ANJANEYASANA

Die Halbmondstellung (Anjaneyasana) hilft, den eigenen Geist zu beherrschen, Lebenskraft zu erlangen oder wiederzugewinnen.

/epubstore/H/J-Hagedorn/Mantramanner/OEBPS/e9783641058159_i0052.jpg

/epubstore/H/J-Hagedorn/Mantramanner/OEBPS/e9783641058159_i0053.jpgAm Abend des schwärzesten Dienstags meines Lebens redeten wir lange, mein Vater und ich. Und am Ende war ich beinahe glücklich. Nicht nur weil die Neuigkeiten aus Hansjörgs Welt mich von meinem jüngsten Siv- und Melli-Desaster ablenkten. Auch weil ich erfuhr, wie viele Gedanken mein Vater sich gemacht hatte.

Er hatte einen Fehler gemacht, er hatte mich auflaufen lassen, er hatte mir etwas Wichtiges verschwiegen. Doch er hatte es nicht aus Boshaftigkeit getan, nicht einmal aus Gleichgültigkeit.

Mein Vater hatte vielleicht nicht das stärkste Rückgrat aller Zeiten. Aber eines hatte ich verstanden: Er liebte mich.



Als ich auf den Türsummer drückte, war ich noch keineswegs so milde gestimmt. Unwirsch riss ich die Wohnungstür auf, hörte zögernde Schritte auf den Treppenstufen und zerrte meinem Vater schließlich wortlos die Scherben des Terrakotta-Übertopfes aus der Hand, die er mir entgegenstreckte wie eine übereilte Friedenspfeife.

»Hier«, sagte er, »die haben nicht mehr in den Straßenmülleimer gepasst, weil das Bäumchen so groß war. Hatte übrigens total faulige Wurzeln. Du darfst deine Pflanzen nicht so zuschütten, davon gehen sie kaputt.«

»Du kannst gleich wieder gehen«, knurrte ich, »wenn du mir jetzt Vorträge über Hobbygärtnerei halten willst.«

Er versuchte, mich in den Arm zu nehmen. Ich riss mich los und warf mich auf das Sofa. Dann schleuderte ich die Scherben auf den Teppich und die Flipflops von meinen Füßen. Mein Vater blickte sich suchend um, fand aber keine andere Sitzgelegenheit. Ich dachte überhaupt nicht daran, ihm eine anzubieten.

Und da tat er etwas Verblüffendes. Er ließ sich erstaunlich sportlich im Schneidersitz auf dem Teppich vor mir nieder, ergriff meine nackten Füße und begann, meine Zehen zu massieren. Ich war zu verdattert, um sie ihm zu entziehen.

»Evke«, begann er sanft, »mein liebes Mädchen.«

Das hätte er nicht sagen sollen. Gleich würde ich anfangen zu heulen. Und dann würde er mich auf den Schoß nehmen und wiegen, als sei ich wieder sieben Jahre alt und die hinterhältige Nachbarstochter hätte mich mit ihrem Holzclog vertrimmt. Und dann musste ich ihm sofort alles verzeihen, weil er mein Papa war, weil er so stark war und alles Böse auf der Welt von mir fernhielt.

Bevor meine Stimmung allzu harmoniesüchtig wurde, sprach er bereits weiter.

»Ich weiß«, sagte er, »das muss für dich ein Schock sein, dass du es auf diese Weise erfährst. Aber du musst zugeben, ich habe es immer wieder versucht, Kontakt mit dir aufzunehmen. Weil ich es dir natürlich selbst sagen wollte, dass ich … dass Ilona … ich meine, dass du große Schwester wirst. Aber du hast dich ja auch nie zurückgemeldet.«

»Ich wusste ja nicht mal, dass IPS, ich meine, dass Ilona und du euch überhaupt kennt!«, fuhr ich ihn an. »Wahrscheinlich hast du nicht mal kapiert, dass ich im gleichen Unternehmen arbeite wie sie! Du konntest dir ja schon damals nie den Namen von meinem Chef merken!«

»Ach, der Herr Bäcker!«, mein Vater lachte unsicher und knetete meine Knöchel. »Hat sich euer Verhältnis denn etwas verbessert?«

»Er heißt Berger«, gab ich eisig zurück, »danke der Nachfrage. Könnte kaum besser sein.«

Mein Vater atmete lang ein und noch viel länger wieder aus. Wahrscheinlich eine der Atemtechniken, die er im Geburtsvorbereitungskurs gelernt hatte.

»Weißt du«, sagte er schließlich leise, »es kam alles viel schneller und überraschender, als du vielleicht denkst. Ich habe wirklich lange Zeit nicht gewusst, was Ilona beruflich genau macht. Schon gar nicht, dass ihr Kolleginnen seid.«

»Ihr hattet wohl Wichtigeres zu tun, als über eure Jobs zu sprechen«, gab ich bissig zurück, aber er ließ sich nicht provozieren.

»Da hast du gar nicht so unrecht«, sagte er, »wir hatten wirklich Wichtigeres zu tun. Aber nicht, was du denkst. Weißt du, wir hatten einfach so unglaublich viel zu reden. So viel ganz Entscheidendes.«

»Klar. IPS ist ja auch in der Kommunikationsbranche.«

Mein Vater arbeitete sich langsam von meinem Knöchel zu meiner Wade vor und blickte sehr konzentriert dabei drein.

»Kennst du das?«, fragte er schließlich leise. »Wenn du einen Menschen triffst und sofort das Gefühl hast, er dringt mit Worten in dein Inneres vor? Nicht das ganze Normalprogramm, diese Fragen nach Job, Auto, Reisen – sondern wenn man sich trifft und sofort auf einer ganz anderen Ebene ist? Wie soll ich dir das nur erklären?«

»Brauchst du nicht«, sagte ich. »Kenn ich gut.«

Musste mein Vater mich jetzt ausgerechnet an meine letzte zauberhafte Begegnung der dritten Art erinnern?

»Ilona jedenfalls«, fuhr er träumerisch fort, »ich glaube, in diese Frau hätte ich mich auch verliebt, wenn sie zehn Jahre älter gewesen wäre als ich und zwanzig Kilo mehr wiegen würde. Oder wenn sie rosa T-Shirts mit Mickymäusen tragen würde. Dass sie auch noch eine so attraktive Person ist, nun ja, das hat jedenfalls nicht geschadet. Aber glaub mir, dass ihr Kolleginnen seid, das weiß ich erst seit etwa einem halben Jahr.«

»Einem halben Jahr? Da war sie doch schon schwanger!«

»Eben«, er nickte, als erklärte das alles. »Das mit dem Baby war nicht geplant, jedenfalls nicht so schnell. Wir kannten uns ja noch nicht lange. Als dann klar war, dass wir Eltern werden, haben wir uns natürlich mehr über unser Leben erzählt. Und da dachte ich mir schon, dass es nicht so einfach werden könnte für dich. Dass dein alter Vater sich neu verliebt, in eine Frau, die deine große Schwester sein könnte.«

Endlich blickte er auf. Er sah mich erwartungsvoll an, als müsste ich sofort etwas sagen wie »na, so alt bist du ja nun auch wieder nicht«, aber da konnte er lange schmoren.

»Jedenfalls«, sagte er nach einer Weile und drückte mit seinem Daumen auf meinen Schienbeinen herum, »jedenfalls habe ich dann ja immer wieder versucht, dir alles zu erzählen. Ilona war mir schon ganz böse, dass wir uns nie getroffen haben, du und ich. Aber es kam ja nie etwas von dir. Dass Ilona das nun selbst in die Hand nehmen wollte – na, da muss ich wohl noch einmal ein ernstes Wort mit ihr reden. Sie hat sich jedenfalls große Sorgen darum gemacht, wie du es aufnehmen würdest. Schließlich mag sie dich sehr.«

»Die mag mich sehr?«, fragte ich ungläubig. »Die kennt mich doch überhaupt nicht!«

»Sie hat mir erzählt, dass du dich in den letzten Monaten sehr verändert hast«, mein Vater bohrte einen Zeigefinger unter mein Knie, »eine Art inneres Strahlen, das du früher nicht hattest. Sagt sie. Wir haben uns schon gefragt … Evke, gibt es vielleicht einen neuen Mann in deinem Leben?«

Grob riss ich ihm mein Bein weg. »Falsche Frage«, sagte ich finster, »nächste Frage.«

»Entschuldigung«, gab mein Vater kleinlaut zurück, »ich hätte mich ja nur gefreut, wenn es von dir auch so schöne Neuigkeiten gegeben hätte wie von mir. Ich dachte, wir können ja auf jeden Fall bald mal zusammen mit Finn-Luca …«

»Finn-Luca? Wer ist das nun wieder?«

»Na, dein kleiner Bruder natürlich«, erklärte er mit einem beinahe vorwurfsvollen Ton, als hätte ich das längst wissen müssen.

Aber da hatte ich wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden.

»Der soll Finn heißen? Das geht nicht!«, rief ich aufgeregt. »Den Namen hatte ich mir doch selbst ausgesucht. Für meinen – ich meine, für deinen Enkel!«

Mein Vater lachte. »Mein Enkel? Ich hatte dich gerade so verstanden, dass gerade gar kein Vater für das Kind in Sicht ist?«

»Egal«, schmollte ich, »der Name gehört mir.«

»Okay«, sagte mein Vater und nickte langsam, »dann schreiben wir ihn eben anders, den Finn-Luca. Mit Ypsilon, das geht auch.«

Ich blickte auf seinen Daumen. Den breiten Fingernagel, die schwarzen Härchen darauf. Plötzlich musste ich wieder daran denken, wie ich mich früher gefühlt hatte, wenn mein Vater am Steuer unseres Autos saß. Das Lenkrad so fest und sicher umfasst, diese Klarheit im Blick, als wüsste er immer, wo es langgeht.

Jedenfalls glaubte ich das damals.

»Du hast dich ganz schön verändert«, sagte ich leise.

Er nickte. »Du ja vielleicht auch. Und weißt du, was ich wirklich bereue? Dass ich es nicht einmal beurteilen kann. Dass ich es zugelassen habe, wie weit wir in den letzten Jahren auseinandergedriftet sind, Evke. Mein Mäuschen.«

Und dann war es um mich geschehen. Schluchzend lag ich an seiner Brust, so, als sei ich selbst so winzig wie Finn-Luca und als könnte ein Vater so etwas sein wie ein Bollwerk gegen alles Böse auf der Welt. Dabei stellte ich mir vor, wie eine wild gewordene energetische Lichtdusche um sich spritzte und einfach alle Wesen mit Goldstaub bepuderte, meinen Vater und meine Mutter, IPS und das kleine Wesen in ihrem Bauch. Meine Freundinnen, von denen die wichtigste mich nicht mehr mochte. Selbst Siv bekam ein paar Spritzer ab.

Aber nur aus Versehen.

Bei aller Harmonie: Mit dem waren wir noch nicht fertig, Nadine und ich.