SARVANGASANA

Der Schulterstand (Sarvangasana) führt zu körperlicher, seelischer und geistiger Ganzheit. Wie alle Umkehrstellungen gibt er eine neue Perspektive auf das Leben und hilft, Unabänderliches zu akzeptieren.

/epubstore/H/J-Hagedorn/Mantramanner/OEBPS/e9783641058159_i0006.jpg

/epubstore/H/J-Hagedorn/Mantramanner/OEBPS/e9783641058159_i0007.jpgAm Morgen nach Mellis Party öffnete ich gegen halb zwölf die Augen und bereute es sofort. Es gab nichts zu sehen. Wenigstens nichts Interessantes. Ich wankte ins Wohnzimmer. Auch nicht besser. Der Ficus auf der Fensterbank ließ melancholisch ein Blatt fallen. Unter einem Schwarz-weiß-Poster vom Empire State Building stand das blaugeblümte Stoffsofa und sah unglücklich aus. Manchmal fragte ich mich, wann es seine Sachen packen und mich verlassen würde. Es hätte allen Grund gehabt, denn ich war nicht nett zu ihm. Ich glaube, wirklich gesessen hatten auf ihm zuletzt Melli und Nadine, nachdem sie mir beim Umzug geholfen hatten. Damals war Gerhard Schröder noch Bundeskanzler gewesen. Seitdem hatten die blauen Blumen kein Tageslicht mehr gesehen, sondern nur noch Gerümpel von unten. Beihefter aus Fernsehzeitschriften, T-Shirts, die für den Wäschekorb zu sauber und für den Schrank zu schmutzig waren, drei italienische Visitenkarten und ein Laptopkabel.

Ich fegte die Stapel beiseite, ließ mich auf das Sofa fallen und machte die Augen wieder zu. Das war auch keine gute Idee. Eine Horde ungepflegter Kobolde tanzte Pirouetten zwischen Hirnrinde und Mandelkern. Oder wo man in einem verkaterten Kopf eben so tanzen konnte.

Musik. Mit Musik konnte es nur besser werden. Ich öffnete die Augen halb, das schien mir ein guter Kompromiss. Dann drückte ich probehalber auf einen Knopf der Fernbedienung. Nichts passierte. Nach einer gefühlten halben Stunde kam ich schließlich auf die Idee, die Fernbedienung einfach umzudrehen. Brav sprang das Radio an. Ging doch. »Julia said«, schmalzte es aus den Boxen, und ich setzte mich vorsichtig auf. Nicht dass es mich besonders interessierte, was Julia zu sagen hatte. Aber gemein war’s, dass solchen Frauen Lieder gewidmet wurden, und alles nur wegen ihrer Namen. Julia. Angie. Sogar Mandy. Die Glücklichen. Mir würde schon allein deshalb keiner einen Song schreiben, weil mein Name sich nicht gut sang. Und sich nichts auf Evke reimte.

Das Sitzen klappte schon mal ganz gut. Dann konnte ich ja vielleicht doch ganz aufstehen. Ich ignorierte das hämische Gelächter der Kopfkobolde und hievte meine Beine über die Sofakante, eines nach dem anderen und sehr vorsichtig, als handelte es sich um Pakete mit zerbrechlichem Inhalt. Dann schlappte ich zur Kochnische.

Wenn das Sofa schon deprimiert war, dann war die Kaffeetasse neben der Spüle ein ausgewachsener Selbstmordkandidat. Melli hatte sie mir mal aus den USA mitgebracht, »I love New York«, mit einem großen roten Herzen zwischen »I« und »New York«. Leider war das Herz weniger spülmaschinenfest als der Rest der Schrift und deswegen unlängst verblichen. Seitdem wusch ich die Tasse mit der Hand. Als ob das noch etwas genützt hätte. Was für ein trostloser Tag. Und wenn ich an den Abend dachte, wurde meine Laune auch nicht besser. Im Gegenteil.

Der gestrige Abend war schon verschwendete Zeit gewesen, und ausgerechnet heute, am Samstag, fand auch noch die alljährliche Sunny-Side-Party in der Kantine unserer Firmenzentrale statt. Ich würde mir stundenlang die sambatanzende Trulla aus der Lohnbuchhaltung anschauen müssen und meinen Chef, der sich unheimlich wild und verboten fühlte, weil er sich eine Sonnenbrille ins Haar geschoben hatte. Anna behauptete, die Sonnenbrille wäre ein Implantat, aber ich wusste es besser. Ich hatte ihn auch schon ohne gesehen, wenn auch nicht oft. Der Abend würde ein Trauerspiel werden, in mindestens fünf Akten und selbstverständlich unbezahlt. Na denn prost!

Ich verbrachte den ganzen Tag damit, zwischen Dauerwerbesendungen im Fernsehen hin- und herzuzappen und keine Lust auf den Abend zu haben. Eine erstaunlich zeitraubende Kombination. Irgendwann landete ich aus Versehen auf einem öffentlich-rechtlichen Kanal und erblickte den Countdown zur Tagesschau. Als ich eine halbe Stunde später den Bus bestieg, fühlte ich mich, als sei ich auf dem Weg zum Nachsitzen.

Wer fuhr schon freiwillig am Samstagabend ins Büro? Millionenschwere Investmentbanker vielleicht. Bei meinem Kontostand war das Ganze eine Zumutung. Allein deshalb, weil wegen der allgemeinen Sparwut das Catering mit jedem Jahr schlechter geworden war. Früher hatten Anna und ich unseren Unmut wenigstens mit einem Thai-Büfett besänftigen können. Letztes Jahr hatte es nur noch Würstchen, Kartoffel- und Krautsalat mit Speckwürfelchen gegeben. Was wohl diesmal übrig bleiben würde? Wahrscheinlich nur noch der Krautsalat. Ohne Speckwürfelchen.

Ich bummelte durch die ausgestorbene Fußgängerzone und hielt bei jedem Schaufenster an. An der nächsten Ecke erwartete mich das vertraute Gegröle der Einkaufszentrumpunks, die auf einem Mäuerchen saßen und ihr Feierabendbier tranken. Samstag war ihr wöchentlicher Hauptsaisontag beim Schnorren, weil dann besonders viele von diesen verschreckten Vorort-Muttchen in ihren beigen Jacken unterwegs waren. Die trauten sich einfach nicht, Nein zu sagen. Für die Punks gab es dann abends eine Party, und die letzte Dose opferten sie gemeinsam dem Haarstyling der nächsten Woche.

Der Leierkastenmann, der sonst vor dem Einkaufszentrum stand, hatte Gott sei Dank schon Feierabend gemacht. Letzten Sommer hatte er mich mit seinem weithin hörbaren Gedudel so weit gebracht, dass ich nachts von Lili Marleen träumte. Es waren keine angenehmen Träume gewesen.

Als ich das Bürogebäude betrat, roch es verdächtig nach Jugendherbergsküche. Und damit nicht genug, drängelte sich auch noch Ilona Patricia Seitermann, genannt IPS, direkt hinter mir in die Drehtür.

IPS war unsere Pressesprecherin. Außerdem war sie schwanger. Auf ihrer Visitenkarte stand nur das Erste, doch je mehr sie an Umfang zulegte, umso mehr hatte sich ihr Tätigkeitsprofil verschoben. Mittlerweile war das Mutterwerden zum Vollzeitjob geworden. Am liebsten hätte ich ein Schild an ihrem Büro aufgehängt: Bitte nicht stören, hier wird gebrütet!

Solange nun wirklich noch nichts zu sehen gewesen war, hatte sie mit »Baby Inside!«-Shirts für die notwendige Information gesorgt – war ja ihr Job, Dinge kurz und knapp auf den Punkt zu bringen. Später sprach sie bei geöffneter Tür so lautstark mit ihrer Assistentin über ihre jeweiligen Ultraschalluntersuchungen, dass ich mich nicht gewundert hätte, wenn sie irgendwann offizielle Pressemitteilungen in eigener Sache herausgegeben hätte: »Enorme Wachstumsraten bei Sunny Side: Jetzt schon zweiundzwanzig Zentimeter«, irgendwo zwischen Mandelblüte auf Mallorca und All-inclusive in Alma-Ata.

IPS musste so etwa im fünften oder sechsten Monat sein, die Kantinenfrauen standen allerdings schon jetzt kurz vor der nervenbedingten Frühpensionierung. Die mussten nämlich jeden Mittag in die Küche traben, um eine lange Liste von Fragen zu recherchieren: Rohmilch? Irgendwas Geräuchertes? Innereien an Bord? Babynahrung war eine Wissenschaft für sich, und das scheinbar schon weit vor der Geburt. Die Kantinenfrauen sehnten sich mindestens so sehr nach der baldigen Elternzeit wie IPS selbst.

»Du bist doch nur neidisch«, hatte Anna haarscharf analysiert, als ich mich neulich auf ein gepflegtes Lästerstündchen in der Teeküche mit ihr zurückziehen wollte.

Hatte ich natürlich abgestritten. Aber insgeheim fürchtete ich: Da war was dran.

Beim Heraustreten aus der Drehtür nickte mir IPS huldvoll zu, dann schritt sie vor mir an die Garderobe im Foyer und öffnete ihren weit schwingenden Mantel. Dabei drehte sie sich halb zu mir herum. »Königin Mutter« prangte in Glitzerbuchstaben quer über ihrem Busen. Einen Moment lang blickte sie mich an, so als wollte sie noch dringend etwas loswerden. Doch ich hatte keinen Bedarf an neuen Details aus dem Bauchraum. Rasch streckte auch ich der griesgrämigen Grauhaarigen hinter der Theke meine Jacke entgegen und wandte mich eilig ab, weil ich gerade Anna gesehen hatte.

Mit einer Freundin an meiner Seite würde ich die ein, zwei Alibistunden hier schon überstehen. Meinetwegen sogar, wenn ich dabei über Yoga reden musste. Oder zuschauen, wie sie networkte. Besser als mit meinem Chef über SUVs plaudern. Oder nicht jugendfreie Websites.

»He, Sie, Frollein!« Ich drehte mich noch einmal um. Die Garderobenfrau wedelte mit einem kleinen, blauen Papier. »Frollein, Ihr Märkchen!«

Das hatte ich doch glatt vergessen. Ich versuchte, mich noch einmal zu ihr durchzudrängeln, was aber gar nicht so einfach war. Denn gerade stürzten sich so viele Leute mit Mänteln über dem Arm auf die Frau, als wäre gerade ein voller Sunny-Side-Reisebus angekommen.

»Entschuldigung«, sagte ich zu dem Rücken mit dem blonden Lockenkopf obendrauf, der sich gerade zwischen mir und der Garderobe aufbaute, »können Sie mir mal eben das Zettelchen da geben?«

Er drehte sich um, und ich erschrak zutiefst.

Ich hätte in dieser Situation jeden angesprochen. Im Notfall wäre ich nicht mal vor Frau Stöver aus der Lohnbuchhaltung zurückgeschreckt, mit der mich seit meiner Lehrzeit eine erbitterte Feindschaft verband. The Dark Side of Sunny Side.

Aber dass sich ausgerechnet ein Mann zu mir umdrehen würde, der genau so aussah, wie ich mir schon immer den Vater meiner Kinder vorgestellt hatte, das war nun wieder ein bisschen viel des Guten.

Anzugträger mit frechem Jungsgesicht – diese Kombination setzte mich grundsätzlich schachmatt. Und selten hatte ich sie in so gelungener Form an einem lebendigen Menschen gesehen. Wo kam der denn her? Warum hatte ich den mittags noch nie in der Kantine gesehen? Hatte er eine Essstörung? Oder versteckte Sunny Side solche Prachtexemplare in einer der Filialen am Stadtrand, um die Frauen in der Zentrale nicht vom Arbeiten abzuhalten?

Er sah mich einen Augenblick lang an, als hätte er meine Frage nicht verstanden. Oder als ob ihm gefiel, was er sah. Oder beides.

»Du«, sagte er dann mit sanfter Stimme, »ich find’s total gut, dass du das hier so offen und ehrlich ansprichst.«

Hilfe, wie war der denn drauf? Redete wie der Leiter einer Volkshochschulselbsthilfegruppe! War das vielleicht einer von den neuen Reiseleitern? Bekamen die in ihren Kommunikationsschulungen jetzt so etwas beigebracht? Dann bemerkte ich den Schalk in seinen Augen und verstand. Das war so etwas wie ein gelungener Aufschlag beim Tennis, der Auftakt für ein Spiel. Das konnte er haben.

»Ja«, gab ich zurück, »das hab ich beim angstfreien Töpfern gelernt. In der Toskana.«

»Ich glaube«, grinste er und reichte mir das blaue Zettelchen, »du und ich, wir haben uns viel zu geben. Übrigens, ich bin Chris.«

Ich starrte auf seine Hände. Und hatte sofort unanständige Gedanken.



Unversehens war aus dem Pflichttermin die spannendste Begegnung seit Monaten geworden. Und so ging es den ganzen Abend weiter. Wir wechselten warme Worte wie zwei Sozialpädagogen in der therapeutischen Zusatzausbildung, während unsere Hände und unsere Augen allmählich eine vollkommen andere Sprache benutzten. Irgendwann hatte ich Chris’ Hand zwischen meinen Schulterblättern, sein Glas an meinen Lippen.

Mehrmals sah ich von fern Anna, mal mit einer Kollegin aus der Marketingabteilung, mal mit dem neuen Bereichsleiter, einmal sogar mit Berger. Die hatte ihr Coaching wirklich verinnerlicht: Sei nicht wählerisch bei deinen Kontakten, man sieht sich immer zwei Mal. Als ich nach der Ansprache vom Chef zu ihr hinüberging, hing gerade eine Azubine im zweiten Lehrjahr an ihr dran. Wahrscheinlich hatte die auch ein Coaching bekommen und sah ihrerseits in Anna ein Ticket nach oben. Aber wenigstens musste ich in dieser Gesellschaft nicht so aufpassen, was ich sagte.

»›Wir haben im letzten Geschäftsjahr vierzigtausend Paxe generiert‹«, ahmte ich unseren obersten Boss nach, »was ist das bloß immer für eine affige Ausdrucksweise? Wieso kann der nicht sagen, dass vierzigtausend Leute mit uns verreist sind? Und die allermeisten auch ganz zufrieden?«

»Gott sei Dank nicht alle!«, kicherte Anna. »Sonst wärst du bald deinen Job los!«

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Chris wieder in meine Richtung steuerte.

»Psst«, ich wedelte mit der rechten Hand, als müsste ich mit einem Windhauch einen Buschbrand löschen, »der Typ da muss ja nicht unbedingt gleich erfahren, was genau ich mache.«

»Was ist denn das für ein Typ?«, fragte Anna interessiert. »Etwa genau dein Typ?«

Ich wedelte noch hektischer, denn obwohl eine Band die Kantine mit lautem und ziemlich schlechtem Karibik-Reggae beschallte, war Chris jetzt auf Hörweite herangekommen.

»NFTC«, zischte Anna aus dem Mundwinkel, und ich hoffte, dass es dunkel genug war, damit sie nicht sah, dass ich rot anlief wie ein Teenager. Never fuck the company? Selbst für die eisernste Regel musste es doch wohl eine Ausnahme geben. Davon hatte Annas Coach natürlich wieder nichts gesagt. Prüde Bande.

Man musste es ja nicht gleich bis zum Wort mit f kommen lassen. Wenigstens nicht heute.

»Mein Freund und ich suchen ja auch gerade«, nahm die Azubine den Gesprächsfaden mit Anna wieder auf, »aber das ist gar nicht so einfach mit einer gemeinsamen Wohnung. Vor allem wegen der Anschlüsse für die Anlage.«

»Oh, davon kann ich ein Lied singen.« Anna hob ihr Glas zum Anstoßen.

Ich trat versuchsweise einen Schritt zur Seite und lauschte, was am Stehtisch nebenan gesprochen wurde. Irgendwelche Kollegen aus dem Charter-Einkauf, die ich nicht kannte. Vielleicht konnte ich mich anschließen. Chris sollte bloß nicht denken, dass ich herumstand und auf ihn wartete! Lieber tat ich so, als hätte ich ihn gar nicht bemerkt.

Ich ging noch einen weiteren Schritt auf das Männergrüppchen zu. Das Thema kam mir bekannt vor.

Es ging jedenfalls nicht um Pärchenumzüge.

»Energieaustausch!«, kicherte gerade einer von ihnen. »Wenn ich das schon höre! Wenn ich mit einer Frau ins Bett gehe, geht’s doch nicht um Physik! Höchstens um Chemie!«

Sie fühlten sich unbelauscht und sprachen über Frauen. Und Sex. Das konnte ganz interessant werden. In sicherem Abstand blieb ich stehen.

Auch der zweite grinste. »Tja, Sportsfreund«, sagte er und legte dem dritten die Hand auf die Schulter, »so ist das eben, wenn man mit diesen Yogafrauen ausgeht.«

Sex und Yoga. Es wurde immer besser.

Der dritte entwand sich dem Griff und blickte trotzig auf seinen halb leeren Teller mit Krautsalat. »Fall du mir nur auch noch in den Rücken«, maulte er, »du hast doch selbst gesagt, dass du es mit Yoga versuchen würdest, wenn du eine neue Freundin suchst. Große Auswahl von überdurchschnittlich schönen, überdurchschnittlich intelligenten Frauen. Korrigiere mich, wenn ich mich irre.«

»Schön und intelligent schon. Aber ich habe nie behauptet, dass sie auch unkompliziert sind.«

»Na super. Wenn du einen Tipp für mich hast, gib mir bitte künftig auch das Kleingedruckte zu lesen.«

»Yogafrauen wollen sowieso keinen Sex«, rief der erste so laut, dass die Leute am Nebentisch die Köpfe verdrehten. Dass er Publikum hatte, schien den Mann nur zu ermutigen.

»Wisst ihr nämlich, was die wollen? Die wollen immer nur das eine.« Er machte eine Kunstpause. »Atmen, atmen, atmen.«

Jetzt lachten alle drei, und ich grinste in mein Glas. Lieber atmen als Sex. Wenn das Nadine wüsste!

»Was gibt es denn da wohl zu grinsen?«

Wie aufs Stichwort baute sich Chris vor mir auf. Das passte mir bestens, denn gerade hatte ich entschieden, dass es genug war mit den Versteckspielchen.

»Hello again«, sagte ich.

Wir setzten uns möglichst weit weg von der Reggae-Band und redeten weiter. Jetzt nicht mehr übers angstfreie Töpfern. Sondern über matschigen Salat im Flugzeug, heiße Kaffeebecher und Dauerwerbesendungen.

Es wurde ja leicht ein bisschen peinlich, wenn zwei Menschen sich unterhielten, die schon ziemlich sicher waren, wie der Abend enden würde, und dabei so taten, als sei noch alles offen. Aber nicht mit Chris. Mit dem war gar nichts peinlich.

Ich kam gar nicht in die Verlegenheit, etwas Falsches zu sagen oder an den passenden Stellen schweigen zu müssen. Denn Chris sagte ziemlich viel und immer das Richtige. Vor allem hatte ich lange mit niemandem mehr so gelacht. Nicht mal mit Melli. Und mit einem Mann? Frag nicht nach Sonnenschein!

Und dann ging irgendwann alles sehr schnell. »Hast du nicht zufällig eine Sammlung sehr, sehr seltener alter Sunny-Side-Kataloge zu Hause, die du mir schon immer zeigen wolltest?«, fragte mich Chris, als die Band zu einer neuen Runde ansetzte. Einen kurzen Moment zögerte ich, denn gerade wurde es unterhaltsam. Frau Stöver aus der Lohnbuchhaltung hatte ihre Arme gehoben und klatschte verzückt, ihr schwerer Körper schwappte mit kurzer Verzögerung hinterher.

»Kataloge, ja … die sind aber so alt, dass sie noch in Stein geritzt sind«, gab ich zurück, »auf zehn Tafeln. Wenn du sie unbedingt vom Dachboden schleppen willst …«



Wollte er natürlich nicht.

Und ich auch nicht.

Lieber ins Auto (Kein peinlicher Geländewagen! Zehn Pluspunkte!), einmal durch die Stadt, Parkplatz gesucht, Glück gehabt, rein in die Wohnung, rauf aufs Sofa.

Wieder mal die halb sauberen T-Shirts heruntergefegt und die Visitenkarten und die alten Zeitschriften und das Laptopkabel und den Brief von der Bank mit der neuen PIN für meine Kreditkarte (Ach, hier war der also!).

Und Hände und Knöpfe und ganz viel schneller Atem und süße Suppe im Kopf und in den Mündern und … hach!

Während ich so halb unter Chris lag, kam mir plötzlich wieder dieser verbotene Gedanke. Ich wunderte mich. So früh war der ja noch nie da gewesen! Diese leicht verschwitzten Kringellöckchen in Chris’ Nacken waren schuld. Ich konnte mir plötzlich so gut vorstellen, wie er als Baby ausgesehen hatte. Ich hätte nicht mal etwas dagegen gehabt, wenn unser gemeinsames Kind haargenau so geboren worden wäre. Ohne eine einzige Zutat von mir.

»Ist was?«, fragte er und ließ seine Finger meinen Nacken hinunter gleiten, bis dort, wo der Reißverschluss meines Kleides begann.

Ich schaffte es. Ich schaffte es tatsächlich.

Ich blieb brav und hielt meinen Mund.



In dieser Nacht machte ich alles richtig. Ich lächelte, statt an den falschen Stellen zu reden, ich hatte zufällig Unterwäsche an, die nirgends einschnitt und keine roten Striemen hinterließ, und ich war hemmungslos. Aber eben nicht zu sehr. Ein kleines bisschen fehlte schon noch.

Schwer atmend lag Chris schließlich neben mir, einen Arm um mich, einen auf seiner eigenen Stirn. Großartige Arme waren das, mit tollen Händen. Sehnig, gerade richtig behaart. Schon als er mir vorhin mein Garderobenzettelchen gegeben hatte, hatten sie fantastisch ausgesehen, später auf dem Lenkrad seines Autos hatten sie großartig ausgesehen. Und ich fand, auf meinem Körper machten sie sich auch gut. Die Hände waren gut, Chris roch gut, Chris küsste gut.

Alles war gut.

In der Nacht war es gut, und auch noch am nächsten Morgen, als ich ihn Brötchen holen schickte und er mit einem großen Latte macchiato to go für mich zurückkam. Ein Mann, der freiwillig in einer Kaffeebar die Worte Latte macchiato aussprach, obwohl die Frau ihn nicht einmal darum gebeten hatte – also, ein solcher Mann konnte ja wohl nicht ganz ohne Gefühle für die Frau sein.

Denn wie das manchmal so war mit Dingen, die jeder mochte, wurden sie plötzlich das Gegenteil von schick. Ich traute mich ja selbst kaum noch, mein Lieblingsgetränk zu bestellen. Latte macchiato, das klang nach Fußballergattin mit wagenradgroßer Sonnenbrille und dem IQ eines kleinwüchsigen Eichhörnchens. Fast schon so schlimm wie Prosecco. Dabei war das Zeug so lecker! Und jetzt hatte dieser Prachtkerl mir einfach einen Riesenbecher mitgebracht! Nicht etwa so eine esoterische Chai Kardamom Latte, sondern ein wolkiges Espresso-Heißgetränk, wie ich es liebte. Danach aßen wir Schokostreusel auf Butterbrötchen. Wie zwei sehr ausgelassene Kinder in zwei sehr erwachsenen Körpern.

Mann, war ich glücklich.

Sogar das Sofa sah glücklich aus. Kein Wunder, es hatte ja auch was Schönes erlebt.

Blöd nur, dass Chris irgendwann am Nachmittag ging. Das dürfte kein Mann tun: eine Frau mit ihren Gedanken einfach allein lassen. Mit diesen frischen Erinnerungen, den ausgegangenen Haaren auf dem Sofa, dem Geruch in den Kissen. Als wüssten sie nicht, dass wir dann geistig Amok laufen. Schon anfangen, das Telefon anzustarren, wenn gerade erst die Tür ins Schloss fällt.

Um neun Uhr abends pickte ich gedankenverloren einen Schokostreusel von der Arbeitsplatte auf und gönnte mir ein winziges Glas Weißwein. Danach rief ich meine Mutter an. Ich dachte, sie könnte mich vielleicht etwas ablenken.

»Gerade komme ich zur Tür rein«, keuchte sie in den Hörer, »ich war doch bei diesem Seminar. In Ostwestfalen.«

Das war nichts Besonderes. Seit der Scheidung kam sie an jedem Sonntag von einem Seminar zurück. Kristalle, Handauflegen, die Innere Göttin entdecken. Diesmal hatte sie den Grundkurs Aura-Lesen besucht.

»Es geht nicht nur darum, die Aura anderer Menschen zu entziffern«, dozierte sie in mein Ohr, »es geht auch darum, die eigene zu verändern. Wusstest du übrigens, welche Farbe meine Aura hat?«

»So ein schlammiges Grüngrau?«, riet ich.

»Lindgrün.« Die Stimme meiner Mutter hätte einen Vulkan schockgefrieren können. Während wir telefonierten, betrachtete ich mich im Flurspiegel und versuchte, meine eigene Aura zu erkennen. Sie fühlte sich schamrot an. Aus verschiedenen Gründen.

»Ich muss dann mal«, verabschiedete ich mich nach einer Weile, »ich erwarte noch einen Anruf.«

Das war die reine Wahrheit. Nur leider kam der Anruf nicht. Nicht um halb zehn, nicht um halb elf. Und dann würde er wohl auch nicht mehr kommen.

Gegen elf hatte ich mein winziges Weinglas ein paar winzige Male nachgefüllt, zog auf dem Balkon an einer vereinsamten Zigarette, die ich auf dem Boden meiner Handtasche gefunden hatte, und aschte in einen Kronkorken, der noch von der letzten Party übrig geblieben sein musste. Ich rauchte nicht oft, aber es gab Momente, in denen passte der Geschmack einfach perfekt zum Leben. Genauso intensiv und genauso gesundheitsschädlich. Im Haus gegenüber brannte Licht hinter einem einzelnen Fenster, und ich konnte schemenhaft erkennen, wie ein Mann und eine Frau in der Küche saßen.

Plötzlich musste ich daran denken, was Melli einmal über ihren Freund gesagt hatte. Dass es zu den schönsten Momenten gehörte, wenn sie nach einem langen Tag abends auf dem Weg nach Hause war und schon von Weitem das erleuchtete Fenster im Hochparterre sah. Dass dieses Fenster sie willkommen hieß, dass es so etwas war wie ein freundliches Auge in der Nacht, mit einem Menschen dahinter, der sie liebte.

Da hatte ich zum ersten Mal verstehen können, was sie an Steve fand. Obwohl Melli doch eigentlich viel zu schade war für einen Mann, der aufblasbare Nackenkissen für ein romantisches Geburtstagsgeschenk hielt und seit vier Jahren jedes Mal die gleiche Pizza beim Bringdienst bestellte.

Zu allem Überfluss auch noch die mit Hackfleisch und extra Zwiebeln.

Also gut. Bei meiner Abneigung gegen Steve mochte es auch eine Rolle spielen, dass er mich für eine übergeschnappte Intellektuelle hielt. Nur weil ich in seiner Gegenwart mal das Wort Fauxpas verwendet hatte. »Foh Pah?«, hatte er gefragt. »Um dich zu verstehen, braucht man ja ein Lexikon.«

Zu seinem nächsten Geburtstag hatte ich ihm einen Volks-Brock-haus geschenkt. Das hatte nicht geholfen.

Egal. Wahrscheinlich hatte er Qualitäten, von denen ich nichts ahnte. Melli musste schließlich wissen, was sie tat.

Ich dachte noch eine Weile über Melli und Steve nach und war plötzlich ein bisschen neidisch.

Danach trank ich noch ein Glas.

Und noch eins, weil der Rest in der Flasche mir fast so leidtat wie mein blaues Sofa, das jetzt nackig im Wohnzimmer stand und schon viel weniger glücklich aussah als noch vor ein paar Stunden.

Und dann tat ich es. Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Ich zog die Visitenkarte aus der Brieftasche. Chris Müller-Nolten, Sunny Side Reisen, Abteilung Großkunden und Firmendienst, Außenstelle. Darunter die Adresse seiner Filiale. Büroanschluss, E-Mail, mobil.

Ich griff nach meinem Telefon und rief ihn an.