NATARAJASANA

Der Tänzer (Natarajasana) verleiht ein stabiles Gleichgewicht, das durch die Stürme des Lebens nicht erschüttert werden kann.

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/epubstore/H/J-Hagedorn/Mantramanner/OEBPS/e9783641058159_i0057.jpgDas Fernsehstudio lag in einem Vorort von München, aber es hätte auch in einem Vorort von Hannover liegen können. Oder von Hongkong. Oder von Hoyerswerda. Es sah nicht aus wie ein Gebäude, in dem lebendige Menschen arbeiteten, atmeten oder nachdachten. Eher wie ein überdimensionales Architekturmodell, das zu groß geraten war für seinen Schaukasten. Chrom- und Glasfassade, türkise Wandplatten. Als ich hereinkam, fror ich. Und das lag sicher nicht nur an der amerikanisch überdrehten Klimaanlage, die frische Polarluft ins Foyer pumpte.

Unter einem riesigen Plakat, das Benita von Zitzewitz als Comicfigur mit Staublappen und Putzeimer zeigte, saß ein Empfangsmann im blaugrauen Hemd hinter einem milchig weißen Tresen. Das Hemd hatte in etwa die gleiche Farbe wie die Wand hinter ihm, und wenn er nicht eine Brille mit auffälligem rotem Kunststoffgestell und einen buschigen, dunklen Schnurrbart gehabt hätte, man hätte ihn glatt übersehen können.

»Guten Morgen«, sagte ich, »ich bin Evke Frank. Ich soll hier zu …, ich meine, zu der Putztalkshow.«

Der Wachmann griff nach einem Klemmbrett und nickte bestätigend. »Ja, genau«, sagte er, »Bescheuert. Mantras oder Muckis?«

»Bitte, wie?«

»Ned so wichtig. Ausfüllen, bitte.« Er hämmerte mit haarigen Fingern auf das Formular. Name, Geburtsdatum, Steuernummer. Sendeformat.

Ich kritzelte drauflos und fühlte mich beobachtet. Bei meinem Nachnamen verschrieb ich mich gleich dreimal. Und das war erst der Anfang. Das konnte ja heiter werden.

Ich reichte ihm das Brett zurück, ohne ihn anzusehen.

»Tut mit leid«, sagte ich, »das mit der Steuernummer … also, die weiß ich nun beim besten Willen nicht auswendig.«

Er musterte das Blatt finster, dann verzog sich der Mund unter dem buschigen Schnurrbart zu einem Lächeln.

»Ja, warum sagen S’ des ned gleich? Da darf man ja gratulieren!«

Er trommelte auf die zweite Zeile.

»Gratulieren?«

Für einen kurzen, wahnwitzigen Moment hoffte ich, er würde mir erklären, dass die Sendung abgesagt war. Dass dieser schnauzbärtige bayerische Portier mich vor mir selbst retten würde und vor dem peinlichsten Auftritt meines Lebens.

Die ganze Nacht hatte ich mich schlaflos in der aalglatten Bettwäsche meines Hotelbettes gewälzt und Raumsprayduft inhaliert. Wie war ich bloß auf diese Schnapsidee gekommen, auf diesen Höllentrip? Wie konnte ich, die vor ein paar Monaten die Kobra noch für eine orientalische Giftschlange gehalten hatte, hier auf einmal vor aller Welt als Yogaexpertin auftreten?

Um vier Uhr morgens hatte ich die Nachttischschublade geöffnet und Trost in der Bibel gesucht. Es hatte nichts geholfen. Denn leider gab es weder im Neuen noch im Alten Testament einen aufbauenden Spruch, der mit »Selig sind die Wahnwitzigen« begann.

Seit meiner ersten Yogastunde war ich nicht mehr so neben der Spur gewesen.

»Natürlich, gratulieren! Wer hat denn hier Geburtstag, Sie oder ich?«

Auch das noch. Daran wollte ich nun wirklich nicht denken, melli- und männerlos, wie ich war. Dass mein Vorsatz schon um sechs Uhr morgens in sich zusammenfiel, konnte kein gutes Zeichen sein.

Mitleidlos zeigte der Empfangsmann auf eine gläserne Tür und drückte dann auf einen Knopf hinter seinem Pult. Die Tür fuhr mit einem Zischen zur Seite und gab den Weg frei.

»Gehen S’ da durch und fahren S’ mit dem Lift in den siebten Stock. Die Jenny holt Sie ab und bringt Sie gleich in die Maske. Ich sag oben Bescheid.«

Erst als sich die Türen des Liftes hinter mir schlossen, hatte ich wieder das Gefühl, in der wirklichen Welt angekommen zu sein. Die Beleuchtung war genauso aquariumhaft wie im Sunny-Side-Aufzug, und an der Wand hing ein Kantinenplan. Montags gab es Fleischpflanzerl mit Letschogemüse, freitags Fisch in Eihülle. An diesem Morgen war mir der Speiseplan ein größerer Trost als Buddhas gesammelte Sprüche und die Hotelzimmerbibel zusammen. Waren eben alles nur Menschen, egal ob sie in der Lohnbuchhaltung eines mittelständischen Reiseveranstalters arbeiteten oder in der Redaktion einer sensationellen Putztalkshow. Auch wenn es in unserer Kantine keine bayerischen Fleischpflanzerl gab. Sondern norddeutsche Klopse alla Plisch und Plum.

Ich klammerte mich an den Gedanken wie einst Leonardo Di Caprio an jene Titanic-Holzplanke, auf der Kate Winslet saß. Nur schade, dass Leo trotzdem im Eiswasser ertrunken war. Wer garantierte mir, dass mir nicht genau das gleiche Schicksal bevorstand? So gesehen war auch dieser Trost nur von kurzer Zeit.

Die Schiebetür öffnete sich mit einem sanften Surren, und ein Mädchen erwartete mich. Es drückte sich ein Klemmbrett an die Brust und war so schmal, dass ich es im ersten Moment für höchstens zwölf hielt. Doch dann öffnete das Mädchen den Mund und sagte mit erstaunlich tiefer Stimme: »Hi, ich bin die Jenny. Personal Assistant von der Benita. Ich bring dich gleich in die Maske, magst vorher noch was trinken?«

»Ach ja«, sagte ich, »ein Kaffee wäre jetzt nicht schlecht.«

An diesem Morgen war ich von Natur aus so rajaz, dass man mich in keinem Yogazentrum mehr hineingelassen hätte. Da kam es auf ein paar Gramm mehr Koffein auch nicht an.

»Kaffee?«, sie riss so entgeistert die Augen auf, als hätte ich sie um ein Pfund rohes Fleisch gebeten. »Magst nicht lieber einen grünen Tee?«

»Auch recht«, antwortete ich schnell. »Solange er stark genug ist.«

Ich folgte ihrem Kinderpo in der Size-Zero-Designerjeans einen langen Gang entlang. In einer Teeküche, die so steril aussah wie in einem Raumschiff, schenkte sie mir einen Keramikbecher voll. Dann ging sie im gleichen Tempo weiter, und ich hielt eine Hand über den Becher, damit ich das heiße Gebräu nicht verspritzte. Das war gar nicht so einfach. Um mich herum roch es nach frisch gemähter Wiese.

Schließlich öffnete sie eine der weißen Türen, die alle gleich aussahen. Dahinter lag eine Garderobe mit einer langen Reihe von Spiegeln und Abstelltischen, auf denen mehrstöckige Schminkkoffer aufgebaut waren. Auf einem der Stühle saß gerade eine Frau im pinkfarbenen Kunststoff-Trainingsanzug und hatte ergeben den Kopf zurückgelegt, während ein Visagist sich ihr mit einer Wimpernzange näherte.

»Das ist der Schleibi, der macht hier Haare/Make-up«, stellte Jenny vor, »und um Outfits kümmert er sich auch. Schleibi«, sie ging auf ihn zu und legte ihm die Hand auf den Oberarm, »schau, hier wären jetzt die Mantras.«

Schleibi hielt die Wimpern der Frau in Rosa eisern in seiner Stahlzange gefangen und musterte mich mit einem abschätzigen Seitenblick.

»Hätt ich mir ja beinahe gedacht, dass das nicht die Muckis sind«, sagte er.

Mantras? Muckis? War das ein spezieller Fernsehjargon? Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, und musterte verstohlen die Frau in Rosa. Sie sah auch nicht aus, als würde sie zum Team gehören, eher wie ein weiterer Talkshowgast. Allerdings keiner, der sich besonders mit Yoga auseinandersetzte.

Doch wer weiß. Man konnte sich ja täuschen. Wenn ich etwas gelernt hatte im Lauf der letzten Woche, dann das.

Während sich Schleibi ihren Augenbrauen mit einer Pinzette näherte, schob sie beiläufig den Stoff ihres Oberteils ein Stück nach oben, und ich bekam einen Schreck. Was sie da hatte, war kein Bauch. Wenigstens kein normaler Frauenbauch. Es war ein Waschbrett, bei dem Brad Pitt vermutlich die Tränen in die Augen geschossen wären.

»Hallöchen«, flötete sie und verdrehte die Augen in meine Richtung, »ich bin die Sandy. Meine Freunde nennen mich Sän.«

Bevor ich fragen konnte, was Sandys – oder Säns – Rolle in der Show war, öffnete sich wieder die Tür, und etwas Kleines huschte hinein. Schon zum zweiten Mal innerhalb von zehn Minuten dachte ich, ein Kind hätte sich in die Redaktionsräume verirrt.

»Mei!«, rief das Kleine. »Ihr seid’s ja superpünktlich, das find ich super! Aber … das hier, das sind die Mantras, oder? Seid’s ihr sicher mit dem Outfit?«

Das Kleine war stehen geblieben und zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf mich. Manieren hatte es also auch keine. Was es hatte, war eine enorme Haarmähne, auf der ein neckisches Kopftuch im Retrostil saß, dazu ein passendes Blüschen und Dreiviertelleggings, und eine erstaunliche Menge Zahnfleisch, die es beim Lächeln entblößte.

Und es war auch kein Kind, sondern Benita von Zitzewitz.

Ich schätzte sie auf einen Meter sechzig und siebenundvierzig Kilo. Sie sah nicht so aus, als hätte sie in den letzten zwölf Jahren ein Fleischpflanzerl gegessen. Oder irgendetwas anderes, das mehr Kalorien hatte als Löschpapier. Ich hatte schon häufig gehört, dass die Fernsehkamera optisch mindestens fünf Kilo dazumogelte. Jetzt begann ich, daran zu glauben.

Dann erst verstand ich, was das für mich selbst bedeutete. Wenn Benita mit dem Körper einer Achtjährigen wie eine ausgewachsene, schlanke Frau aussah – wie würde ich dann rüberkommen?

Da war es wieder, das Titanic-Gefühl. Ich steuerte sehenden Auges auf einen Eisberg zu. Und er kam immer näher.

Schleibi zuckte die Achseln und zeigte mit einem Augenbrauenpinsel auf mich. »So sehen diese Yoga-Outfits alle aus. Dieses pastellige Walla-Walla-Zeug.«

Ich warf einen Seitenblick in den Spiegel. Schon wieder hatte ich etwas falsch gemacht. Ich verstand nur nicht, was. Was war denn an meinem Wickelshirt und meinen energetisierenden Pulswärmern auszusetzen?

»Zieh ihr doch mal das Shirt aus«, sagte Benita, »was hat sie denn drunter?«

Schleibi legte seinen Pinsel ab, zupfte an meinem Shirt und schüttelte dann den Kopf.

»No way«, antwortete er, »dann denken die Zuschauer, unser Programmschema hat sich geändert und sie sind schon bei ›Beauty Doc – die Praxis der letzten Hoffnungen‹.«

Weil alle lachten, blieb mir nichts übrig, als mitzulachen.

Während Benita von Zitzewitz grußlos hinausrauschte, wies er mir den Stuhl neben Sandy zu.

»Setz dich schon mal hin. Wir haben ja nicht ewig Zeit.« Dann hielt er in der Bewegung inne. »Du, sorry, du«, sagte er. »Ich wollte dich nicht beleidigen. Manchmal geht’s einfach mit mir durch.«

»Keine Sorge«, entgegnete ich. »Das kenn ich.«

Ich senkte den Kopf und nippte an meinem Tee. Plötzlich fühlte ich mich sehr nackt. Normalerweise hätte ich mir jetzt mein Handy geschnappt, um die Wartezeit mit Simsen zu überbrücken. Aber das kam heute ja nicht infrage. Um fünf vor zwölf gestern Abend hatte ich es abgestellt und war fest entschlossen, es vor Mitternacht auch nicht wieder anzumachen. Ich wollte gar nicht wissen, wer mich zu meinem Geburtstag anrief.

Vor allem wollte ich nicht wissen, wer es nicht tat.

Siv fiel mir wieder ein. Diese strahlende Ruhe, mit der er zwischen Nadine und mir unter der Caféhausdecke mit den fleischfarbenen Engelchen gesessen hatte. Völlig gelassen im Auge des Sturms. Wenn ich nur ein klein wenig mehr davon gehabt hätte!

Wenn ich nur ein bisschen mehr Ahnung von Yoga gehabt hätte!

»Und du machst also Yoga?«, fragte Sandy, während Schleibi ihr mit hellblauem Lidschatten einen Look verpasste, der selbst Abba 1975 ein wenig zu schrill gewesen wäre.

»Ja«, sagte ich, »also, so ein bisschen wenigstens.«

»Ein bisschen? Ich dachte, du bist hier die Expertin. Sonst hätten die dich doch nicht eingeladen, oder?«

Die Frau ahnte nicht, wie sehr sie ins Schwarze getroffen hatte.

Vielleicht war das meine Chance. Wenn ich jetzt noch zugab, öffentlich und vor Zeugen, dass ich im Grunde gar nichts von Yoga verstand – ob sie mich dann gehen ließen? Oder war das strafbar? Und was war das Mindeststrafmaß für Talkshow-Vereitelung?

Es half nichts. Mir blieb nur die Flucht nach vorn.

»Und du?«, fragte ich. »Hatha oder Kundalini?«

Das klang zumindest ein klein bisschen nach Expertentum. Schließlich hatte ich vor sechs Monaten beide Wörter noch nie gehört.

Sandy versuchte, den Kopf zu mir zu wenden, konnte sich aber in Schleibis eisernem Griff nicht bewegen.

»Aber nein«, sagte sie zu ihrem eigenen Spiegelbild, »wo denkst du hin? Ich bin die saarländische Landesmeisterin im Bodystyling. 2007, 2008 und 2010.«

Tief einatmen. Yogische Vollatmung. In drei Stufen. Und wieder aus.

Ich konnte mir zwar nicht erklären, warum ich ausgerechnet mit dieser Frau zusammen in einer Talkshow auftreten sollte. Aber wenigstens wusste sie nicht mehr über Yoga als ich. Das war ja schon mal etwas.

»Und wer hat 2009 gewonnen?«, wollte ich wissen.

»Da war’s Jacqueline Kowalski. Die hatte so eine definierte Bauchmuskulatur, da konnte man den Nabel praktisch gar nicht mehr messen.«

»Und dann?«

»Dann hat sie den Chef vom Golden-Body-Studio geheiratet und ist schwanger geworden. Mit Zwillingen.«

Ein Lautsprecher an der Garderobendecke begann zu scheppern. »Studio eins«, tönte eine blecherne Stimme, »die Aufzeichnung von B. scheuert beginnt in zwanzig Minuten.«

Schleibi trat einen Schritt zurück, sah Sandy an, kniff die Augen zusammen und nickte dann beifällig. Anschließend wandte er sich zu mir und seufzte leise.

»So«, sagte er, »bei dir machen wir einen schönen Nude Look. Ganz nädschuräl, verstehst? Soll ja ein schöner Kontrast werden.«

»Sag mal«, fragte ich, »was bedeutet das eigentlich mit den Mantras und den Muckis? Ist das so etwas wie ein Geheimcode?«

Er lachte und tupfte mit einem feinen Pinsel auf einer Palette von Beigetönen herum, die mich an eine fröhliche Rentnergruppe bei einem Busausflug erinnerten. Vielleicht fiel ich damit im Studio nicht so auf. Das konnte mir nur recht sein.

»Du hast echt einen guten Humor«, sagte er, »nein, das ist doch das Motto der heutigen Sendung.«

»Mantras oder Muckis?«

»Genau«, mischte Jenny sich ein. »Unserem Programmdirektor war die ganze Sendung ein wenig zu brav, der wollte mehr Kontroverse. Mehr Suspense. Seit letzter Woche haben wir deshalb umgestellt auf ein eher konfrontatives Konzept. Zwei Köpfe, zwei Weltsichten. Hunde oder Katzen, Camping oder Luxushotel, monogam oder One-Night-Stands …«

»… Muckis oder Mantras«, ergänzte ich tonlos.

Jenny nickt erfreut. »Genau. Du hast es erfasst.«



Zwanzig Minuten später saßen wir tatsächlich im Studio. Das heißt, streng genommen saß eigentlich nur ich. Ich hatte die Beine gekreuzt, die Hände ins Cin-Mudra gelegt und atmete tief und gleichmäßig.

Nein. Nicht ganz. Ich hechelte wie ein überhitzter Terrier. Ich versuchte dabei aber so auszusehen, als atmete ich tief und gleichmäßig. Allein schon, damit mir das winzige Mikro nicht herunterfiel, das ein Techniker mit grauem Pferdeschwanz in meinen Ausschnitt geklemmt hatte.

Sandy stand im Ausfallschritt hinter mir, Bizeps angespannt, und erinnerte mich an ein Schaubild mit Muskelfasern aus dem Biobuch.

Benita von Zitzewitz war sogar gleich zweimal vertreten: Live im Studio kauerte sie in einer riesigen Badewanne mit Whirlpool und hatte sich eine Reihe von verschiedenfarbigen Scheuerlappen zurechtgelegt, und als Comicfigur tobte sie gerade über einen großen Studiobildschirm, auf dem wir den Vorspann der Sendung verfolgen konnten. Sie hüpfte darin mit dem Putzeimer in der Hand leichtfüßig über Waschbecken und Klos, zwinkerte neckisch unter ihrem lässig geknoteten Kopftuch hervor, schnallte sich Wischtücher unter die Füße und drehte Pirouetten auf dem Küchenboden. Ganz am Ende nahm sie im Lotossitz auf dem Putzeimer Platz, um sich von dort langsam im Sitzen in den Himmel zu erheben.

Der Kameramann machte schon sein Zeichen zum Loslegen, da kam noch rasch Jenny aus der Kulisse gestürzt und stellte zwei Flaschen Putzmittel neben mir auf dem Boden ab. Auffällig schicke Flaschen.

»Bloß nicht umwerfen!«, zischte sie mir zu. »Der Hersteller ist ein ganz wichtiger Werbekunde!«

Dann konnte man auf dem Bildschirm gut gelaunte Menschen im Publikum sehen, die begeistert klatschten. In Wirklichkeit saßen wir in einem komplett leeren Studio, in dem es nicht einmal Zuschauerbänke gab. Aber die Technik machte alles möglich. »Um diese Zeit kommt keiner freiwillig in den Sender«, hatte Jenny erklärt, »ist aber auch egal. Wir brauchen Zuschauer ja sowieso nur als Schwenkfutter. «

Benita von Zitzewitz knipste ihr zahnfleischbetontes Lächeln an.

Jetzt konnte ich nur noch durchhalten. Irgendwie überleben. Schlimmer als in diesem Moment konnte nichts mehr werden.

Wenn schon keiner freiwillig ins Studio kam, dann blieb mir immerhin noch ein Fünkchen Hoffnung. Vielleicht schaltete ja auch keiner freiwillig seinen Fernseher ein.

»Grüß Gott und einen wunderschönen Morgen, liebe Zuschauer«, flötete Benita von Zitzewitz und machte dabei kleine Kreisbewegungen mit dem rosa Wischlappen. »Heute habe ich zwei Gäste, auf die ich mich besonders freue.«

Sie bedachte Sandy und mich mit einem warmherzigen Blick, als wären wir ihre lang verschollenen Kindergartenfreundinnen, die heute zufällig gemeinsam an ihrem Arbeitsplatz aufgetaucht waren.

»Es geht um die Frage: Mantras oder Muckis – was brauchen Frauen heute wirklich?«, erklärte sie. »Evke, du bist eine der zahlreichen Frauen in diesem Land, die ihr Glück mit Yoga gefunden haben. Aber, so ganz unter uns, es ist natürlich vor allem eine Frage, an der wir interessiert sind.«

Sie zwinkerte mir kumpelhaft zu und machte eine einladende Bewegung. Ich ließ die Hände sinken und stand auf, wobei mir das dünne Kabel zwischen Mikro und Sendekästchen unangenehm auf der Haut klebte. Dann kletterte ich zu ihr in die Wanne und versuchte mich zu konzentrieren. Endlich kam etwas, auf das ich vorbereitet war. Yoga und Wirtschaft. Yoga und Mitarbeitermotivation. Sunny Side, der sympathische, mittelständische Reiseveranstalter. Management by Yoga, der heiße Business-Trend aus den USA. Siebenundzwanzig Prozent. Meine Stichworte. Jetzt durfte ich Berger nicht enttäuschen.

»Evke«, sie legte mir ihren Gummihandschuharm auf die Schulter und blickte mir tief in die Augen, »jetzt sag uns mal ganz ehrlich: Verhilft Yoga zu einem besseren Liebesleben?«

Ich verschluckte mich fast an meiner eigenen Spucke. Es war sehr still im Raum und sehr heiß. Lag es an den Scheinwerfern um mich herum? An Benitas Frage?

Oder kam ich gerade mit neunundzwanzig in die Wechseljahre?

»Also, das kommt ganz darauf an, was man alles unter Liebe versteht«, stammelte ich schließlich. Die Titanic hatte den Eisberg gerammt. Jetzt konnte ich mich nur noch irgendwo festklammern. Schwimmen. Reden.

Hatte Leo aber auch nichts genutzt.

Vielleicht konnte ich den Kurs unauffällig ändern.

»In unserer Firma haben wir zum Beispiel die Liebe zu unseren Kunden …«

»Evke«, die Moderatorin bohrte ihren Blick jetzt noch tiefer in meine Pupillen und verstärkte ihren Griff zu einer eisigen Umklammerung, »ich dachte da schon eher an eine andere Form von Liebe.«

Treffer. Versenkt. Weder meinen Satz zu Ende gebracht, noch den Firmennamen von Sunny Side untergebracht.

»Also, ich kann das ganz klar mit Ja beantworten!«, rief Sandy dazwischen. »Ausdauer- und Kraftsport steigert jedenfalls die Ausdauer in allen, also wirklich allen Lebensbereichen. Vor allem, wenn man wie ich Ausdauertraining, Krafttraining und natürlich auch Kraftausdauertraining macht. In wechselnden Intervallen.«

»Nun«, Benita lockerte ihren Schraubstockgriff an meinem Arm ein wenig, »dann frage ich mal so: Wie sieht es denn aus mit der geistigen Klarheit? Also, man liest ja immer wieder von Models und Schauspielern, die ganz abenteuerliche Bewusstseinszustände erlangen in ihrer Yogapraxis.«

Ich brauchte jetzt dringend irgendetwas zum Festhalten. Wenn schon kein Holzbrett da war. Und leider, leider auch keine Zigarette.

Schließlich griff ich nach einem blauen Wischlappen und fuhr damit kreisförmig über das glänzende Emaille.

»Ja, das ist richtig«, sagte ich langsam und versuchte, gleichzeitig zu reden und im Voraus zu denken. »Das Spannende ist ja auch, dass man diese Zustände nicht unbedingt erreicht, wenn man im Kopfstand meditiert oder sich völlig von der Welt zurückzieht. Sondern gerade dann, wenn man etwas tut, also etwa Putzen, oder auch ganz versunken ist in der eigenen Arbeit …«

»Kopfstand?«, rief Sandy dazwischen. »Vormachen!«

»Ja«, sagte Benita und nickte, »hervorragende Idee. Wie wäre es, wenn du uns mal so einen richtig schönen Yogakopfstand vormachen würdest?«

Zögernd schüttelte ich den Kopf. »Tut mir leid, ich bin noch nicht so weit. Bisher habe ich nur die Krähe geübt.«

Benita hatte uns vorher eingeschärft, dass wir nur zu reden hätten, wenn wir mit ihr in der Badewanne saßen. Doch das schien Sandy wenig zu kümmern.

»Also, der Kraftsport wird ja in dieser Hinsicht unterschätzt«, sagte sie energisch und wechselte Stand- und Spielbein. »Wenn ich mal Probleme hab oder so, also mehr so geistige, dann denk ich am besten darüber nach, wenn ich im dritten Satz mit zwanzig Wiederholungen an der Butterfly-Maschine noch mal fünf Kilo draufpacke. Da komme ich auf die erstaunlichsten Lösungen.«

Benita nickte ihr zu, wandte sich von mir ab und schlang grazil ihre Beine über den Wannenrand. Eine der großen Studiokameras fuhr auf sie zu. Auf dem Studiomonitor sah man jetzt ihr Gesicht in Großaufnahme.

»Kein Kommentar zum Liebesleben und Putzen als Yogaübung gegenüber Ausdauer im Bett und Bodybuilding als Brain-Booster«, fasste sie zusammen, »ab jetzt ist Ihre Meinung gefragt, liebe Zuschauer. Wenn Sie der Meinung sind, dass Frauen heute Yoga brauchen, senden Sie eine SMS mit dem Stichwort …«

Auf dem Bildschirm wurde Schrift eingeblendet. Per Textnachricht sollten die Zuschauer entscheiden, wer sich bisher besser geschlagen hatte.

Zu gewinnen gab es auch etwas. Eine komplette Badezimmereinrichtung, eine einzelne Badewanne und ein Waschbeckenset mit Armaturen. Das hätte ich nicht geschenkt haben wollen. Mir reichten schon die Waschbecken in Szenerestaurants, die aussahen wie riesige Salatschüsseln und an deren Hähnen es niemals einen Hebel gab, mit dem man Wasser an- oder abstellen konnte. Zu oft hatte ich schon hilflos winkend an einem dieser Becken gestanden in der Hoffnung, dass meine Hand zufällig eine geheime Lichtschranke traf.

Den Trostpreis hätte ich vielleicht genommen. Ein Wellness-Putzset, bei dem man Aromatherapie mit Küchenreinigung verbinden konnte. So eines, wie Jenny es vorhin neben mich hingestellt hatte. Aber als Studiogast durfte ich sicher nicht mitmachen. Und außerdem war mein Handy ja aus. Und ohne Handy keine Abstimmung.

Danach begann die Werbepause. Es war klar, wer die Nase vorn haben würde.

Dann, auf einmal, änderte sich mein Gefühl. Mein Atem wurde ruhiger. Die Lampen in meinem Kopf gingen wieder an und verbreiteten ein freundliches Licht. Ich klammerte mich noch immer an eine der Titanic-Schiffsbohlen, aber das Wasser um mich herum wurde langsam wärmer. Und schließlich stellte ich verblüfft fest, dass ich wieder festen Boden unter meinen Füßen hatte.

An diesem Tag, am Morgen meines neunundzwanzigsten Geburtstags, in der Badewanne eines großen Sanitärherstellers, wurde mir plötzlich klar, warum Yoga so ein wichtiger Teil meines Lebens geworden war.

Ganz egal, ob der Yogalehrer mich hintergangen hatte, ob ich den Kopfstand nicht konnte und ob die Klamotten vom Namaste-Versand wirklich so besonders dick machten.

Zunächst mal hatte Benita völlig recht. Es gab eine ganze Menge Dinge, die Yoga nicht konnte.

Yoga hatte mein Liebesleben nicht verbessert. Wenn überhaupt, dann hatte Yoga mein Liebesleben in Schutt und Asche gelegt. Ich hatte einen Mann bekommen und wieder verloren und meine beste Freundin noch dazu. Ich hatte durch Yoga keinen Size-Zero-Hintern bekommen und stand auch keineswegs heiter lächelnd über den Dingen. Erst letzte Woche hatte ich ein lebendiges Wesen mit kleinen Blättchen zerstört und dabei geheult wie ein indischer Monsunregen.

Und trotz alldem wollte ich nicht mehr darauf verzichten. Da war nämlich etwas, das ich vorher noch nie erlebt hatte.

Ich war noch nie so glücklich gewesen mit mir selbst.

Mehr als das: Ich war überhaupt zum allerersten Mal im Leben glücklich mit mir selbst.

Denn es hatte diese Momente gegeben in den letzten Wochen und Monaten, die mir völlig neu waren. Momente, in denen ich meinen unsportlichen Körper ein- und wieder ausgerollt hatte und mich danach gefühlt hatte, als wären mit den Nackenschmerzen auch gleich alle anderen Dinge verschwunden, die mich belasteten und bedrückten. Aufgeräumt und angekommen bei mir selbst.

Und was mindestens genauso gut war: Auch andere sah ich jetzt anders. Frau Stöver, die so gern tanzte. Meinen Vater, der an einer neuen Familie alles gutmachen wollte, das er an seiner alten Familie falsch gemacht hatte. Steve, der keine Fremdwörter beherrschte. Aber der dafür wusste, wie man das Wort Liebe buchstabierte.

Und dann war da noch etwas. Manchmal, wenn ich in den kurzen Meditationen das Berufsschulgestrüpp hinter mir gelassen hatte, wenn ich sogar über den Kindheitsbildern von rauchig schmeckenden Kartoffeln in unserem Wochenendhaus geschwebt war, dann hatte ich mich auf eine Weise leicht gefühlt, die ich von früher nicht kannte. Auch wenn alte Yogameister wahrscheinlich nur ein mildmüdes Achselzucken für diesen unbedeutenden Vorort von Samadhi-City übrig hatten, der inneren Welthauptstadt der Erleuchtung. Egal. Mir ging es gut mit mir. Auch wenn die Welt um mich herum sich gerade im Schleudergang drehte und dabei ächzte wie eine altersschwache Waschmaschine. Die ganze letzte Woche hatte mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Und trotzdem stand ich immer noch. Ich hatte nichts dazu getan und dennoch einen Schritt gemacht. Jetzt endlich, ganz ohne Anstrengung, war ich dort, wo Siv auch war. Wo er neulich gewesen war, als Nadine und ich vergeblich versucht hatten, ihn in die Mangel zu nehmen. In sich ruhend im Auge des Sturms. Ich hatte meinen Geist so weit gedehnt, wie ich es noch heute Morgen nicht für möglich gehalten hatte. Das war fast so gut, wie mit durchgestreckten Beinen die Hände auf den Boden zu legen. Das konnte ich nämlich mittlerweile auch.

Doch so etwas war nicht so leicht zu erklären. Jedenfalls nicht so leicht wie die Sache mit den Gewichten im Fitnessstudio, mit Fettverbrennung und Kraft-Ausdauer. Und schon gar nicht in einer Putzsendung.

Während die Werbepause andauerte, kletterte ich aus der Wanne, ließ mich wieder im halben Lotossitz nieder und warf einen zufälligen Blick auf die Aromatherapie-Scheuermilch, die Jenny vor mir aufgebaut hatte. Und da saß er mal wieder, mein alter Freund, der schon in so vielfältiger Gestalt mit mir gesprochen hatte. Der mir Vorträge von Flyern und Autos und Sweatshirts herunter gehalten hatte und der ganz offensichtlich an mich glaubte. Ein kleiner, dicker Mann auf einer Putzmittelflasche mit einem Scheuerlappen in der Hand. Es sah reichlich dämlich aus. Um nicht zu sagen: bescheuert. Aber einem wie Buddha konnte das nichts anhaben. Wer so viel Würde besaß, behielt sie in jeder Situation.

Er sah mich stumm an und sagte nichts. Ich hätte schwören können, dass er ein bisschen belustigt war über meinen überraschenden Moment der Erkenntnis. Was hier passierte, war jenseits der Worte. Ich wusste, dass er wusste. Und er wusste, dass ich wusste.

Wenn das mal kein schönes Geburtstagsgeschenk war.

Om, dachte ich und schloss die Augen.



Es war um fünf Minuten vor Mitternacht, als ich mein Handy wieder anschaltete. Der ICE stand irgendwo auf freier Strecke kurz vor zu Hause, der Himmel draußen war so schwarz wie die Bettwäsche eines fünfzehnjährigen Gruftis. Alles, was ich sehen konnte, war mein eigenes Gesicht, das sich in der Fensterscheibe spiegelte. Es sah weich und offen aus, aber das konnte auch an der trüben Beleuchtung liegen und nicht nur an der Beinaheerleuchtung, die ich heute Morgen erlebt hatte. Jetzt mal nicht übertreiben.

Meine Mutter hatte angerufen und mein Vater. Er war zu Hause und nervös. »Ilona hatte gestern so merkwürdige Bauchkrämpfe«, berichtete er, »wer weiß, nachher haben meine beiden Kinder noch am gleichen Tag Geburtstag!« Die Nachricht war von heute Morgen, und da es die einzige war, nahm ich an, dass Finn – oder Fynn? – sich wieder beruhigt hatte. War auch besser so. Bei aller Großherzigkeit – wenn ich schon mit neunundzwanzig einen Halbbruder bekam, wollte ich nicht auch noch meinen Geburtstag mit ihm teilen.

Meine Mutter war beim Chakren-Tanz in Ostwestfalen. Aber sie hatte dort ferngesehen.

»Meine liebe Evke«, hörte ich ihre Stimme, »ich bin so stolz auf dich. Du warst der einzige Mensch in dieser ganzen Runde, der wirklich bei sich war. Herzlichen Glückwunsch! Und zum Geburtstag auch!«

Ein warmer Schauer überlief mich. So wie früher, wenn ich mit einer guten Klassenarbeit im Schulranzen nach Hause getrabt war. Nur viel, viel besser.

Von Anna und Nadine hatte ich eine gemeinsame Nachricht bekommen. »Hey, Cleaning Woman«, schrieben sie, »schade, dass du nicht hier sein konntest. Lass uns am Wochenende richtig nachfeiern! «

Und dann war da noch ein kleiner Briefumschlag, bei dessen Anblick ich Herzklopfen bekam. Melli mobil.

Vorsichtig öffnete ich die Nachricht, als könnte ich per Tastendruck etwas zerstören, wenn ich nicht genügend aufpasste.

»So wird die Wanne aber nie sauber!«, schrieb sie. Abgeschickt um acht Uhr zwanzig.

Nicht mehr. Nicht weniger. Kein Glückwunsch. Kein Gruß.

Was war das?

Am liebsten hätte ich sie sofort angerufen. Aber abends um zwölf?

Und dann war da noch eine letzte Nachricht. Kein Name angezeigt, nur eine Nummer. Sie kam mir vage bekannt vor.

»Liebe Evke«, stand dort, »ich weiß nicht, wie ich dir danken soll. Ich weiß ja nicht mal, was du getan hast. Aber dass meine Liebste heute bei mir vor der Tür stand und mich gefragt hat, ob wir es noch einmal versuchen, das kann nur auf dein Konto gehen. Alles Gute zum Geburtstag! Steve.«

Wo er recht hatte, hatte er recht.

Am nächsten Tag kaufte ich mir in der Mittagspause mein eigenes Geburtstagsgeschenk. Es war ein schwerer Silberring mit Türkisen, und nachdem ich ihn bezahlt hatte, steckte ich ihn mir mit einer gewissen Feierlichkeit an.

Von heute an, das schwor ich mir, wollte ich mir treu bleiben. Für immer.