KAPALABHATI
Kapalabhati (Schnellatmung) macht wach und hilft zu einem klaren Kopf. Anstelle von Müdigkeit und Niedergeschlagenheit tritt innere Freude und Kraft.
Der Montag begann schon wieder damit, dass Kobolde in meinem Kopf doppelte Rittberger vorführten. Allmählich kamen mir die kleinen Wichte bekannt vor. Das nächste Mal würde ich sie nach ihren Namen fragen und ihnen offiziell das Du anbieten.
Fast musste ich lachen, da tauchte ein Gedanke aus den Tiefen meines Unbewussten auf.
Es war ein schrecklicher Gedanke. Ein furchtbarer. Ein grauenhafter. Ein Gedanke, der mit einem großen C begann.
Irgendwie schaffte ich es, ihn klein zu halten. Ich schaffte es unter der Dusche, ich schaffte es im Bus, ich schaffte es sogar noch auf dem Weg zur Arbeit.
Vor der Tür der chemischen Reinigung lag der Mops der Besitzerin im Hundekörbchen und sah ganz besonders zerknautscht aus. Oder kam mir das nur so vor, weil ich mich so zerknautscht fühlte? Der Leierkastenmann in der Fußgängerzone hatte sich einen Becher Coffee to go auf seinen Leierkasten gestellt und leierte einen Hochzeitsmarsch. Den Hochzeitsmarsch. Daa-da-da-daa, daa-da-da-daa. Als ich durch die Drehtür das Gebäude betrat, war ich schweißgebadet vor Anstrengung.
Auf dem Weg zum Büro begegnete ich Frau Stöver. Im Arm trug sie eine geblümte Thermoskanne, die aussah wie aus einem der grellen Siebziger-Jahre-Kochbücher meiner Mutter. Täuschte ich mich, oder grinste sie mich mit einer Mischung aus Herablassung und Kumpelhaftigkeit an? Hatte sie mich etwa auf der Firmenparty beobachtet?
Ich flüchtete zum Lift.
Wenn ich dort einstieg, vor allem am Montagmorgen, dann wollte ich immer sofort wieder den Erdgeschossknopf drücken und mich auf dem schnellsten Weg zum Arzt machen. Oder besser gleich in die Notaufnahme des Krankenhauses. Wie konnte man nur ausgerechnet in einer Firma, die mit dem Urlaub anderer Leute Geld verdiente, einen derart fahl beleuchteten Aufzug einbauen? Wer in diesem Licht nicht krank oder wenigstens urlaubsreif aussah, hatte entweder nicht richtig hingeschaut. Oder war Germany’s Next Topmodel.
Nach einer Nacht, wie ich sie hinter mir hatte, wäre ich nicht überrascht gewesen, wenn mich beim Aussteigen gleich ein Trupp von Rettungssanitätern empfangen hätte.
Auf der Fahrt nach oben bemühte ich mich, meinem Spiegelbild nicht in die Augen zu schauen. Blieben nur noch die Seitenwände. Die Handzettel mit dem Hinweis auf die Firmenparty waren weg, dafür hing dort ein neuer Zettel, der in einer kugeligen Teenagerschrift bemalt war. »Hilfe!«, stand ganz oben. »Wo ist meine Bärchentasse? Habe sie zuletzt in der Teeküche im 3. Stock gesehen, und jetzt ist sie weg. Hellblaue Teddybären auf dunkelblauem Grund. Bitte meldet euch! Lisa-Marie.« Den Namen kannte ich nicht, es musste eine von den neuen Azubis sein. Jedenfalls nicht die, mit der sich Anna neulich unterhalten hatte. Die trug sogar im Sommer blickdichte Strumpfhosen und hätte sich auch sonst keine Blöße gegeben.
Mein Mitleid hielt sich in Grenzen. Schließlich ging es meinem New-York-Becher zu Hause auch nicht besonders gut. Oder, wie meine norddeutsche Großmutter sagte: Nix is für immer.
Nach und nach leerte sich der Aufzug, und ab Stockwerk sechs war ich ganz allein. »Kundenkontakte« stand in einer sachlichen kleinen Schrift neben dem Knopf mit der Sieben, und mit nicht abwaschbarem Filzstift hatte jemand die Buchstaben MMGZ daneben geschrieben. Meckern, motzen, Geld zurück. Das traf es viel eher.
Ich war bei Sunny Side Reisen zuständig für all die, die sich im Urlaub nicht auf der sonnigen Seite gefühlt hatten. Oder die ihre Reise erst so richtig genießen konnten, wenn sie nachträglich mindestens zwanzig Prozent des Preises zurückbekamen. Das Schönste an meinem Job war der Name: Customer Relations Assistant, leuchtend blau auf teures Papier gedruckt. In meiner Schreibtischschublade warteten drei Päckchen mit jungfräulich verpackten Visitenkarten darauf, dass ich sie endlich loswurde. Aber ich verließ meinen Schreibtisch ja nie. Wem hätte ich schon Visitenkarten geben können außer der Kantinenfrau – oder gewissen Herren auf Firmenpartys?
»Na, auch schon ausgeschlafen?«, bemerkte Berger süffisant, als ich mich meinem Schreibtisch näherte.
Wenn mir nicht zum Heulen zumute gewesen wäre, ich hätte lachen mögen. Zu deutlich stand mir vor Augen, wie mein Chef auf dem Betriebsfest zu tanzen versucht hatte. Zuletzt hatte ich solche Bewegungen im Turnunterricht meiner Grundschule gesehen, da hieß die Übung »Hampelmann«. Doch da weder Lachen noch Weinen die richtige Reaktion auf Bergers Tanzkünste gewesen wäre, schaute ich mit einer Art Kopfnicken an ihm vorbei.
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass er noch immer die gleiche metallicblaue Brille auf seine Resthaare gesetzt hatte wie auf der Firmenparty. Vielleicht hatte Anna ja recht, und er hatte sie mittlerweile implantieren lassen.
»Na denn prost«, murmelte ich, als ich den Stapel mit den Briefen auf meinem Schreibtisch erblickte. Als wären Montage nicht schlimm genug gewesen, kam an diesem Tag auch immer noch besonders viel Beschwerdepost. Denn donnerstags landeten die Flugzeuge aus den wichtigsten Urlaubsgebieten, von den Kanaren, Mallorca und der Costa Brava. Freitags, spätestens am Samstag, landeten dann die wütenden Schreiben mitsamt Beweisfotos im Briefkasten.
Die E-Mails waren da noch gar nicht mitgerechnet.
Samstag. Ich seufzte. Was hier vor mir lag, diese ganze Briefpost, war ausnahmslos geschrieben worden, bevor ich mein Leben ruiniert hatte.
Ich griff wahllos in den Stapel und nahm mir einen Brief vor. Von Maik Hinterhuber aus Bayern. Bei dem Namen wäre ich auch zum Prozesshansel geworden. Ungerechtigkeit von Geburt an.
Ein einziger, geübter Blick langte, um zu erfassen, worum es ging. »… waren gerade auf dem Weg zurück vom Strand«, las ich, »… zweijährige Tochter war ausgesprochen sandig.« Wie? Wollten die jetzt schon Geld zurück, weil Sandstrand an Kinderfüßen klebte? Sollten sie doch Urlaub im Allgäu machen! »… von 14.38 bis einschließlich 15.04 Uhr keine Wasserversorgung …« Ach so. Alles klar. Auf einer Insel ohne eigenes Grundwasser war für fünfundzwanzig Minuten nichts aus dem Hahn gekommen. Da konnte einem ja wirklich die Urlaubslaune vergehen.
Sehr geehrter Herr Hinterhuber, dachte ich, Sie haben einen Hau. Und zwar einen amtlichen. Richten Sie Ihrer Gattin aus, dass man unter Zuhilfenahme eines handelsüblichen Handtuchs trockene Kinderfüße nahezu rückstandslos von Sandresten befreien kann. Sie bekommen von uns keinen müden Cent.
Wie gut, dass es Textbausteine gab.
»Sehr geehrter Herr Hinterhuber«, schrieb ich und drückte die Funktionstaste sechs. »Herzlichen Dank für Ihr Schreiben vom TT.MM. dieses Jahres. Sunny Side Reisen nimmt Reklamationen sehr ernst, denn das ehrliche Feedback unserer Kunden hilft uns bei unserem Bemühen, unsere Leistung immer noch ein bisschen besser an Ihre Wünsche und Bedürfnisse anzupassen. Aus Kulanzgründen und ohne Anerkennung einer Rechtspflicht schicken wir Ihnen anbei einen Scheck über …«
Jetzt musste ich den Brief nur noch ausdrucken. Dabei stellte ich mir vor, wie ich Herrn Hinterhuber mit einer roten Kinderschaufel im Sand eingrub. Nicht nur von Kopf bis Fuß. Sondern all inclusive. Mit besonderem Vergnügen Mund und Nase.
Beeindruckt von meinem eigenen frühmorgendlichen Fleiß lehnte ich mich im Bürostuhl zurück. Bevor ich ganz hinten angekommen war, hörte ich mein Handy, wie es in den Tiefen meiner Handtasche Musik machte. Ich erstarrte.
Und dann kam der Gedanke mit dem großen C so breitbandmäßig in mein Kleinhirn gerauscht, dass ich ihn nicht mehr verdrängen konnte.
Ich hatte es wirklich getan. Gestern Abend, kurz vor Mitternacht. Chris war nicht ans Telefon gegangen. Aber seine Mailbox. Mit der hatte ich dann einen ganz entzückenden Plausch gehabt. Ich hatte ihr gesagt, dass es ein toller Abend gewesen sei. Mehr als das. Dass ich lange nichts mehr so Aufregendes erlebt habe. Dass ich immerzu daran denken würde. Dass ich beim Anblick von Yogapositionen auf unanständige Gedanken käme und was Chris von einem Wochenende in der Toskana hielte. Natürlich mit Sparangebot für Reisebüromitarbeiter, er wüsste schon, das stände alles im Intranet von Sunny Side.
Und das war erst der Anfang gewesen.
Kein Zweifel, ich hatte etwas Schreckliches getan. Gegen alle ungeschriebenen Gebote der Beziehungsanbahnung hatte ich krachend verstoßen.
Und es kam noch schlimmer. Zwei Stunden nachdem ich etwas Schreckliches getan hatte, tat ich nämlich auch noch etwas Fürchterliches.
Mitten in der Nacht war ich aufgewacht und hatte für einen kurzen, wahnwitzigen Augenblick gehofft, dass es nur ein intensiver Tagtraum gewesen war. Dass ich nicht wirklich bei Chris angerufen hatte. Es musste dieser letzte Zipfel Hoffnung gewesen sein, der mich noch einmal zum Telefon greifen und die Wahlwiederholungstaste drücken ließ. Einfach nur um zu sehen, welche Nummer zuletzt eingegeben worden war. So machten sie es doch immer in den Sonntagabendkrimis.
Natürlich hatte ich es diesmal nicht klingeln lassen. Aber erst als ich hektisch die Verbindung beendete, wurde mir klar, was ich da gerade getan hatte. Mit Sicherheit konnte Chris auf seinem Display sehen, dass ich es mitten in der Nacht noch einmal versucht hatte. Dann hielt er mich nicht nur für eine verzweifelte Fast-Dreißigjährige mit mausgrauer Aura, sondern gleich für eine psychopathische Stalkerin. Na, danke schön.
Ich war unter meine Bettdecke gekrochen und hatte gebetet, dass er ein steinaltes Retro-Modell benutzte. Am besten ein Mobiltelefon aus den frühen Neunzigern, das man im Koffer mit sich herumtragen musste. Die hatten doch mit Sicherheit noch keine Nummernerkennung gehabt. Oder?
Dabei wusste ich natürlich selbst, dass dieser fromme Wunsch niemals in Erfüllung gehen konnte. Und jetzt, acht Stunden später, dudelte tatsächlich mein Handy seine Signalmelodie.
Gab es noch eine Möglichkeit, dass Chris mich zurückrief? Und wenn ja: Gab es weiterhin die Möglichkeit, dass das ein gutes Zeichen war? Wenigstens eine statistisch ganz kleine?
Besser, ich hörte nie wieder von ihm. Ein Gespräch konnte nur peinlich sein. Mit sanfter Krankenpflegerstimme würde er mir mitteilen, dass es ihm leidtäte. Dass ich mir unrealistische Hoffnungen gemacht hatte. Ich kannte diese Sätze, ich hatte sie häufig genug gehört. Als hätten Männer in ihrem Kopf ebenfalls diese praktischen Funktionstasten mit Textbausteinen, um angehende Liebesgeschichten mit Würde zu beenden.
Unter Bergers missbilligenden Blicken ließ ich es dudeln, bis die Mailbox ansprang, und warf erst dann einen vorsichtigen Blick auf das Display. Melli mobil.
Das war ja noch mal gut gegangen.
Oder auch nicht. Je nachdem.
Ich streckte meine Arme über dem Kopf aus und ließ die Gelenke knacken. Dann stand ich auf, um mir in der Kaffeebar neben der Kantine ein Double Chocolate Cookie zu besorgen. Bei dem Stress, fand ich, hatte ich das verdient. Beim Liftfahren hörte ich Mellis Nachricht ab. Nichts Neues von Sivananda-Hauke Petersen, dafür ein langatmiger Bericht über Steves neue Zusatzausbildung zum Wärmedämmungsspezialisten. Und ob ich ihr vielleicht heute Abend die große TV-Reisereportage auf DVD aufzeichnen könne, »Spirituelles Indien«?
Meine beste Freundin hatte wenigstens Prioritäten in ihrem Leben.
Am Ende des Tages hatte ich alle aktuellen und ein paar verstaubte Beschwerdebriefe beantwortet, zwei Chocolate Cookies gegessen und online auf ein Paar Inline-Skates geboten. Bei 50,50 Euro war ich ausgestiegen. Maßlos war ich in den letzten vierundzwanzig Stunden schon genug gewesen.
Auf der Ebay-Startseite wurden Yogamatten und Gefäße inklusive Räucherstäbchen in fünf verschiedenen Duftnoten und eine Meditations-CD mit Planetentönen verscherbelt.
Die hätte ich gern gehabt, weil ich mir einfach nicht vorstellen konnte, was für Laute die Planeten so von sich gaben.
Chris hatte jedenfalls nicht angerufen. Und nicht gemailt. Und keine SMS geschickt.
Gott sei Dank. Verdammte Axt.