MAJARIASANA

Die Katze (Majariasana) macht körperlich wie geistig geschmeidig.

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/epubstore/H/J-Hagedorn/Mantramanner/OEBPS/e9783641058159_i0061.jpgSeit geschlagenen zehn Minuten konnte ich meinen Blick nicht vom Hintern des Mannes wenden, der vor mir in der Preferred-Traveller-Schlange am Check-in-Schalter stand.

Das hatte mehrere Gründe. Der Hintern selbst war keiner davon.

Es war nur ein ganz normaler Männerhintern, mittelalt, mittelknackig und eigentlich in jeder Hinsicht derart mittel, dass eine genauere Beschreibung schwer gefallen wäre. Er gehörte zu einem Klaus-Peter, der mir auch sonst noch nie sonderlich aufgefallen war, weder angenehm noch unangenehm. Klaus-Peter wiederum gehörte zu unserer Reisegruppe. Er durfte mit nach Ibiza, weil er für die nächsten Sommerkataloge ein revolutionäres, dreistufiges Preissystem entwickelt hatte: All-inclusive, Super-all-inclusive und Absolutely-all-inclusive.

Faszination des Hinterns, Punkt eins: die rückwärtigen Taschen an den Freizeitshorts. Die Klappen standen wie Flügelchen im Neunzig-Grad-Winkel ab, und es hätte mich nicht gewundert, wenn Klaus-Peter damit jeden Moment abgehoben wäre und sich ohne Hilfe eines Jumbojets auf den Weg übers Mittelmeer gemacht hätte.

Faszination des Hinterns, Punkt zwei: Er gewährte meinem Blick vorübergehendes Asyl. Irgendwo musste ich schließlich hinschauen. Wenn nicht auf den Flughintern, dann zwangsweise weiter nach vorn. Und wer stand da weiter vorn in der Schlange? Na, eben.

Ich fragte mich, ob Chris mich schon bemerkt hatte. Wohlkalkuliert war ich als Letzte zu unserem kleinen Reisegrüppchen in Abflughalle B gestoßen, gerade in dem Moment, in dem er sich in Richtung Check-in-Schalter in Bewegung setzte. Dort hatte er sich lässig der kurzen Reihe Menschen angeschlossen, die hinter dem roten Absperrseil mit den goldenen Troddeln warteten. Schließlich waren wir nicht irgendwelche Durchschnittstouristen, sondern hatten VIP-Status, inklusive Sonder-Check-in sowie Zugang zur Lounge mit siebzehn internationalen Wirtschaftszeitungen und Hotspot für die drahtlose Laptop-Verbindung. Wir, so hatte es uns der oberste Firmenchef Dr. Großenstedt auf schwerem Briefpapier sogar noch schriftlich gegeben, waren jene Mitarbeiter mit dem kreativen Biss, die aus einem soliden Unternehmen ein funkelndes Juwel machten. Jene Menschen, die sich nie mit dem Erreichten zufriedengaben, immer nach mehr strebten, deren Köpfe unermüdlich wie kleine Motoren vor sich hin schnurrten, um Sunny Side nach vorn zu bringen.

Einen Augenblick lang hatte ich mich gefragt, was Siv wohl dazu gesagt hätte. Vermutlich hätte er sich Sorgen gemacht und mir empfohlen, meine tägliche Meditationszeit zu verdoppeln.

Nun hätte ja das Universum auch mal so freundlich sein können und mir etwas entgegenkommen. Es mir ein wenig leichter machen, meine neu erworbene Gelassenheit zu bewahren. Chris hätte zum Beispiel irgendetwas Peinliches tun können. Etwa morgens um vier an der einzig geöffneten Flughafenbar lautstark ein gepflegtes Pils ordern. Ein kosmisches Zeichen dieser Art, das mir etwas mehr Halt in meiner inneren Lotosblüte gegeben hätte. Auch in Chris’ Gegenwart.

Leider tat mir das Universum nicht den kleinsten Gefallen. Und Chris auch nicht. Soweit ich es bisher aus dem Augenwinkel hatte erkennen können, sah er makellos aus und gab sich auch sonst keine Blöße. Er wirkte gleichzeitig wie ein smarter Geschäftsmann, der schon sein ganzes Leben lang in der VIP-Schlange gestanden hatte, und wie ein Teenager, der gerade sein Surfbrett in die Ecke gestellt hatte, um sich eine Stulle zu schmieren. Schokostreusel auf ungetoastetem Toastbrot.

Seufz.

Ich brauchte eine andere Strategie.

Ich schloss kurz die Augen und kippelte leicht auf meinen Fußsohlen. Den festen Boden unter den Füßen spüren, den Stand, die Schwere meines Körpers. Meinen Platz auf der Welt. Hier stand ich und konnte nicht anders. Chris’ und meine Wege kreuzten sich erneut, das hatte das Universum nun mal so beschlossen. An Ausweichen war ohnehin nicht zu denken.

Oder doch? Und was dann?

Wenn ich ihn bewusst übersehen würde – würde er es merken?

Mal wieder fiel mir Mirko Hansen ein, mein Schwarm aus der 11 b. Tischtennisspieler. Jeden Tag hatte ich auf dem Pausenhof in der Nähe der Tischtennisplatte herumgelungert. Nie hatte er das Wort an mich gerichtet, es sei denn, er brauchte jemanden, der ihm einen verschlagenen Ball zurückbrachte. Schließlich hatte Melli einen überzeugenden Plan ausgeheckt. Ich sollte ihn ignorieren. Dem Kerl zeigen, wie es sich anfühlte, wenn man ihn überhaupt nicht beachtete.

Der Plan war fantastisch. Das Blöde war bloß, dass Mirko davon überhaupt nichts mitbekam. Denn schließlich beachtete er mich sowieso nicht.

Immerhin hatte Melli damals noch Pläne für mich geschmiedet. Begeistert hatte sie mir eine große Portion Spaghetti-Eis ausgegeben, als es schließlich doch noch klappte mit Mirko.

Und eine noch größere, als es wieder vorbei war.

Ach, Melli. Doppel-Seufz.

Ich spürte Bewegung um mich herum und öffnete die Augen. Chris war bis zum Schalter vorgerückt. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, dafür das der Bodenstewardess. Sie legte den Kopf für meinen Geschmack etwas zu schief und lächelte ihn zu breit an. Und das um diese Uhrzeit. Bevor ich etwas Abfälliges denken konnte, rief ich mich zur Ordnung. Schließlich war sie auch nur ein Geschöpf Gottes auf der Suche nach Liebe. Und von der Sorte kannte ich noch so eines.

Tripel-Seufz.

»Reisen Sie allein, Herr Müller-Nolten?«, fragte sie und hob den Blick kokett von dem interaktiven Sitzplan auf ihrem Bildschirm. Es klang, als hätte sie gesagt: »Lass mich deine 17 F sein.« Aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein.

»Leider ja«, gab er leichthin zurück, und so wie sie ihn anhimmelte, war ich froh, dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Ich konnte mir jetzt schon die Hochzeit der beiden vorstellen. Kleine silbrige Doppeldecker auf den Tischen, ein Brautkleid im Ibiza-Hippie-Stil und holprige, selbst gemachte Reime auf das Wort Flughafen.

Angaffen?

Schusswaffen?

Chris nahm seine Bordkarte entgegen, hob sie zu einem flüchtigen Gruß und wandte sich ab in Richtung Sicherheitskontrollen. Wir rückten vor. Jetzt himmelte die Stewardess Klaus-Peter an.

Sofort wurde ich wieder ein bisschen ruhiger. Entweder die Frau war nymphoman. Oder, viel besser: Sie liebte einfach mit Leib und Seele ihren Dienstleistungsjob.



Morgens um vier hatten nicht nur sämtliche Flughafenbars bis auf eine geschlossen, auch die Boutiquen waren noch dicht. Ich drückte mich eine Weile vor einem Schaufenster mit bunten Crocs herum und musste an das Hausschuhregal im ostfriesischen Ashram denken. Wie lange war das her! Als ich wieder auf die Uhr sah, waren gerade einmal sieben Minuten vergangen, und aus Richtung der Preferred-Traveller-Lounge roch es unwiderstehlich nach Kaffee.

Ich würde diese erste Wiederbegegnung mit Würde hinter mich bringen. Und mit Selbstliebe. Und mit Achtsamkeit.

Jawoll.

Ich betrat die Lounge, ohne nach rechts und links zu schauen. Aus dem Augenwinkel sah ich Flaschen in einem Schnapsregal in der Morgensonne bunt glitzern, dunkelgrüne Clubsessel, Tageszeitungen an hölzernen Haltern auf niedrigen Glastischchen. Stur steuerte ich die Maschine an, von der verlockender Kaffeeduft kam. Viele Knöpfe. Viele stählerne Düsen. Ich nahm ein hohes, geriffeltes Glas vom Stapel, stellte es auf das Abtropfgitter und drückte auf einen Knopf.

Nichts passierte.

Ich zog am Glas.

»Vorsicht«, rief jemand hinter mir, »da musst du ein bisschen …«

Ich wagte einen Blick über die Schulter. Ozean-Augen, kindliche Locken. Schokostreuselsurfer und Anzugmodel.

Ojesusoshivaoh… na, und so weiter.

Wozu hatte ich eigentlich ein halbes Jahr lang täglich die Sonne gegrüßt, wenn dieser Mann immer noch in einer Sekunde gleichzeitig an meine niedersten Instinkte appellieren und mich mitten ins Herz treffen konnte? Ich hätte gern einen Buddha gefragt. War aber keiner da.

»… warten«, beendete Chris seinen Satz. Im gleichen Moment fauchte die Maschine los wie ein erwachender Drache, und ein Schwall heißer Milch schoss aus den Düsen. Eine verdammt attraktive Hand griff an mir vorbei und schob das Glas zurück in die richtige Position.

»So«, sagte Chris, »jetzt bist du mir aber zuvorgekommen.«

»Zuvor?«, stammelte ich. »Du warst doch viel schneller.«

»Schon«, sagte er, ließ seine Hand sinken und nickte wie ein eifriger Schuljunge, »aber ich hätte dir gern einen mitgebracht.«

Dort, wo er mich beinahe berührt hatte, brannte meine Haut wie nach einem Strandtag direkt unter dem Ozonloch. Mit Sonnenschutzfaktor Null Komma Null.

»Bin ja froh, dass du noch immer welchen trinkst.«

Ich ignorierte tapfer meine Brandverletzung und blickte ihn mit fragend hochgezogenen Brauen an.

»Ich dachte immer, Frauen, die Yoga machen …«, begann er.

»… trinken nur grünen Tee. Ich weiß. Und sie wollen lieber atmen, als …«

Auweia. Jetzt hätte ich beinahe etwas gesagt. Erst ein Fast-One-Night-Stand, dann sechs Monate Funkstille und schließlich das Wort mit drei Buchstaben im zweiten Satz.

Wenn ich zurück zu Hause war, würde ich anonym einen Yoga-Anfängerkurs besuchen. Wo war sie hin, meine geheimnisvolle, gelassene innere Ruhe? Hatte ich denn gar nichts gelernt?

»Atmen? Lieber als was?« Chris sah ehrlich überrascht aus.

Ich zog schnell das heiße Glas an mich und wandte mich von der Espressomaschine ab. Dann tunkte ich meine Oberlippe in den Milchschaum und schüttelte den Kopf. Irgendetwas pladderte noch aus den Düsen, aber ich schaute nicht mehr zurück. Wahrscheinlich das einzig wahre Motto für die nächsten Tage: nicht zurückschauen. Nichts wahrnehmen als das Hier und Jetzt.

»Ach, nichts.«

Chris zuckte etwas ratlos die Achseln und griff nach seinem eigenen Glas, das er auf einem der niedrigen Tischchen abgestellt hatte. Wir standen schweigend, nippten und blickten zwischendurch in unsere undurchsichtigen Getränke. Hoch aufgetürmte Berge weißen Schaums, durch die man unmöglich auf den Grund blicken konnte.

»Hallo Evke«, sagte Chris schließlich leise. Dann legte er mir eine Hand an den Oberarm. Voller Hautkontakt.

Ich zog meinen Arm weg. Es hatte ja keinen Sinn. Ich wollte kein Mitleid. Keine Erklärungen. Und keinen schweren Sonnenbrand.

»Chris«, sagte ich leise, »lass uns einfach so tun, als wären wir erwachsene Menschen. Erwachsene Menschen, die zufällig im gleichen Unternehmen arbeiten. Du musst nicht …«

»Ich wollte dir nur sagen …«

»Nein«, wehrte ich ab, »lass gut sein. Ich kann mir schon denken, warum du dich nie mehr gemeldet hast, lass uns nicht mehr weiter darüber sprechen.«

»Okay«, sagte er und verzog den Mund. Irgendwie – belustigt? Fand er das Scheitern unserer aufkeimenden Liebe derart komisch? Das war es nun auch wieder nicht!

»Okay«, sagte er noch mal, »aber eines muss ich trotzdem loswerden. Dein Kaffee …«

»Wieso? Was ist mit meinem Kaffee?«

»Es ist kein Kaffee. Es ist nur Milch. Du hast dein Glas schon wieder zu früh rausgezogen.«

Verdutzt starrte ich in mein Heißgetränk. Er hatte recht. Jungfräuliches Weiß, von keinerlei dunklen Schlieren durchzogen. Scheinbar war das mein Kernproblem: Mir fehlte einfach das Gespür für das richtige Timing.

Wenigstens, wenn Chris Müller-Nolten und ich die gleiche Raumluft atmeten.

»Hey!« Klaus-Peter kam auf uns zu und hob grüßend ein golden schimmerndes Glas. »Noch jemand ein gepflegtes Pils, zur Feier des Tages?«



Das Hotel, in dem unser Helden-der-Arbeit-Grüppchen untergebracht war, war eine altmodische Villa mit vielen Erkerchen und Türmchen und lag am Fuß des Burgberges von Eivissa. Es hatte alles, was man von einem schicken Wellnesshotel erwarten konnte: Im Spa-Bereich standen Windlichter im Marokkostil, die farblich auf meinen neuen Geburtstagsring abgestimmt waren, die Tische im Restaurant waren mit Rosenblüten geschmückt, und die Enden der Klopapierrollen in den Bädern mit dem Marmorfußboden waren zu akkuraten Dreiecken gefaltet. Vor allem hatte es aber etwas, das ich besonders liebte: eine Dachterrasse.

Spanische Dachterrassen waren eine Welt für sich. Vor allem, weil sie immer so simpel waren, als hätte ein Zen-Buddhist sie entworfen: rote Fassadenfarbe auf dem Boden, eine hüfthohe, weiß getünchte Mauer, die rundum lief, und Wäscheleinen, die im Wind sangen. Ob in heruntergekommenen Mietshäusern oder noblen Villen, sie sahen überall gleich aus. Was die Dächer anging, waren die Spanier Kommunisten.

Seltsamerweise nutzte fast niemand in diesem Land seine Dachterrasse, außer um riesige, weiße Laken im Wind zu trocknen. Auch das war überall gleich, ob im sozialen Brennpunkt von Alicante oder in der nobelsten Ecke von Ibizas Hauptstadt. Die Zimmermädchen wunderten sich kopfschüttelnd über die wenigen Gäste, die das Geheimnis der Speichertür lüfteten und dann dort oben unerlaubterweise auf den Handtüchern aus den Zimmern saßen und sich sonnten. Die Gäste wunderten sich über das Hotelmanagement, das nie auf die Idee kam, auch nur eine Garnitur Plastikstühle dort hinzustellen. Geschweige denn, eine schicke Poolbar einzurichten und für den Ausblick eine extra Cocktailsteuer zu erheben.

Mir war das nur recht. Schon gleich nach dem Einchecken war ich mit dem altmodischen Käfiglift in den fünften Stock gefahren und hatte nachgeprüft, ob sich die Tür zum Dach auch öffnen ließ. Sie ließ. Den ganzen Tag über, während ein unglaublich gut gelaunter junger Mann mit unglaublich vielen, unglaublich weißen Zähnen unser Grüppchen durch die Altstadtgässchen von Eivissa geschleust hatte, war ich voller Vorfreude auf den späten Nachmittag gewesen, wenn ich mich dort endlich mit einem Menschen treffen konnte, den ich gerade etwas aus den Augen verloren hatte.

Mit mir selbst.

Es war halb acht, als ich endlich die alte Holztür zu der Stahltreppe öffnete, die aufs Dach führte. Noch eine halbe Stunde Zeit, bis wir uns in der Lobby treffen sollten, um gemeinsam in eine Tapasbar zu gehen. Leer lag das sonnenwarme rote Dach vor mir. Irgendwo rotierte und prustete schwerfällig eine Klimaanlage. Schwalben zogen ihre eleganten Kreise vor dem Abendhimmel, der mit der gesamten Pastellpalette protzte. Der Angeber. Babyrosa, Zartblau, Silbergrau, Kükengelb.

Direkt neben der weiß gekalkten Mauer legte ich mich hin und schloss die Augen. Der Boden war uneben und warm unter meinem Rücken und fühlte sich beinahe menschlich an. Nicht perfekt, aber lebendig. Als würde mich dieser ganze Ort umarmen.

Atmen. Durch den Gedankensturm in meinem Kopf hindurch in das Auge des Hurrikans vordringen. In die tiefe, blaue Ruhe. Ich erinnerte mich an eine Technik, die Siv zu Ende jeder Stunde empfohlen hatte. Alle Muskeln des Körpers nacheinander anspannen und lösen, um hinterher in einem tiefenentspannten Zustand durchs feinstoffliche Universum zu floaten.

Bein heben, anspannen, fallen lassen.

Arme heben, Fäuste machen, Finger spreizen, fallen lassen.

Gewissenhaft ging ich Muskel für Muskel durch. Eine angenehme Off-Stimme begleitete mich dabei, dunkel und sonor. Ich konnte mich nicht erinnern, ob es Sivs war oder die Stimme meines Schreibtischbuddhas. Jedenfalls war sie nicht ganz von dieser Welt.

»Jetzt spannen wir noch einmal alle Gesichtsmuskeln an, kneifen die Augen zusammen, den Mund, als hätten wir in eine saure Zitrone gebissen.«

Ich musste daran denken, wie ich damals spätabends auf meinem Balkon gestanden und Chris’ Nummer gewählt hatte. Wie ich mich wild und frei gefühlt hatte und für einen Moment ganz beglückt war von dieser Woge des Gefühls, von der ich mich widerstandslos unterpflügen ließ. Und dann an den nächsten Morgen. Diese strenge Lehrerin, die mit dem Rohrstock in der Hand so energisch an die Wände meines Hirns klopfte, dass sogar die Kobolde aufhörten zu tanzen.

Evke, du hast doch nicht etwa …?

»Und jetzt reißen wir die Augen auf, den Mund, strecken die Zunge heraus und machen den Löwen!«

»Huaaa!« Beinahe erschrak ich vor mir selbst. Wenn ich bei dieser lautstarken Übung bisher eher wie ein höfliches Großkatzenbaby geklungen hatte, dann hatte ich jetzt endlich den Ton eines ausgewachsenen, hungrigen Raubtiers getroffen. War also gar nicht so schwer. Man musste nur an etwas Peinliches denken. An etwas …

»Evke? Kann ich irgendetwas für dich tun?«

Ich fuhr senkrecht hoch und drehte mich um. Was war das? Hörte ich etwa schon Stimmen? Und war es immer so, dass die Stimmen, die man hörte, einem aus dem wirklichen Leben bekannt vorkamen?

Die gute Nachricht war: Ich hörte keine Stimmen. Ich war also noch nicht völlig durchgedreht.

Die schlechte Nachricht war: Die Stimme gehörte zu keinem anderen als Chris. Von einem Schornstein verdeckt, musste er die ganze Zeit in der Ecke gesessen und mir zugesehen haben.

»Ach, du Scheiße«, entfuhr es mir.

»Ja«, sagte er und grinste, »ich freu mich auch, dich zu sehen.«

Unschlüssig stand ich auf. Der Boden unter mir kam mir jetzt sogar ganz erstaunlich uneben vor. Aber vielleicht lag das auch nur an meinen zitternden Knien.

»Ja, dann«, sagte ich, »ich wollte dich nicht stören.«

»Und ich wollte dich nicht stören«, sagte Chris und klopfte einladend auf sein blütenweißes Hotelhandtuch.

Habe ich schon erwähnt, dass er dabei nichts trug als blauweiß gestreifte Boxershorts? Im Abendlicht sah es aus, als bestände der gesamte Mann aus bronzefarbener Seide. Es war höhere Gemeinheit. Wer konnte da schon Nein sagen? Seufzend ließ ich mich an der Wand heruntersinken und streckte die Beine aus.

»Jetzt muss ich aber doch etwas loswerden. Weißt du, was ich mich seit ein paar Tagen frage?«, begann er und legte dabei den Kopf in den Nacken, sodass seine kräftigen Kiefergelenke hervortraten. Die reinste Peepshow. Wusste er überhaupt, was er da tat?

»Na?«, fragte ich reserviert zurück.

»Ich frage mich, wie unsere Geschichte weitergegangen wäre, wenn du ans Telefon gegangen wärst.«

Er ließ einfach nicht locker. Dabei hatte ich ihm doch schon gesagt, dass er die Vergangenheit endlich hinter sich lassen sollte.

Moment mal. Was hatte er da gerade gesagt?

»Ans Telefon gegangen? Ich?«

Ich verstand mal wieder nur ong namo naryanaya.

Wollte er mir jetzt etwa die Schuld in die Schuhe schieben? Nicht, weil ich ihn vorschnell angerufen hatte, sondern im Gegenteil, weil ich nicht abgehoben hatte?

»Es ist …«, er räusperte sich mehrmals, »weißt du, vielleicht glaubst du mir das nicht. Klingt ja auch nach einer blöden Ausrede, ich weiß. Aber ich habe dich damals wirklich zurückgerufen.«

»Und?«

»Tja. Ich war nicht sehr beharrlich. Ich habe es genau zwei Mal versucht. Und dann nicht mehr.«

Mein Leben ratterte im schnellen Rücklauf vor meinem geistigen Auge vorbei. Ich sah Steve in Barbies Bierbar, traf Siv im Gang des Ashrams mit der Weinflasche in der Hand, stand schließlich neben Chris an der Garderobe auf der Sunny Side … Stopp. Das war ein Stück zu weit. Langsam wieder vorspulen. Die Party. Die Nacht. Mein Anruf am Sonntag. Dann der Montag. Ich war nach Hause gekommen, hatte den Flyer vom Yogazentrum gefunden, dann hatte meine Mutter angerufen. Und dann?

Das Telefon hatte tatsächlich noch zweimal geklingelt. In rascher Folge.

Und ich hatte es klingeln lassen, fest überzeugt, dass es schon wieder meine Mutter war. Und weil ich gar nicht zu hoffen gewagt hatte …

»Das warst du?«

Er nickte, betont langsam, als wollte er jedem einzelnen Nicken eine besondere, tiefere Bedeutung verleihen.

»Du musst jetzt denken, es war mir nicht wichtig«, sagte er schließlich leise. »Und das verstehe ich ja auch. Vor allem nach deinem Anruf, mitten in der Nacht. Das war immerhin … nun, es war mutig von dir. Und … süß. Es war … es ist schwierig zu beschreiben.«

»Ich hab’s dir schon gesagt«, wiederholte ich. »Du musst dich nicht rechtfertigen. Was vorbei ist, ist vorbei.«

»Aber ich möchte es dir ja erklären.«

Er schlang seine Hand um sein Knie, und ich erwischte mich dabei, wie ich schon zum zweiten Mal an diesem Tag eifersüchtig wurde. Auf die Hand. Und auf das Knie.

Die hatten es gut in ihrer Zweisamkeit.

»Weißt du, Evke«, er sah träumerisch in die Ferne, »ich möchte, dass du etwas weißt. Es ist noch gar nicht so lange her, da habe ich mich verliebt.«

Er hätte mir auch gleich eine Ladung Zement in den Mund schütten können, als ich gerade den Löwen machte. Hätte auch nicht unangenehmer sein können.

»So«, echote ich tonlos, »verliebt.«

»Ja.« Wieder dieses betonte Nicken. »Ich habe mich in eine Frau verliebt oder war wenigstens auf dem besten Wege dazu. Ich dachte, die ist anders. Die steht zu ihren Gefühlen, die hat diese ganzen Spielchen, diese ganze Taktik nicht nötig. Die ist einfach … echt.«

Ach, das Leben, dachte ich sarkastisch. So gerecht und so weise. Nach vielen Umwegen fand eben schließlich jeder sein Glück. Papa traf Ilona, um eine neue Chance als Vater zu bekommen, Melli verbrachte ihre Samstage wieder mit Steve im Baumarkt, Patriotenpunk und Darky zogen gemeinsam eine Babyratte groß, und Chris Müller-Nolten hatte sich in eine tolle Frau verliebt.

Ein nettes kleines Gesellschaftsspiel mit einem winzigen Haken.

Zum Schluss blieb immer einer übrig.

»Na dann«, ich würgte, »herzlichen Glückwunsch.«

»Die Geschichte geht noch weiter«, sagte er. »Ganz kurz nachdem ich sie kennengelernt habe, hat mir ein Kollege erzählt, dass die Frau zu so einer Yogaclique gehört. Und da wurde ich zum ersten Mal misstrauisch.«

»So, so. Yoga.«

Ich sprach das Wort aus, als hätte ich es noch nie gehört. Es fühlte sich seltsam fremd an in meinem Mund, so wie eine Frucht von einem exotischen Büfett, von der man nicht genau weiß, was einen erwartet, wann man hineinbeißt.

»Evke«, seine Stimme hatte plötzlich einen fast flehenden Unterton, »verstehst du mich denn wirklich nicht, oder willst du mich einfach nicht verstehen?«

»Doch, doch«, sagte ich und pulte mit meinem Zeigefinger in einem winzigen Loch in Chris’ winzigem Gesichtshandtuch. »Du glaubst, wir sind jetzt so etwas wie gute Freunde. Dein alter Kumpel Evke, mit dem du mal ganz locker deine Beziehungsprobleme besprechen kannst. Ehrlich, Chris, es ehrt mich, dass du mir das anvertraust. Aber …«

»Mann, Evke!«, er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Das letzte Mal, als ich mich mit dir unterhalten habe, hast du nicht so auf der Leitung gestanden. Evke, merkst du denn nicht, von wem ich rede?« Er machte eine dramatische Kunstpause.

»Ich rede von dir!«

Das Loch im Handtuch war jetzt so groß, dass mein kleiner Finger fast hindurchpasste. Die Schwalben kreisten, die Abendwölkchen glänzten, auspufflose Mofas röhrten.

»Evke, im Ernst, ich …«, Chris stützte seinen Kopf in die Hände, »ich habe mich so gefreut, als ich deinen Namen auf der Liste gesehen habe. Und bin gleichzeitig so erschrocken. Bist du mir eigentlich noch böse?«

Aus irgendeinem Schlupfwinkel meines Hirns waren meine alten Kumpel, die Kobolde, wieder aufgetaucht. Die hatte ich schon lange nicht mehr getroffen. Scheinbar konnte man sie nicht nur mit einer Überdosis Alkohol hervorlocken, sondern auch mit einem Überangebot an Information. Jetzt sprangen sie Trampolin auf meinem Mandelkern, schlugen Saltos und riefen dabei aufgeregt durcheinander. Chris hatte sich verliebt? Chris hatte sich in mich verliebt? Aber warum dann die Vergangenheitsform? Und warum böse?

»Nicht böse«, antwortete ich nach einer Weile. »Nur enttäuscht.«

»Weißt du«, sagte er und blickte mich von der Seite an, »ich hab das manchmal, wenn etwas einfach zu schön ist. Zu perfekt. Dass ich plötzlich anfange zu zweifeln. Und dann reicht der kleinste Grund, und ich sage mir: Vergiss es, so etwas Perfektes kann es ja gar nicht geben.«

»Und was hat das jetzt mit Yoga zu tun?«

»Also, zufällig habe ich mich am Montag nach der Firmenparty mit einem Kollegen unterhalten, der deine Freundin Anna kennt. Da habe ich … na, ich habe ihn ein bisschen nach dir gefragt. Was er über dich weiß. Er meinte, dass Anna mit ihren Freundinnen dauernd auf solche Wochenenden fährt. Solcher Esoterikkrempel. Entschuldigung. «

»Aber da war ich noch nicht einmal dabei! Eigentlich habe ich mit Yoga doch überhaupt nur angefangen …«

Wegen dir, wollte ich sagen. Weil ich mir schon wieder so ein Eigentor geschossen hatte, weil ich endlich gelassener werden wollte, geheimnisvoller, und drei Kilo abnehmen. Damit dann beim nächsten Mann endlich alles anders werden würde.

»Sag mal, was hast du eigentlich für ein Problem mit Yoga?«, fragte ich stattdessen. »Das klingt ja fast, als hättest du herausgefunden, dass ich in meiner Freizeit Kleintiere ausstopfe.«

Chris schwieg lange und fixierte einen Punkt an der Mauer. Beinahe sah es aus, als meditierte er mit offenen Augen.

»Ich kann es nicht so gut erklären«, sagte er schließlich, »vielleicht verstehe ich ja auch zu wenig davon. Aber ich habe immer den Eindruck, Leute, die Yoga machen, nehmen ihrem Leben den Wahnsinn. Die Überraschung. Die Lebendigkeit. Statt einer zackigen Kurve haben die nur eine gerade Linie. Fast wie bei Hirntoten!«

Ich musste wieder an die Nacht vor meinem Fernsehauftritt denken. Die Suche in der Hotelzimmerbibel. Selig sind die Wahnwitzigen.

Entweder ich war eine miserable Yogini. Oder ich schaffte es, Yoga und Wahnsinn ganz gut zu verbinden. Wenigstens manchmal.

Jetzt sah er mir direkt in die Augen. »Ich meine, es ist ja schön und gut, zur Ruhe zu kommen. Einen Ausgleich zu schaffen, gegen Alltagsstress. Außerdem soll Yoga ja spitze sein bei Rückenproblemen.«

Ich nickte halb reserviert, halb ermunternd. Ich wusste immer noch nicht recht, worauf er hinauswollte.

»Aber ein Leben so völlig ohne Aufregung, ohne Auf und Ab, immer in der gleichen, mittleren Reisegeschwindigkeit? Möchtest du das wirklich führen? Ist das dein Ziel? Das war es, was ich mich gefragt habe. Und was mich plötzlich zum Zweifeln gebracht hat. Und dann, als ein paar Wochen später auch noch die Rundmail an alle Sunny-Side-Mitarbeiter ging, dass du jetzt Yogakurse in der Firma anbietest, war ich plötzlich ganz froh, dass es nicht weitergegangen ist mit uns.«

Er schüttelte den Kopf und schien plötzlich traurig zu sein.

»Dabei habe ich dich doch ganz anders kennengelernt«, sagte er leise. »So lustig. So spontan. So … leidenschaftlich.«

Es war still. Zu still.

»Ich hatte mal einen Yogalehrer, der hat gesagt, im Tiefschlaf sind wir unserem wahren Ich am nächsten«, sagte ich.

Chris nickte bedächtig. »Eben. Wir haben nur ein Leben und sollen dabei alles ausschalten, das uns lebendig macht? Ist das nicht tödlich langweilig?«

Auf einmal wusste ich, dass jetzt alles sehr einfach sein konnte. Es wäre ein Leichtes gewesen, ein paar flapsige Bemerkungen über Yoga zu machen. Über Menschen, die jeden Tag eine Stunde für den Weltfrieden meditierten, die keinen Knoblauch aßen, um die nervöse Energie zu meiden, und die in ihrem Schlafzimmer einen Buddha-Schrein in Richtung Norden aufstellten. Chris und ich hätten gemeinsam lachen können. Unsere Körper auf dem schmalen Handtuch näher zusammenschieben können. Und uns schließlich unter dem rosa Himmel von Eivissa küssen, so nahtlos leidenschaftlich, als hätten wir das blaue Sofa nie verlassen.

Das wäre schön gewesen.

Aber es wäre auch Verrat gewesen.

Verrat an meinen Freunden. Verrat an Melli, die so ernsthaft nach dem richtigen Weg für ihr Leben suchte. Verrat an allen, die sich Mühe gaben, mit Yoga auch einen anderen Umgang mit sich selbst und anderen zu finden. Und auch Verrat an mir selbst.

Ich konnte die letzten sechs Monate natürlich einfach aus meinem Leben streichen. Ich konnte mich wieder genau in das alte Chamäleon verwandeln, das ich immer gewesen war. Eine Frau, die jedem Mann genau das erzählte, was er hören wollte. Die sich in eine Tischtennisspielerin verwandeln konnte, um Mirko Hansen aus der 11 b zu beeindrucken. Oder in eine Pflanzenliebhaberin, um einem Yogalehrer zu gefallen. Und dann im nächsten Moment mit einem enorm attraktiven – also, wirklich enorm attraktiven! – Kollegen über Kobras und Krieger herzuziehen, bloß, damit er sie endlich in sein Hotelzimmer schleppte.

Nein. Das konnte es nicht sein.

Wir schwiegen. Langsam wurde das Schweigen zäh wie ein Steak vom uralten spanischen Kampfstier. Ich drehte an meinem Silberring und dachte an meinen Treueschwur an mich selbst.

»Wusstest du übrigens, dass Yoga die Kundenzufriedenheit in mittelständischen Reiseunternehmen um neunundzwanzig Komma acht Prozent steigern kann?«, fragte ich.

Chris nickte. »Davon habe ich gehört. Sonst wärst du heute nicht hier.«

»Und du? Warum bist du mit dabei?«

»Mein Beitrag für Sunny Side war nicht so … na, sagen wir mal, nicht so kreativ. Ich hab bloß einen neuen großen Firmenkunden gewonnen. Eine Fitnessstudiokette. Die City-Verbindung von Augsburg nach Wilhelmshaven boomt, vor allem aber hat das Indien-Geschäft stark angezogen.«

»Indien? Wieso das denn?«

»Hab ich mich auch gefragt. Die bieten natürlich auch Yogakurse an, so wie jedes Studio, das was auf sich hält. Und weil sie so exklusiv sind und so teuer, schicken sie ihre Trainer nicht zu irgendeiner Fortbildung im Westerwald, sondern nach Indien, zum ehemaligen Yogalehrer von Richard Gere.«

»Sag mal«, fragte ich, »könntest du eigentlich eine Frau lieben, die einen Altar im Schlafzimmer stehen hat?«

Er nickte bedächtig. »Vielleicht. Solange mein Foto darauf steht.«

Dann lachte er, als er mein erschrockenes Gesicht sah. »War doch nur ein Witz! Wie gesagt, vielleicht sind das ja auch alles nur dumme Vorurteile mit dem Yoga. Schließlich braucht jeder seinen Spleen. Die einen züchten Koi-Karpfen, die anderen stricken sich Kettenhemden und gehen zum Rollenspiel. Übrigens«, er sah mich prüfend an, »es gibt Schlimmeres im Schlafzimmer als Altäre. Kuscheltiere im Bett zum Beispiel.«

Ich dachte an Annas lila Nilbären.

»Und du?«, fragte ich. »Was hast du Peinliches in deinem Bett?«

»Rate mal.«

Ich überlegte und hatte dabei das Gefühl, wieder auf sicheren Boden zu kommen. Ich war zwar nicht ganz sicher, ob man Yoga wirklich auf eine Stufe stellen konnte mit Fischzucht oder Rollenspielen. Andererseits, wer weiß: Vielleicht kamen sich andere Menschen selbst am nächsten, wenn sie mit spitzen, grünen Ohren durchs Unterholz tobten. Oder wenn sie die orangefarbenen Flecken ihrer Karpfen zählten. Wenn alles Yoga war, so wie der Zauselmann aus meiner allerersten Stunde gesagt hatte – warum nicht auch das?

»Nichts sagen! Ich weiß«, sagte ich, »du hast ein australisches Krokodilwarnschild über deinem Futon hängen.«

»Ach«, Chris’ Mundwinkel zuckten, »hab ich das wirklich?«

»Wenn nicht das, dann eins mit einem Wombat.«

»Vielleicht solltest du dir selbst mal ein Bild davon machen«, sagte Chris genau im selben Augenblick, in dem die Turmuhr gegenüber zu schlagen begann.

»Mein Gott, die Tapas!« Ich sprang hektisch auf. »Die anderen fangen noch ohne uns an.«

Chris blieb noch einen unschlüssigen Moment lang sitzen und fragte etwas, das klang wie »und wenn?«.

Aber da war ich schon auf der Stahltreppe. In einem weißen Wickelshirt mit goldenem OM-Aufdruck würde ich ganz sicher nicht zum Essen gehen.

Bei aller Liebe.