AKARNA DHANURASANA

Die Pfeil- und Bogenstellung (Akarna Dhanurasana) trainiert die innere Zielstrebigkeit bei der Bewältigung unserer materiellen, aber auch unserer spirituellen Aufgaben im Hier und Jetzt.

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/epubstore/H/J-Hagedorn/Mantramanner/OEBPS/e9783641058159_i0027.jpgUm zehn vor sieben aufzustehen war nicht so schwer, wie ich dachte. Viel schwieriger war es, beim Morgenyoga nicht wieder einzuschlafen.

Gelegenheiten gab es genügend: Anfangsentspannung, Endentspannung, sogar Zwischenentspannung. Draußen war es grau, irgendwas zwischen Niesel und Nebel, genau das Wetter, um sich so lange im Bett umzudrehen, bis das Aufstehen gar nicht mehr lohnte. Jedenfalls nicht vor dem nächsten Morgen.

Zu sehen gab es auch nichts. Wenigstens nicht für mich. Während Melli sich eigenmächtig in Sivs Fortgeschrittenengruppe eingestuft hatte, mussten wir drei anderen mit der Spitznasigen vorliebnehmen, die uns das Mantra-Matschobst ausgeteilt hatte. Sie hatte einen ulkigen osteuropäischen Akzent. »Chalte deine Chände im fienfundvierzig-Grad-Wienkel zum Kerper«, sagte sie, »dann chann die Energie besser fließen.« Die Übungen kannte ich alle noch aus meiner ersten Probestunde, auch wenn »Ashtanga Yoga« auf dem Programmzettel stand und nicht Hatha Yoga. Wo war jetzt der Unterschied?

Langsam hatte ich den Eindruck, dass diese fernöstliche Gymnastik ähnlich schwer zu durchschauen war wie die männliche Seele.

Wenn wir uns zwischen den Übungen in der »Stellung des Kindes« zusammenrollten, schlaffe Bündel auf allen vieren, entblößte die Frau vor mir jedes Mal ein gewaltiges Arschgeweih mit einem Schriftzug im Gothic-Stil. Irgendetwas mit O. Vielleicht konnte sie sich ja ein OM daraus machen lassen, passend zu ihrer neuen Lebenseinstellung. War sicher billiger, als das ganze Ding zu entfernen.

Nach der Stunde gab es einen Vortrag über die Kunst der Meditation, um elf wieder abenteuerliches Essen, danach hing ich allein ein bisschen auf dem Zimmer herum. Als ich um kurz vor eins zum Karma Yoga aufbrach, hatte wenigstens der Regen aufgehört.

Aufmunternd nickte ich mir in einem großen Flurspiegel zu. Jeans und Karobluse, ein Stoffschal um den Kopf gebunden, das passte perfekt zu meinem neuen Image. Die naturverbundene, gut geerdete Yogini von nebenan, die zur inneren Balance manchmal ihre Hände im Modder versenkte.

Dekorativ würde ich in einem Blumenbeet knien, während sich ein paar vorwitzige Haarsträhnchen unter dem Stoff hervorschlängelten, und mir irgendwann gedankenverloren eine Spur Erde an die Wange schmieren. Und wir würden reden, Siv und ich. Gespräche, die sich an der Oberfläche um ganz handfeste Dinge drehen würden. Um winterfeste Grünpflanzen und zarte Wurzeln, um Dünger und Knospen. Aber natürlich würde all das noch eine zweite, eine tiefere Bedeutung haben. Und ich würde wissen, dass er wusste, und er würde wissen, dass ich wusste. Oder so. Vielleicht würde ich ihn auch einfach nur ansehen, mit diesem Du-musst-eigentlich-gar-nichtsmehr-sagen-Blick, diesem Deine-Gartenkralle-ist-auch-meine-Gartenkralle-Blick, sodass er gar nicht anders könnte, als den gleichen Blick in die Zukunft zu werfen wie ich. Ich jedenfalls sah ein altes Landhaus mit knarrenden Dielen und Bauerngarten und mit einer großen Wohnküche, in der ich vollwertige Leckereien kochte. Außerdem ein großzügiges Yogaloft im oberen Stock, in dem Siv seine Kurse gab, wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, die Flaschen in unserem gut bestückten Weinkeller zu drehen und zu wenden.

Draußen an den Blumenbeeten stand schon mein Karmagrüppchen. Satya trug Gummistiefel und dreckverschmierte Latzhose und sah darin nun überhaupt nicht mehr indisch aus, sondern wie ein bayerischer Ökobauer. Siv hatte die gleichen Klamotten an, sah aber eher aus, als wäre er aus einer Modefotostrecke zum Thema Landlust herausgefallen. Mir fiel wieder meine Großmutter ein: »Einen schönen Menschen kann nichts entstellen.« Auch die Lockige von gestern Abend war dabei, dazu noch zwei Frauen mit fast identischen roten Mecki-Frisuren. Neben ihnen standen einige schmuddelige Flechtkörbe mit Gartengeräten und ein unförmiger, riesiger Rasenmäher, auf dem man mehrere Kleinkinder hätte spazieren fahren können.

»Sodasamma«, nickte Satya in die Runde, und wieder war ich mir nicht sicher, ob das ein Segensspruch war oder einfach nur Bayerisch. Er wandte sich an die Mecki-Frauen und rieb sich unternehmungslustig die Hände. »I daad sogn«, er nickte sich selbst beifällig zu, »wo ihr gestern erst die Heckn g’schnittn habt’s, macht’s heut des Beet. Siv, du hast an grünen Daumen, du machst aa mit. Und du«, er zeigte mit einem erdverkrusteten Finger auf mich, »du fängst amal an, hier zu mähen. Aber pass auf mit der Schnur, ned dass die mir kaputtgeht. « Und er zeigte auf ein dickes schwarzes Kabel, das zu einer Außensteckdose an der hinteren Hauswand führte.

Ich starrte erst ihn an, dann Siv. Doch der hob nur belustigt die Augenbrauen und ließ sie wieder sinken.

»Ihr könnt’s ja später zusammenhelfen«, Satya machte eine Handbewegung, die alle einschloss. »Mit dem Rechen. Ihr wisst’s ja, der Mäher hat keinen Fangkorb. Jetzt schaug amal her«, und mit einem Fußtritt setzte er den Mäher in Betrieb. Der Motor startete augenblicklich mit einem satten Sound, der sogar die jugendlichen Mofabesitzer aus dem Nachbardorf neidisch gemacht hätte.

Also keine Gespräche über Erde und Wurzeln.

Keine zarten Andeutungen über Blüten und Knospen.

Nur ein lärmendes Ungeheuer und ich, die wir gemeinsam einem mörderischen Handwerk nachgingen. Unschuldige, lindgrüne Hälmchen absäbeln, Gänseblümchen köpfen, gerade mal, dass sie ihre zarten Häupter über der Frühlingswiese erhoben hatten. War das noch Yoga? Konnte ich den Einsatz eigentlich aus Gewissensgründen ablehnen? Den Dienst am Mäher verweigern?

»Ich glaube, du hast nicht richtig zugehört.«

Wie bitte? Wo kam jetzt diese Stimme her? Ich schob los und sah mich um.

»Es geht darum, eins zu werden mit deinem Tun. Mit deinem Leben. Mit dem Augenblick.«

Jetzt hatte ich ihn entdeckt. Buddha saß entspannt auf der Rückseite von Sivs Sweatshirt, Gold auf Blau, und zwinkerte mir zu. War also doch nicht ganz auf den Mund gefallen. Wenigstens nicht tagsüber.

»Na und?«, gab ich patzig zurück. »Ich finde diesen Augenblick gerade ziemlich verschwendet. Siv jätet mit den Pumucklfrauen ein Beet und sieht mich nicht mal an dabei.«

»Du hast noch einen weiten Weg vor dir«, dozierte Buddha.

»Und du wiederholst dich, mein Freund.«

Ich gab mir nicht einmal die Mühe zu flüstern. Hörte ja sowieso keiner bei dem Lärm.

»Ich will dir eine Frage stellen«, begann Buddha wieder. Täuschte ich mich, oder klang er mittlerweile etwas genervt? Wahrscheinlich hatte er es selten mit so begriffsstutzigen Jüngern zu tun wie mit mir. Da konnte einem schon mal die buddhistische Gelassenheit abhandenkommen.

»Evke, sag mir eines: Was ist für dich Glück?«

Das war gar nicht so einfach zu beantworten, während ich ein störrisches Mistding von den Ausmaßen eines Kleinwagens über die abschüssige Wiese beförderte. Dann fiel mir doch etwas ein.

»Liebe, hauptsächlich.«

»So.« Täuschte ich mich, oder klang er etwas sarkastisch? Ausgerechnet Buddha? »Und was noch?«, fragte er.

Wenn er mir so kam, konnte ich auch patzig werden. »Nix«, gab ich zurück. »Alles andere ist doch bloß Deko. Einen Parkplatz vor dem Haus finden, oder wenn es in der Salatbar in der Kantine mal was anderes gibt als die kalten Nudeln von gestern und Rote Bete aus dem Glas. Geschenkt. Aber Glück? Glück hat immer mit anderen Menschen zu tun.«

»Du würdest also sagen, es sind immer die anderen für dein Glück verantwortlich?«

»So einfach ist das natürlich auch nicht«, beeilte ich mich zu sagen. Konnte mir schon denken, worauf der Typ in Gold wieder hinauswollte.

»Denk doch mal nach, Evke«, jetzt war Buddha wieder ganz der Alte, mit seinem Opa-erklärt-dir-die-Welt-Ton. »Wahre Glückseligkeit kann nur aus uns selbst heraus entstehen. Aus dem Moment. Im Yoga nennt man diesen Zustand Samad…«

Ein ohrenbetäubendes Krachen, dann ein Geräusch, als würde jemand eine Gartenbank häckseln. Im nächsten Moment sah ich, wie Satya auf mich zustürzte, wild gestikulierend.

Jetzt bemerkte ich es auch. Vor mir lag das durchtrennte schwarze Kabel wie eine tote Schlange im Gras, und wo eben noch der Rasenmäher darübergefahren war, hatte ich einer mächtigen Baumwurzel im Moos die Rinde amputiert.

Vielleicht hätte ich mich doch lieber auf das Mähen konzentrieren sollen und nicht auf den Moment.

Ich bückte mich, um mir genauer anzuschauen, was ich angerichtet hatte. Gleichzeitig versuchte ich mich zu erinnern, ob ich jemals eine Privathaftpflichtversicherung abgeschlossen hatte. Oder ob das nur eines dieser Dinge war, die mir alle halben Jahre einfielen und mir ein schlechtes Gewissen machten.

»Ned!«, hörte ich Satya jetzt rufen. »Ned olanga!«

Es klang sehr eindringlich. Unglücklicherweise verstand ich kein Wort. Ich verharrte in einer unentschlossenen Pose, halb gebückt, und fragte mich, ob es für die auch einen Yoganamen gab.

»Du! Mit der Karobluse da! Du sollst das Ding nicht anfassen! Könnte unter Strom stehen!« Ich wirbelte herum, und schon stand Siv vor mir und packte mich am Handgelenk.

In diesem Augenblick hatte ich zwei überraschend klare Gedanken.

Erstens: Ich war nur knapp dem Tod beim Karma Yoga entgangen. Dabei hätte mir das im nächsten Leben wahrscheinlich einen enormen Startvorteil verschafft. Wahrscheinlich wäre ich als Hollywoodstar wiedergeboren worden und hätte meine persönliche Assistentin zum Rasenmähen geschickt, statt mir selbst die Hände schmutzig zu machen. So gesehen: Dumm gelaufen.

Zweitens: Mr Buddha hatte mir soeben das Leben gerettet. Okay, vielleicht nicht absolut filmreif. Er hatte sich weder ein nasses Taschentuch vor die Nase pressen müssen, um mich aus einem einstürzenden und brennenden Gebäude zu retten, noch hatte er mich mit zwei Fingern aus einem Abgrund zwischen Häuserschluchten gezogen. Trotzdem. Leben war Leben.

Hatte ich nicht einmal irgendwo gelesen, dass Männer und Frauen, die sich in gefährlichen Situationen kennenlernten, besonders attraktiv aufeinander wirkten? Jedenfalls gab es da eine Art Naturgesetz, und ich war entschlossen, es für mich auszunutzen.

Ich blickte meinen Retter mit einer perfekt dosierten Mischung aus bedeutungsschwangerem Ernst und augenzwinkernder Leichtigkeit an, die eine solche Situation erforderte. Fühlte sich jedenfalls so an. Er öffnete den Mund, mein Handgelenk noch immer zwischen seinen Fingern. Jetzt würde er etwas sagen. Etwas Passendes, Schlichtes, Schönes. Etwas wie: Du zitterst. Oder: Das war knapp. Oder einfach nur: Wie heißt du eigentlich?

Siv schüttelte den Kopf, dann begann er zu kichern.

»Aber sonst geht’s gut?«, fragte er.

Zugegeben: Schlicht war das. Aber schön?

Eine der rothaarigen Frauen war aufgestanden und zu einem nahen Baum geschlendert. Sie stellte sich breitbeinig hin, hob die Handflächen und den Blick gen Himmel und legte die Hände dann sanft auf die rissige Rinde.

»Gerlinde?«, rief ihre Freundin vom Blumenbeet aus. »Machst du Reiki?«

Gerlinde antwortete nicht. Sie hatte noch immer die Augen geschlossen und murmelte etwas.

»Gerlinde!«

Sie ließ ihre Hände langsam, fast zärtlich an der Rinde hinunterwandern.

»Gerlinde! Das ist der falsche Baum! Die kaputte Wurzel gehört zu dem da drüben!«

Siv ließ meinen Oberarm los. Er grinste noch immer. Dann legte er die Hand auf meine Schulter. Große Hand, warme, trockene Finger. Haut wie Samt und Seide.

»Hey«, sagte er, »alles klar bei dir?«

Ich hielt die Luft an. Hatte ich schließlich nicht umsonst bei den yogischen Atemübungen gelernt. Energie anreichern. Vielleicht, dass er dann seine Hand nie wieder wegnehmen würde bei so viel geballter Lebenskraft. Dabei gab es nur ein Problem.

Mit angehaltener Luft konnte man nicht sprechen.

»Ja, klar«, keuchte ich, »ich war nur in Gedanken.«

Satya war mittlerweile zum Haus gestapft und hatte den Stecker gezogen. Bisher hatte immer noch niemand mit mir geschimpft.

»Gute Gedanken, hoffe ich?«

»Ich habe über die Natur des Glücks nachgedacht.«

»Dann hat es sich ja gelohnt«, gab Siv zurück, »was ist schon eine kaputte Schnur gegen die großen Fragen des Lebens?«

Er nahm seine Hand weg. Kleine, glühende Punkte hatten sich unter meine Haut gegraben, dort, wo sie gelegen hatte. Ich wartete ab, ob er doch noch etwas sagen würde aus der Abteilung Groß, Schön & Schlicht. Kam aber nichts.

Musste ich eben wieder mal selbst aktiv werden.

»Sag mal«, fragte ich, »wann genau gibst du immer deine Kurse bei Freddys Fitnessfarm?«

»Montags und mittwochs«, antwortete er, »Dienstag und Donnerstag bin ich außerdem im Buddha-Loft. Und freitags in der Nirvana Lodge.«

Sowas. In dem Laden war ich doch schon gewesen. Mit Nadine.



Am nächsten Tag auf dem Heimweg waren wir alle vier ungewöhnlich wortkarg. Anna machte sich Notizen in ein ledergebundenes Büchlein. Ich hätte wetten können, sie hatten entweder mit ihrer Bewerbung bei Sunny Side zu tun oder mit dem Tchibo-Wochenangebot. Nadine musste eine lange Liste von eingegangenen SMS bearbeiten und kicherte dabei dreckig. Ich spürte sensibel in mich hinein, empfand aber keinen Drang, mein eigenes Handy anzuschalten. Das war ein gutes Zeichen. Meine geistige Entwicklung hatte einen ordentlichen Sprung gemacht am vergangenen Wochenende.

Vielleicht hatte ich auch einfach nur endlich die Hoffnung auf eine Nachricht von Chris aufgegeben.

Und Siv, der … na gut, der hatte nicht einmal meine Handynummer.

Melli saß hinter dem Steuer und trug Sonnenbrille, obwohl noch immer der norddeutsche Landregen niederging. Ausgerechnet bei ihr war ich mir am wenigsten sicher, worüber sie nachdachte. Konzentration konnte es nicht sein. Autofahren allein war eine Tätigkeit, die sie noch nie besonders ausgefüllt hatte. Normalerweise war sie problemlos in der Lage, gleichzeitig einen Gefahrgutschwertransport zu überholen, unter dem Beifahrersitz nach einem verloren gegangenen Gummibärchen zu suchen, den Sendersuchlauf des Radios zu betätigen und mir dabei auseinanderzusetzen, warum Boris Becker sich niemals zu einer rothaarigen Frau hingezogen fühlen würde. Jetzt saß sie vollkommen unbeweglich hinter dem Lenkrad.

In der Ferne drehten Windräder ihre stummen Energiekreise, in der Nähe grasten Schafe. Der Parkplatz des »Steakhaus Landfrieden« war leer bis auf einen Ford Fiesta und einen verbeulten, beigefarbenen Mercedes. Im Vorbeifahren meinte ich, dass beide Kennzeichen auf OM endeten. Aber ich konnte mich auch getäuscht haben. Wer sich von gezeichneten Buddhas anquatschen ließ, dessen Wahrnehmung war wohl auch sonst kaum zu trauen.

Hinter dem nächsten Autobahnkreuz begann mich die Stille im Auto zu nerven. Sie war nicht angenehm, eher wie etwas Dickes, Wattiges, das mich in den Sitz quetschte und mir die Luft zum Atmen nahm. Kopfweh hatte ich auch. Vielleicht stimmte etwas nicht mit Mellis Aura oder mit meiner eigenen. Jedenfalls hatte ich ganz deutlich das Gefühl, dass sich im vorderen Teil des Kleinwagens wieder jede Menge negative Energie sammelte. Immerhin, ich schien in den letzten Wochen deutlich sensibler geworden zu sein. Früher hätte ich so etwas nicht gemerkt oder mein Kopfweh auf die güllegeschwängerte Landluft draußen vor dem Fenster geschoben.

»Heute Vormittag die letzte Stunde war einfach der Witz«, versuchte ich ein Gespräch.

Melli sagte etwas Undeutliches, das so klang wie »Ha«. Allerdings nicht besonders amüsiert.

»Stell dir vor«, redete ich einfach weiter, »da war eine Lehrerin, die konnte selbst keinen Kopfstand.«

»Ja. Und?«

»Wie, ja und? Würdest du vielleicht einen Englischkurs bei jemandem machen, der selbst nicht mal ein Bier in einem Pub bestellen kann?«

»Du verstehst das wirklich nicht, oder?«, fragte Melli ungläubig. »Genau das ist ja das Besondere am Yoga. Dass jeder an seine eigenen Grenzen geht und nicht die Leistung zählt. Dass jeder so, wie er ist, richtig ist.«

Danach war es wieder still. Ich musste daran denken, was Melli vorgestern Nacht zu mir gesagt hatte. Ich mache keine halben Sachen. Wenn ich auf Kurs bin, dann bin ich auf Kurs.

Und dann war mir plötzlich alles klar. Vielleicht war das genau mein Problem. Dass ich im Gegensatz zu Melli sehr gern halbe Sachen machte. Oder Viertelsachen oder Zehntelsachen. Dass ich immer schnell zu begeistern war und genauso schnell wieder gelangweilt.



Zwei Stunden später stand ich wieder auf dem Balkon meiner Wohnung und versuchte zu rauchen. Auf den ersten Blick sah alles noch genauso aus wie bei meiner Abreise: der Bistrotisch mit dem Klecks Taubenkacke und dem kleinen Aschenbecher mit einem Bild der »Schwarzwaldklinik«, der Balkon gegenüber mit dem hölzernen Wagenrad an der Wand, die ungeputzten Fensterscheiben. Hinter mir das Zimmer mit dem vollgekrempelten Sofa, das unbarmherzige rote Lämpchen meines Anrufbeantworters, das überhaupt nicht daran dachte, zu blinken. Trotzdem. Irgendetwas war anders.

Erst dachte ich, dass es nur die gelegentliche Abendzigarette war, die plötzlich nicht mehr schmeckte. Aber das war erst der Anfang.

Ich bekam mein Lieblings-Chicken-Curry nicht mehr runter. Stattdessen packte mich ein unerklärlicher Heißhunger auf Tofuwürstchen. So richtig schön trocken von außen und flockig-bröselig von innen.

Und dann war noch diese Sache mit den Blättern. Und das war mit Abstand die verrückteste.

Ich sah es erst, als ich gerade ins Bett gehen wollte. Da stand mein trauriger Ficus im Halbdunkel, kahl und dürr, und streckte mir stolz ein hölzernes Ärmchen mit drei winzigen, grünen Spitzen entgegen. Mein Ficus, Evke Franks Ficus, hatte neues Leben hervorgebracht. Solange ich denken konnte, hatte noch keine meiner zahlreichen Grünpflanzen jemals so etwas getan.

Wenn das mal kein Zeichen war.

Dies war der Beginn eines neuen Lebens. Eines Lebens, in dem alles Yoga sein würde. Vom Zähneputzen bis zum letzten Schluck Kräutertee. In echt jetzt.

Wenn Melli einhundert Prozent gab, dann wollte ich einhundertfünfzig geben.

Vielleicht würde ich dieses Leben auch mit jemandem teilen. Ich hatte da jedenfalls schon so eine Idee.