DHANURASANA
Der Bogen (Dhanurasana) ist eine Stellung der Erhabenheit, die den menschlichen Geist mit einem feierlichen Leuchten erfüllt.
In der ersten Stunde auf der Autobahn fühlte sich alles ganz normal an. Bis zum ersten Beschleunigungsstreifen waren die Gummibärchen aufgegessen, bis zum ersten Parkplatz mit WC sämtliche abwesenden Männer durchgehechelt, und bis zum dritten Autobahnkreuz hatten wir vier Pinkelpausen eingelegt.
Der Punkt mit den Männern war diesmal auffällig kurz ausgefallen. Bei Anna gab es nichts Neues, bei Melli schon gleich gar nicht, und ich hatte mein jüngstes Debakel ausführlich genug dargelegt. Nadine machte nicht mit, weil sie dann ihren konstanten Funkverkehr hätte unterbrechen müssen. Ihr Handy fiepte aufgeregt wie ein Meerschweinchen beim Anblick einer Königskobra, anscheinend mussten sie und ein gewisser Scotty bestimmte Aspekte ihrer jüngsten Beziehung noch einmal in Schriftform aufarbeiten.
Ich nahm an, dass es sich nicht um seelisch-geistige Aspekte handelte. Jedenfalls weigerte sie sich, die SMS vorzulesen.
»Du weißt aber schon, dass im Ashram Handyverbot ist«, bemerkte Melli irgendwann spitz, und Nadine kicherte, »ja, Sweetie, ich weiß, deshalb muss ich ja auch vorarbeiten.«
Mein eigenes Handy tat mir leid, mit seiner leeren Eingangsbox. Wie machte Nadine das bloß? Woher nahm sie ihre Leichtigkeit? Ihr wäre so etwas wie mir mit Chris nie passiert. Vielleicht war ich auch einfach nicht geschaffen für ein Leben mit moderner Kommunikationstechnik. Die machte das Warten ja auch schier unmöglich. Ich versuchte, mir Chris und mich in einem Fünfzigerjahre-Film vorzustellen. Ich mit neckisch geblümter Schürze, er mit Pomade im Haar. Wir wären verlobt, und Chris würde mich samstags in seinem Isetta Kabinenroller abholen und zum Tanztee im Stadtparkpavillon oder in die Milchbar einladen. Danach Händchenhalten im Kino, bei der Spätvorstellung von »Schwarzwaldmädel«. Oh, Sünde.
»Wie hast du bloß dieses Yogawochenende in der Heide überlebt, von dem du auf Mellis Geburtstag erzählt hast?«, fragte ich Nadine. »Oder durfte man dort sein Telefon mitnehmen?«
»Och, da ging es nicht so streng zu wie in diesem Ding, wo wir jetzt hinfahren. Das war eher Wellness, mit Loungemusik und Vitamincocktails. Ich glaube, dagegen ist Werderhorst das reinste Kloster.«
Vielleicht lag es an dem Wort Kloster, vielleicht an dem Wort Verbot, aber auf jeden Fall begann die Atmosphäre im Auto danach, sich langsam, aber stetig zu verändern. Wahrscheinlich lag es an meiner yogisch gesteigerten Sensibilität, aber irgendetwas passierte mit der Energie. Und das war nichts Gutes. Im Gegenteil: Die Luft im Auto schmeckte auf einmal ziemlich ta-, na, dingenskirchen, wie hatte Melli das genannt? Genau: tamas.
Melli tat mir ein bisschen leid. Schließlich war sie es gewesen, die uns alle miteinander überredet hatte. Sie gab sich jedenfalls große Mühe, das genervte Schweigen zu durchbrechen. Eine Hand hatte sie lässig aufs Steuer gelegt, fummelte an ihrer Sonnenbrille herum und pfiff mit, während der Radiosender das Beste der Achtziger-, Neunziger- und Nullerjahre spielte. Dennoch wurden Nadine, Anna und ich von Parkplatz zu Parkplatz schweigsamer.
Ich musste an die Fahrt ins Ferienlager denken, vor mehr als zwanzig Jahren. Da waren es Melli und ich gewesen, die Angst gehabt hatten. Die anderen Drittklässler, die im Jahr davor dran gewesen waren, hatten eine Menge Schauergeschichten erzählt. Geschichten, die von mikroskopisch dünnen Pflaumenmusschichten auf trockenen Broten und von nächtlichen Attacken mit einem grünen Glibber aus dem Scherzartikelladen gehandelt hatten. Erst hinterher hatten wir erfahren, dass sie uns die schlimmste Grausamkeit verschwiegen hatten.
Zwei Wochen Läuseshampoo nach der Rückkehr.
Während draußen die Autobahn von dreispurig auf zweispurig wechselte, Windräder und Wiesen mit einsamen, schwarz-weißen Kühen vor dem Fenster vorbeiflogen und Ortsnamen auf den Ausfahrtsschildern, die man nicht einmal mehr aus dem Verkehrsfunk kannte, hing jede von uns ihren eigenen Gedanken nach. Und ich hätte wetten können, dass sie allesamt um das Kleingedruckte kreisten, das in der Bestätigungs-E-Mail für das Wochenende gestanden hatte. Im Geist ging ich die lästige Liste noch einmal durch.
Erstens: Sämtliche mitgebrachten Kosmetikprodukte mussten biologisch abbaubar sein.
Da war ich noch ganz zuversichtlich. Einem Duschgel mit Namen »Meditation« konnten sie ja kaum den Zutritt zum Haus verweigern.
Im ganzen Haus herrschte Fleisch-, Tabak- und Alkoholverbot.
Grummel.
Im ganzen Haus herrschte Tee- und Kaffeeverbot.
Doppel-Grummel.
Von dreiundzwanzig Uhr bis neun Uhr morgens sollte nur in dringenden Fällen gesprochen werden.
Was mir ohne Kaffee vermutlich am wenigsten schwerfallen würde.
Die erste Mahlzeit gab es morgens um elf.
Magen-Grummel.
Die erste Yogastunde morgens um sieben.
Hmpf. Ich hätte behaupten können, dass ich sonst am Wochenende um diese Zeit überhaupt erst nach Hause kam, aber das war auch gelogen. Ich war ja schließlich keine zwanzig mehr. Dafür konnte ich selbst an normalen Arbeitstagen bis acht Uhr schlafen. Und das war die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
Schließlich die Krönung: Jeder Gast war zu einer Stunde Karma Yoga im Lauf des Wochenendes angehalten.
Darunter hatte ich mir nun gar nichts vorstellen können, aber es klang sehr sympathisch. Entspannt rumliegen und dabei Punkte für das nächste Leben sammeln. Erst gestern Abend hatte Melli mich am Telefon aufgeklärt. Ob die anderen beiden schon Bescheid wussten, hatte ich nicht gefragt.
»Nein«, hatte sie gesagt, »Karma Yoga, das ist das Yoga der Tat. Dienst an der Gemeinschaft.«
»Du meinst, Yogamatten zusammenrollen oder Kissen aufschütteln? «
Es hatte ein Witz sein sollen, aber Melli hatte nicht gelacht.
»Nein«, hatte sie schließlich zögernd geantwortet, »ich meine die Gemeinschaft. Die Leute, die dort leben. Die wollen es ja auch sauber haben und essen und so.«
»Karma Yoga ist also so was wie Küchendienst?«, schrie ich entsetzt. Sofort fiel mir noch viel Schlimmeres ein als Kartoffelschälen. Vor meinem inneren Auge sah ich mich im Lotossitz, während ich die Dreadlocks der Langzeiturlauber entlauste. Und dabei gut aufpasste, dass ich keinem der Tierchen ein Beinchen krümmte. Wahrscheinlich waren die kleinen Krabbler alles ehemalige Yoga-Wochenendstümper wie ich, die ihren Küchendienst nicht ernst genommen hatten. So etwas machte ganz mieses Karma. Hatte ich neulich erst gelesen.
»Ja, in der Küche werden immer Leute gebraucht. Oder beim Fensterputzen oder im Garten. Der Siv hat gesagt, das ist einer der wichtigsten Yogawege überhaupt, weil er das ganze Leben umfasst. Dass du lernst, jede Aufgabe freudig zu übernehmen und sie genau so auch wieder loszulassen, wenn etwas anderes ansteht.«
»So, so. Der Siv. Und der macht auch Küchendienst?«
»Er hat gesagt, in Indien hat er mal zwei Wochen lang Obst geschnitten und hat dabei schon einen richtigen Ehrgeiz entwickelt. Dass die Stücke alle genau gleich groß sind, dass die Schale ganz hauchdünn abgeht. Dann hat ihn sein Lehrer nur noch zum Helfen im Garten geschickt, damit er keinen ungesunden Hochmut entwickelt. «
Überzogener Schnippel-Ehrgeiz? Wenigstens vor dieser Karma-Sünde brauchte ich mir keine Sorgen zu machen.
Ein feiner Sprühregen hatte eingesetzt, und Melli fuhr jetzt über die Landstraße. Statt Kühen glotzten Schafe, und es gab mehr grüne als gelbe Ortsschilder. Als wir am »Steakhaus Landfrieden« vorbeikamen, steckte ich innerlich ein Fähnchen in eine Umgebungskarte. Nicht, dass ich mich sonst den ganzen Tag von Schnitzelpfanne ernährte. Ich hieß ja nicht Steve. Aber allein die Vorstellung, dass ich es drei Tage lang nicht durfte, selbst wenn ich wollte, weckte die Rebellin in mir.
»Kinder«, sagte Melli zehn Minuten später feierlich, »wir sind da.«
Sie parkte neben einem Backsteinhaus, dem man ansah, dass es mal eine Pension in D-Lage gewesen war. Mindestens zwei Kilometer bis zum Meer, dafür Aussicht quer über ein kahles Feld auf einige Wohnblocks, wo ich das soziale Problemviertel der nächsten Kleinstadt vermutete. Ich krabbelte hinter dem vorgeklappten Beifahrersitz hervor und wollte gerade eine versöhnliche Bemerkung über die gute Landluft machen, da sah ich etwas, das meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog.
Das war wohl doch keine so blöde Idee gewesen mit dem Wochenende im Yogakloster.
Direkt auf dem Parkplatz gegenüber stand das Buddhamobil, das ich neulich vor dem »Delhi Deli« gesehen hatte.
Wo das Buddhamobil war, konnte sein Fahrer ja auch nicht weit sein.
Und die Restwahrscheinlichkeit, dass es sich um einen Neonazi handelte, schrumpfte in Rekordzeit gegen null.
»Melli, das ist ja herrlich hier!« Meine Stimme klang noch enthusiastischer, als ich es vorgehabt hatte. »Eine richtige kleine Oase!«
Nicht einmal der Anblick eines einsamen Mannes in Gummistiefeln, der eine Schubkarre voll geschnittener Zweige durch den Matsch schob, dämpfte meine Begeisterung. Obwohl es sich mit Sicherheit um einen Akt des Karma Yogas handelte.
Melli und ich schulterten unsere Sporttaschen, Nadine und Anna zogen zwei Rollköfferchen hinter sich her. Wie wir so zur Rezeption zockelten, sahen wir aus wie zwei Stewardessen und zwei Au-Pair-Mädchen.
Beim Eintritt schlug uns eine Duftwolke aus Blumenkohl und Schweißfuß entgegen, was auch nicht weiter verwunderlich war. Denn direkt neben dem Empfangstresen stand ein großes Schuhregal, das etwa zur Hälfte mit Turnschuhen und zur Hälfte mit ausgelatschten Schlappen gefüllt war. Zwei Frauen mit versunkenem Gesichtsausdruck kamen an uns vorbei, die eine mit grünen Crocs, die andere mit Hausschuhen, von denen zwei Hasenohren aus Kunstfell abstanden.
»Hausschuhe! Ich wusste, dass ich was Wichtiges vergessen habe«, stöhnte Nadine, schlüpfte aus ihren Goldlederstiefeletten und stellte sie an einen freien Regalplatz. Sie sahen dort sehr verloren aus, so als hätte sich eine Düsseldorfer Kosmetikerin in einer brandenburgischen Freikörperkolonie verirrt.
Auch von innen sah man dem Haus seine Vergangenheit an. Nur dass auf den Fensterbrettern keine Möwenaufstellerchen mehr standen, sondern Kristalle. Und dass die Poster des Fremdenverkehrsvereins Bildern von elefantenköpfigen und flötenspielenden Hindu-Göttern gewichen waren.
Eine Frau mit grauem Pferdeschwanz sah von ihrem Computer hinter dem Empfangstresen auf.
»Seid ihr vom spirituellen Weg oder vom Mantratanzen?«, fragte sie barsch.
»Wir gehören zu Siv«, sagte Melli.
Es klang wie: Mein Mann hat die Präsidentensuite reserviert.
Die Frau nickte und fingerte an einem Schlüsselbrett herum.
»Zimmer fünf und sieben, im zweiten Stock. Ihr solltet euch ein bisschen sputen, denn in zehn Minuten treffen sich alle zum Essen. Danach ist Satsang im Shiva-Raum zur Meditation für den Weltfrieden. « Sie sah mich an. »Hast du noch eine Frage?«
Ich schüttelte heftig den Kopf und blickte zu Boden. Nicht, dass sie doch noch auf die Idee kam, eine Taschenkontrolle bei mir zu machen. Mein Duschgel wäre möglicherweise noch so durchgegangen. Aber die Flasche Chianti hätte mit Sicherheit keine Gnade gefunden.
Auf dem Weg nach oben fühlte ich mich, als hätte ich erfolgreich einen Gugelhupf mit eingebackener Feile in einen Hochsicherheitstrakt geschmuggelt.
Und ich war sehr gespannt auf ein Wiedersehen mit Mr Buddha.