatsbank von Nigeria.
Berufliche Post hatte ich wenig, und mithilfe meines neuen Textbaukastens hatte ich nach einer Stunde bereits vier Antwort-Mails fertiggestellt.
Ich ließ mir aber nichts anmerken. Heute war der ideale Tag, um beschäftigt zu tun (das konnte ich beinahe professionell, mit kleinen Aufseufzern zwischendrin und hektischen Griffen zum Telefon), ohne es im Mindesten zu sein. Ich hatte genug mit meinen eigenen Gedanken zu tun.
Ich musste die Sache mit Siv einfach beichten. Vielleicht war die Begegnung mit Lisa-Marie ja ein Wink des Schicksals gewesen, das mir zeigen wollte: So etwas passiert, wenn man mit der Wahrheit hinter dem Berg hält und sich nicht rechtzeitig erklärt. Dabei traf mich streng genommen ja weder am Verlust der Bärchentasse noch an Mellis unerfüllter Liebe eine direkte Schuld. Egal. Ich war in beides verstrickt, ja, nahezu verheddert, und beim Ersten hatte sich die Verstrickung mit einem unschönen Riss gelöst. So etwas durfte mir nicht dort passieren, wo es wirklich wichtig war.
Und dann, kurz vor der Mittagspause, kam mir die rettende Idee. Wenigstens hielt ich sie dafür. Vielleicht lag es ja auch an meinem Blutzuckerspiegel oder den Nachwirkungen des Bärchentassenschocks. Jedenfalls beschloss ich, Nadine eine Mail zu schreiben und ihr alles zu erzählen.
Im Grunde war es ganz logisch. Ich musste mit einer Freundin reden, wie ich ein Problem mit einer anderen Freundin ausräumen konnte. Und Anna kam nicht infrage, mit ihrer lebenslangen Verlobung mit Technikspinner Tobi. Die Glückliche. Sie hatte keine Ahnung, wie kompliziert Liebesdinge sein konnten. Sie hatte den richtigen Mann mit siebzehn getroffen, zugegriffen und behalten.
Nadine hingegen würde mein Dilemma sehr wohl verstehen. Und außerdem wollte ich auch ganz gern, dass sie von mir und Siv wusste. Wenn mich nicht alles täuschte, hatte sie ihm auch ganz interessierte Blicke zugeworfen, damals in Werderhorst. Sollte sie ruhig wissen, dass jemand wie er Feuer gefangen hatte bei jemandem wie mir. Dass er real war und keine Kopfgeburt.
»Hallo Sweetie«, begann ich meine Mail, »ist schon eine Weile her, dass wir gesprochen haben, und eine Menge passiert. So richtig verstehen kann ich noch immer nicht, warum Du gar nichts wissen wolltest über mich und meine neue Beziehung. Aber ich brauche dringend Deinen Rat.«
Ich strich erst das »dringend«, dann das Wort »Rat«. Klang zu bedürftig. »Ich wüsste gern mal, was Du zu einem bestimmten Problem meinst.« Hm. Klang ein wenig geschäftlich. Aber gut. Konnte man erst einmal so stehen lassen.
»Erinnerst Du Dich an den Yogalehrer von unserem gemeinsamen Wochenende in Ostfriesland? Groß, dunkel, kahl rasierter Schädel, tolle Grübchen? Seit ein paar Wochen sind Siv und ich nun zusammen, und ich muss sagen, ich bin so glücklich wie noch nie.«
Ich strich das »noch nie« und machte ein »seit Langem nicht« draus. Kurz überlegte ich, ob ich es noch mal in »seit drei Monaten« ändern sollte. Ende März, die Betriebsfeier. Dann entschied ich mich dagegen. »So glücklich wie seit drei Monaten nicht mehr?« Das klang doch reichlich seicht.
Auch wenn es die Wahrheit war.
Ich seufzte und tippte weiter.
»Im Grunde führen wir die perfekte Beziehung. Wir nähern uns sehr langsam und vorsichtig an, und auch Erotik ist eher ein Teil eines großen, fließenden Ganzen, das uns in allen unseren Aspekten umspannt.«
Ich las den letzten Satz noch einmal und nickte stolz. Was für eine poetische Beschreibung!
»Dass wir unsere Beziehung noch nicht öffentlich gemacht haben, hat zwei Gründe. Zum einen wünscht sich Siv, dass wir die Energie, die zwischen uns entsteht, zu diesem frühen Zeitpunkt nicht durch zu viel Geschwätzigkeit verpuffen lassen. Und zum anderen ist da das Problem mit Melli. Ich muss Dir das sagen, obwohl Melli mich um Geheimhaltung gebeten hat, also sag es bitte nicht weiter: Ihre Trennung von Steve hat stark mit Siv zu tun. Nadine, Melli steigert sich in eine Liebe hinein, die ausschließlich in ihrem Kopf stattfindet! Und ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst haben soll: Dass sie sich wehtut mit ihrer naiven Erwartung oder dass unsere Freundschaft an meiner Beziehung zu Siv zerbricht.«
Ich las meinen Text noch einmal durch und ersetzte das dritte »Beziehung« durch »Partnerschaft«. Jetzt klang der Satz wie aus einem Siebzigerjahre-Eheratgeber, aber schließlich kam es eher auf den Inhalt an als auf den Stil. Ich wollte außerdem keinen Roman schreiben, ich brauchte nur einen Tipp.
»Ich würde mich freuen, wenn wir uns mal auf ein Glas treffen und in Ruhe darüber reden könnten«, beschloss ich meine Mail, »Grußkuss …«
Weiter kam ich nicht. Im gleichen Moment klingelte das Telefon.
»Sie, Frau Frank?«, hörte ich am anderen Ende die aufgeregte Stimme unserer Empfangsdame. »Da ist jemand dran vom Fernsehen, der Sie sprechen möchte! Es geht um das Thema Yoga in großen Firmen!«
Fernsehen? Mich? Sprechen?
»Ist gut«, sagte ich cool, »stellen Sie durch.«
»Ja, Scheiblshäuser hier. Wie das Scheibchen und das Häuschen. Scheiblshäuser vom neuen Frauensender Fixx, dem fröhlichen Spartenkanal für – ach, was sage ich, den kennen Sie ja sicher bereits. Sie sind ja genau die Zielgruppe.«
Er lachte jovial, und ich war einen Augenblick lang versucht, aufzulegen. Wollte der mir ein Abo fürs Bezahlfernsehen verticken?
Aber dann kam’s.
»Ich bin meines Zeichens betreuender Redakteur bei unserer neuen Talksendung Bescheuert. Kennen Sie das Format bereits?«
Format?
Bescheuert?
Wovon redete der Mann?
»Ich dachte, im Fernsehen werden die meisten Sendungen sechzehn zu neun ausgestrahlt«, stammelte ich.
»Nicht das Bildformat, Frau Frank!« Herr Scheiblshäuser lachte jovial. »Ich meine die Sendung. Ach, entschuldigen Sie bitte, ich habe Sie vor lauter Aufregung gar nicht gefragt, ob ich Sie gerade bei etwas störe. Wenn ich ungelegen komme, können wir gern …«
»Nein, nein«, sagte ich schnell und suchte nebenbei im Mail-Adressverzeichnis. Nadine, Nadine, wo war sie bloß?
»Aber warum bescheuert?«, fragte ich.
»Nein, nicht wirklich bescheuert. Bé-scheuert. Verstehen Sie?«
Er sprach das Wort aus, als hätte es einen französischen Accent aigu auf der ersten Silbe.
»Bé-scheuert«, wiederholte ich dämlich. Währenddessen klickte ich hektisch herum, um die E-Mail in den Cyberspace zu befördern. Wozu war man schließlich multitaskingfähig.
Und ab. Mit einem fröhlichen Pling verkündete der Rechner, dass sich die Nachricht auf den Weg gemacht hatte.
»Bé-scheuert, so wie: Benita scheuert. Verstehen Sie? Zur besten Hausputzzeit am Dienstagmorgen um acht Uhr trifft sich unsere Moderatorin Benita von Zitzewitz mit Gästen in unserem komfortablen Studio-Badezimmer und scheuert dabei eine luxuriöse Badewanne, die uns freundlicherweise ein großer Werbekunde zur Verfügung gestellt hat. Während B., also Benita, ich meine: Also, während Benita scheuert, unterhält sie sich mit geladenen Gästen über Themen, die Frauen wirklich interessieren. Also Psycho, Partnerschaft, Sexualität, aber auch Familien- und Jobthemen. Ich meine, das hat doch etwas sehr Geselliges, dieses Konzept.«
»Aber ich kann überhaupt nicht putzen«, wandte ich ein.
»Das macht ü-ber-haupt nichts«, rief Herr Scheiblshäuser, als hätte ich ihm eben die schönste Nachricht des Tages verkündet. »Dafür haben wir ja Benita.«
»Und was hab ich jetzt damit zu tun?«
»Ja. Gutes Stichwort. Also: Wir konzipieren gerade eine Gästerunde zum Thema Yoga. Und da sind wir darauf gekommen, dass Sie durch ein hausinternes Angebot in Ihrem Reisebüro die Produktivität enorm steigern konnten, so stand es jedenfalls in einer aktuellen Pressemitteilung. Ist das richtig?«
Herr Scheiblshäusers Stimme klang nun eher blechern, was daran lag, dass Berger hinter mich getreten war und ungefragt den Lautsprecher angeschaltet hatte. Da hatte er wohl richtig verstanden, dass es nicht nur um mich ging, sondern auch um Sunny Side.
»Reiseveranstalter«, berichtigte ich ihn, »wir sind kein Reisebüro, wir sind Veranstalter. Der Unterschied ist …«
»Siebenundzwanzig Prozent!«, dröhnte Berger direkt neben meinem Ohr. »Unsere Kundenzufriedenheit ist um glatte siebenundzwanzig Prozent gestiegen.«
»Oh«, man konnte Scheiblshäuser förmlich nicken hören, mit anerkennendem Gesichtsausdruck, »das klingt beachtlich. Dann würde ich Sie, Frau Frank, jetzt gern mit meiner Sekretärin verbinden, die macht dann das Logistische. Freue mich, Sie übernächste Woche im Studio begrüßen zu dürfen. Und Putzkittel nicht vergessen! «
Er gluckste vergnügt in das betretene Schweigen hinein.
»Keine Sorge, Frau Frank. War nur’n Scherz. Den mache ich mit jedem. Also, übernächsten Dienstag in München?«
Ich blätterte hektisch in meinem Kalender. Irgendwie kam der Termin mir bekannt vor. Da war doch was, da war doch …
Ach ja. Mein Geburtstag.
Andererseits: Geburtstag hatte man immer wieder. Wenn es gut lief, achtzig bis neunzig Mal im Leben. Wer kam schon so oft ins Fernsehen? Noch dazu mit einer echten Mission?
Außerdem: Wenn die Sendung morgens war, konnte ich am Abend wieder zu meiner Party zu Hause sein. Ich musste mich nur entscheiden, mit wem ich feiern wollte.
Melli oder Siv.
»Frau Frank?«
»Äh, ja«, sagte ich, »ich musste nur kurz etwas organisieren. Logistische Probleme, Sie verstehen. Der übernächste Dienstag passt mir hervorragend.«
Wir beendeten das Gespräch, dann wandte ich mich wieder meinem Chef zu.
»Herr Berger«, fragte ich verwundert, »haben wir denn die neuen Quartalszahlen schon? Von wegen siebenundzwanzig Prozent? Gibt es das schriftlich?«
Berger winkte grinsend ab. »Evke, Sie sind vielleicht ein Herzchen. Klappern gehört zum Handwerk! Das müssten Sie doch wissen!«
In letzter Zeit war er dazu übergegangen, mich immer häufiger bei meinem Vornamen zu nennen. Wenn die Quartalszahlen wirklich so gut waren, dann würde er mir garantiert das Du anbieten.
Als ich gegen halb sechs Uhr nachmittags in Richtung Kantine
aufbrach, um meine Yogalektion abzuhalten, hätte ich den Tag gern
gelobt, obwohl noch nicht ganz Abend war.
Na gut, das mit der Bärchentasse war blöd gelaufen, aber dafür kam ich ins Fernsehen. Inklusive Übernachtung in einem zentral gelegenen Viersternehotel in München, weil die Sendung ja morgens im Studio aufgezeichnet wurde. Eine Stunde vor der Ausstrahlung. So früh war ich seit unserem Yogawochenende in Ostfriesland nicht mehr aufgestanden.
Berger hatte mir anstandslos zwei Tage Sonderurlaub genehmigt mit der Auflage, dass ich den Namen Sunny Side möglichst in jedem meiner Sätze zwanglos unterbringen sollte. Ich hatte zugesagt. Notfalls konnte ich danach immer noch behaupten, dass ein übereifriger Tontechniker sie herausgeschnitten hatte.
Mit diesen Nachrichten in der Hinterhand freute ich mich plötzlich sehr auf die Verabredung mit IPS, heute Abend nach dem Yoga. Sicher konnte sie mir noch ein paar gute Tipps für den Umgang mit der Presse geben, sie war ja schließlich vom Fach. Und ich würde wetten, dass sie von meiner Einladung nach München beeindruckt war. Was sie mir umgekehrt zu sagen hatte, das konnte ich mir immer noch nicht recht vorstellen. Ob es etwas mit Anna und der Einarbeitung in die neue Stelle zu tun hatte? Hoffentlich waren es keine schlechten Nachrichten.
Die heutige Stunde widmete ich den Stellungen, die unser Gleichgewicht wiederherstellen und Standfestigkeit verleihen. Der Duft eines Sandelholzräucherstäbchens vertrieb die feinstofflichen Überreste von Baked Potato mit geheimer Speckwürfelchenzugabe, und alle gaben sich redliche Mühe, sich so versetzt hinzustellen, dass sich im »Krieger« nicht ihre Finger zwischen den Rippen des Nebenmannes verklemmten. Die Asanas im Liegen ließ ich aus, dazu wäre heute nicht genügend Platz gewesen.
Bei so viel Zuspruch konnte ich den Ausfall meiner treuesten Schülerin schon verkraften. Auch wenn es schade war, dass Lisa-Marie nicht mehr kam. Ihre spirituelle Auffassungsgabe war jedenfalls deutlich höher, als ich immer gedacht hatte. Angeblich hatte sie beim Meditieren jedes Mal den feinen Ton von tibetischen Klangschalen gehört.
Dabei hatte ich gar keine.
Vielleicht sollte ich mich einfach bei ihr entschuldigen.
Obwohl so viele mitgemacht hatten, war ich nach der Stunde relativ schnell mit dem Aufräumen fertig. Gespannt ging ich in den kleinen Nebenraum, der neuerdings als Umkleidekabine genutzt wurde. Tatsächlich, auch IPS war hier und wechselte gerade umständlich ein weißes gegen ein blaues Wickelshirt.
Eine Zeit lang hatte sie den handelsüblichen, dickbäuchigen Buddhastatuen sehr ähnlich gesehen, jetzt war es vorbei damit. Die Buddhas waren nämlich fast ausnahmslos schlanker. Es wurde wirklich höchste Zeit, dass IPS hier herauskam, am besten, ich brachte sie nach unserer Verabredung umgehend in den Kreißsaal.
Während sie sich umzog, den Rücken mir zugewandt, redete sie mit einer Kollegin. »Und weißt du schon, wo du entbindest?«, fragte die Frau gerade.
»Klinikum Südstadt«, antwortete IPS, »die haben ein ganz neues farbpsychologisches Konzept, das den Neugeborenen den Übergang in die Welt erleichtern soll. Der Kreißsaal ist exakt in der Farbe gestrichen, die Ungeborene um sich herum wahrnehmen, wenn sie die Augen öffnen. So ein warmes Rot.«
»Und dein Mann, wird der …«
»Mein Lebensgefährte ist selbstverständlich dabei. Ganz niedlich, wie aufgeregt die Männer am Ende der Schwangerschaft werden. Neulich im Geburtsvorbereitungskurs hat er sogar ein Tränchen verdrückt, als die Hebamme Fotos von wenigen Stunden alten Neugeborenen gezeigt hat.«
»Ja, das ist wirklich eine neue Vätergeneration. Wenn ich da an unsere eigene Kindheit denke …«
Ich stand noch immer im Eingang, ein wenig unschlüssig, und lauschte dem Gespräch mit einer Mischung widersprüchlicher Gefühle. Meine neue Yogaseele quoll über vor Ergriffenheit über diesen tiefen, gewaltigen Akt der Natur. Geburt. Sich dem Leben zu öffnen wie die Lotosblüte dem Licht.
Meine alte Evke-Seele stänkerte abwechselnd (»Berufsschwangerschaft! Das gehört verboten!«) und jieperte neidisch wie ein junger Hund, der am Tisch bettelt (»Baby! Mann! Auch haben will!«).
Schließlich ging ich auf IPS zu und tippte ihr auf die Schulter.
»Hi, Ilona«, sagte ich, »wollen wir dann gleich los?«
Sie fuhr herum, und ich hätte schwören können, dass da ein Anflug von Panik in ihrem Gesicht war. Wo kam denn der her?
»Evke«, stotterte sie, »du … was machst denn … also, mit dir hätte ich jetzt gar nicht gerechnet.«
»Falls du es nicht mitbekommen hast, ich habe gerade die Stunde geleitet!«
»Ja, schon. Aber dass du schon so schnell hier bist …«
Wie ertappt griff sie nach ihrer Handtasche, und ich schüttelte innerlich den Kopf. So war das also mit der Schwangerschaftsdemenz.
Schweigend verließen wir die Kantine und gingen den Gang entlang.
»Was ist es denn, was du noch so dringend mit mir besprechen willst?«, fragte ich, doch IPS wehrte ab.
»Nicht hier«, sagte sie, »am besten, wir gehen an einen neutralen Ort.«
So langsam wurde mir die Sache unheimlich.
Wir liefen die Treppe hinunter und schließlich am Empfang vorbei. Die Empfangsdame saß unter einem auf Leinwand aufgezogenen Riesenposter von drei Strandschönheiten im Tangaslip, über deren Pos sich imposante Arschgeweihe rankten, farblich auf die Cocktails in den Händen der Damen abgestimmt. Sollte auch mal ausgetauscht werden. Viel zu sehr Neunzigerjahre. Außerdem ließ das Bild die Empfangsdame mindestens zehn Jahre älter aussehen, und das konnte ja auch nicht Zweck der Übung sein. Die Arme.
Sie winkte mir komplizenhaft zu, und ich konnte sehen, dass sie gern mehr gewusst hätte über meinen geheimnisvollen Anruf vom Fernsehen. Doch dazu war jetzt keine Zeit.
Als ich vor IPS aus der großen Glasdrehtür trat, war ich geblendet. Die tief stehende Abendsonne prallte mir voll ins Gesicht, und ich kniff meine Augen zusammen. Dann sah ich, wie aus der hinteren Ecke des Parkplatzes sich jemand näherte. Er kam mir bekannt vor.
Er kam mir sogar sehr bekannt vor.
Und jetzt winkte er auch noch!
Am Ende war es die Frisur, an der ich ihn zweifelsfrei erkannte. Dieser wippende, halblange Haarhelm, den er sich schätzungsweise 1979 hatte wachsen lassen und dem er treu geblieben war. Treuer jedenfalls als der Frau, die er einmal geheiratet hatte. »Papa«, rief ich wie ein kleines Mädchen und ging schneller.
Das war ja süß! Nachdem ich mich auf keine seiner Mails gemeldet hatte, war er einfach gekommen, um mich nach der Arbeit abzupassen! So eine Geste hätte ich meinem Vater gar nicht zugetraut. Scheinbar war es ihm doch wichtig, dass unser Kontakt nicht ganz abriss. Beinahe hatte ich ein schlechtes Gewissen. Es wäre mir doch wirklich kein Zacken aus der Krone gefallen, wenn ich endlich einmal geantwortet hätte. Er gab sich ja Mühe. Dumm nur, dass es mir ausgerechnet jetzt gerade so schlecht passte. Vielleicht konnte ich ihn noch eine Stunde bummeln schicken, während ich mit IPS etwas trinken ging?
Aber irgendetwas stimmte hier nicht. Und beim Näherkommen erkannte ich auch, was es war.
Er blickte gar nicht zu mir. Und er winkte auch nicht mir. Er winkte jemand anderem. Einer Person, die sich ganz in meiner Nähe befinden musste.
Ich sah mich um. Da stand IPS, die ebenfalls winkte. Bloß nicht freudig und aufgeregt, sondern mit einem deutlichen Panik-P, das ihr mitten ins Gesicht geschrieben stand. Sie fuchtelte auf eine Art mit den Händen, die etwas hieß wie: Nein! Komm bloß nicht näher! Sonst geschieht ein Unglück!
Mein Vater blieb verdutzt stehen und wandte den Kopf. Dann endlich sah er mich. Jetzt schaute er genauso bestürzt drein wie IPS.
Einen Moment lang verstand ich nur Bahnhof. Oder Ong namo narayanaya. Das Mantra für den Weltfrieden. Im nächsten Moment schon wünschte ich mir den Moment von gerade eben zurück, den Moment der seligen Unwissenheit. Denn da verstand ich plötzlich alles. Und alles war überhaupt nicht schön.
Die Neuigkeiten, von denen er geschrieben hatte.
Die Bekannte meiner Mutter, die meinen Vater mit einer deutlich jüngeren Frau gesehen hatte.
Selbst wenn ich mein ganzes Leben lang Mountainbike gefahren wäre, statt Yoga zu machen, hier war kein Missverständnis möglich. Dazu musste man nicht sonderlich empfänglich sein für spirituelle Morsezeichen. Ich wusste, was IPS mir hatte gestehen wollen. Und was das für eine Hütte war, in der sie an jenem Wochenende gewesen war, als Anna ihre Party gab. Es war das Wochenendhaus meiner Kindheit.
Und das da, in diesem riesigen Neunmonatsbauch direkt neben mir, war mein Halbbruder oder meine Halbschwester.
Mein Vater wurde Vater.