SHIRSASANA
Durch den Kopfstand (Shirsasana) werden vitale Gehirnfunktionen angekurbelt. Wer regelmäßig den Kopfstand übt, kann damit sowohl sein Gedächtnis und sein Konzentrationsvermögen trainieren als auch zu neuen, kreativen Höhenflügen gelangen.
Der erste Mensch, mit dem ich mich am ersten Tag meines neuen Lebens unterhielt, war ein Fußgängerzonenpunk. Der war auch neu. Er saß vor dem Einkaufszentrum, wo sonst immer der nervtötende Leierkastenmann gestanden hatte, und machte mit einem langen Blasrohr Geräusche wie ein balzender Monsterfrosch. Sein Irokesenkamm war sehr akkurat gefärbt, ein Abschnitt in Blau, einer in Rot, einer in Gelb. Vielleicht ein patriotischer Punk, dem die schwarze Farbe ausgegangen war. Gab es ja alles heutzutage.
Ich blieb vor ihm stehen und schloss die Augen. Atmete tief ein und aus. Ich versuchte, Vergangenheit und Zukunft loszulassen und mich nur auf den Moment zu konzentrieren. Den erdigen Ton aus dem Holzblasrohr, den Duft aus dem nahen Coffee-to-go-Laden. Oder war das auch schon wieder rajaz? Durfte ich als echte Yoga-Anhängerin Kaffee nicht einmal mehr riechen? War es vielleicht dann okay, wenn der Laden auch Chai Latte hatte?
Mein neues Leben stellte mich schon in den ersten zehn Minuten vor ungeahnte Herausforderungen.
»Is was?«
Ich öffnete die Augen. Der Punk hatte aufgehört zu spielen und sah mich besorgt an.
»Nein, alles okay.«
»Dann is ja gut. Dachte schon, du kippst mir jetzt gleich vor die Füße.«
Ich schüttelte hektisch den Kopf, wühlte in meiner Jackentasche, nahm einen Euro heraus und legte ihn in einen Schuhkartondeckel, der vor dem Punk auf dem Boden stand.
Er musterte den Euro skeptisch, dann wieder mich.
»Hübsch«, sagte er dann, »haste noch mal so einen?«
Keine Frage, dieser Mensch war noch viel zu sehr verhaftet in seinen materiellen Bedürfnissen. In seiner spießigen Zukunftsplanung. Doch ihm konnte geholfen werden.
»Einen zweiten Euro nicht. Aber vielleicht solltest du es einmal mit Yoga versuchen«, sagte ich sanft.
»Aber sonst geht’s dir gut?«
Diese Antwort hatte ich vor Kurzem schon mal gehört. Von wem bloß? Ich stellte mir vor, wie ich eine Lichtdusche über dem Punk ausgoss. Das hatte nicht den gewünschten Effekt. Eher im Gegenteil. Der Typ machte mich aggressiv. Ich versuchte, mir eine Bierflasche vorzustellen, die goldene Tröpfchen über ihm versprühte. Das war deutlich lebensnäher. Sympathischer wurde er mir dadurch auch nicht.
»Yoga!«, der Patriotenpunk spuckte mir das Wort verächtlich vor die Füße. »Wenn ich das schon höre! Hat meine Ex auch angefangen, und jetzt wohnt die auf Ibiza in irgend so ’ner Höhle mit ihrem Guru und macht Sonnengruß jeden Morgen. Nee, nee, da fang ich gar nich an mit, mit so was.«
Fünf Minuten später, als sich die Türen des Büroaufzuges gerade
hinter mir schlossen, sah ich, wie jemand angehetzt kam. Ohne
nachzudenken, stellte ich meinen Fuß in den Türspalt. Frau Stöver
trug eine lange Karobluse, vor ihrem Busen wogte ein Paket mit
Hängeordnern, das sie in den Armen hielt wie ein Baby.
Wieder schloss ich für einen Moment die Augen. Anandoham. Wonne, Wonne. Mögen alle Wesen Glück und Harmonie erfahren.
»Guten Morgen, Frau Stöver!«
Sie schaute mich an, als hätte ich rückwärts gesprochen. So begrüßt zu werden, war sie nicht gewohnt. Schon gar nicht von mir.
»Ja, ja«, erwiderte sie, »ganz meinerseits.«
Hilfsbereit drückte ich auf den Knopf mit der Drei, wo sie aussteigen musste.
»Steht Ihnen gut, die Bluse«, sagte ich und setzte mein strahlendstes Lächeln auf. »Neu?«
Unsicher blickte Frau Stöver sich um, so als erwarte sie, dass noch jemand hinter ihr stand.
»Hmpf«, sagte sie und fixierte den Boden, dann die Wand. Dort hing noch immer mein fingiertes Erpresserschreiben.
»Weiß man denn mittlerweile was?«, fragte ich vorsichtig. »Ich meine, wegen der Bärchentasse?«
Frau Stöver zuckte die Achseln. »Glaub nicht. Die Lisa-Marie hat jetzt immer so einen Marienkäferbecher. Der ist auch ganz lieb.«
Schon glitten die Türen wieder auseinander, und mit einem gemurmelten Gruß stapfte Frau Stöver von dannen. Dabei drehte sie sich noch einmal halb um und schickte mir ein unsicheres, kleines Lächeln.
Immerhin wusste ich jetzt, welches Gesicht zu der Bärchentasse gehörte. Hätte ich mir ja denken können. Lisa-Marie, das musste also die Kleine, Verhuschte aus der Lohnbuchhaltung sein. Die hatte auch an ihrem Rucksack ein Kuscheltier baumeln und benutzte eine Computermaus in Gummibärchenform.
»Frau Frank! Die Sonne geht auf!«
Hoppla. Mein Chef schien beste Laune zu haben. Berger hatte sich sogar den Zipfel seiner Krawatte launig über die Schulter geworfen. Das war ja schon beinahe Rock ’n’ Roll. Und das am Montagmorgen. Was war mit dem los? Hatte es irgendwo einen Fabrikverkauf für Sonnenbrillen gegeben?
»Frau Frank, ich hätte da was Schönes für Sie.«
Langsam wandte ich den Blick zu meinem Schreibtisch und schluckte. Der Stapel an Beschwerdepost war so hoch wie überhaupt noch nie. Ich fragte mich, ob seine gute Laune etwas damit zu tun hatte.
Sie hatte.
»Der neue Rumänien-Charter«, Berger klopfte sich vergnügt auf die Schenkel, »die Leute wollen für dreihundert Euro zwei Wochen all-inclusive und wundern sich, wenn’s zur Begrüßung keinen Champagnercocktail gibt. Hab ich mir gleich gedacht, dass das nach hinten losgeht. Wollte bloß keiner auf mich hören.«
Ich fühlte mich plötzlich sehr schwer. Nicht so tiefenentspannt schwer, eher so ich-trage-das-Gewicht-der-Welt-auf-meinen-Schultern-schwer. Das ganze Zimmer war voll dunkler, träger Energie. Voll unerfüllter Wünsche, frustrierter Hoffnungen, ungelebten Lebens.
Wie ferngesteuert setzte ich mich an meinen Schreibtisch und versuchte, dem Gefühl einen Namen zu geben. Als ich den ersten Brief mit einem scharfen Geräusch aufgeratscht hatte, kam ich drauf.
Ich hatte Mitleid. Zum ersten Mal seit Beginn meines Berufslebens hatte ich Mitleid mit meinen Quengelkunden.
Bis zum Mittag hatte ich zwanzig Briefe und ebenso viele E-Mails gelesen. Und noch nicht eine einzige Antwort aufgesetzt. Obwohl nichts dabei war, für das ich nicht den passenden Textbaustein gehabt hätte. Die Disco, die noch im Rohbau war, das Frühstücksbüfett aus Wasser und Brot, das schmale Bett für das Honeymoon-Paar und der Kellner, der sich nicht die Hände gewaschen hatte. Absolute Klassiker. Klar, natürlich gab es die einschlägigen Schreiben, bei denen es den Kunden nur um Geld ging. Die jede Staubfluse unter dem Bett fotografierten und jeden Strohhalm, der im Pool schwamm, um hinterher ein paar Prozent Rabatt auszuhandeln. Aber es gab eben auch die anderen. Die monatelang gespart, sich gefreut, sich den Urlaub in den leuchtendsten Farben ausgemalt hatten und die sich jetzt betrogen und beraubt fühlten. Konnte ich denen einfach mit unserem herzlosen Musterschreiben kommen? Ohne Anerkennung einer Rechtspflicht?
»Frau Frank?«
Ich hatte gar nicht bemerkt, wie Berger hinter mich getreten war.
»Ist was, Frau Frank? Sie wirken so abwesend.«
Ich schüttelte mich ein bisschen, so wie ein Hund, der aus dem Regen kommt. »Ach nichts, Herr Berger. Ich glaube, ich werde heute Nachmittag mal ein paar neue Musterschreiben entwerfen. Unsere sind einfach nicht mehr zeitgemäß.«
»Wie, nicht mehr zeitgemäß?«
Ich hatte jetzt genau zwei Möglichkeiten. Ich konnte Berger einen Vortrag darüber halten, wie lieblos wir unsere Kunden behandelten. Oder … ja, was eigentlich?
»Es gibt da diese neue Methode, die von amerikanischen Marketingexperten erfunden worden ist«, fabulierte ich drauflos, »Management by Yoga. Eine brandaktuelle Philosophie, in der es darum geht, dem Kunden nicht nur mit Respekt, sondern mit tief empfundener Liebe und Wertschätzung zu begegnen. Mit wahrer Achtsamkeit und Mitgefühl.«
»Management by Yoga?«, echote er. Dann baute er sich vor meinem Schreibtisch auf, stützte sich mit seinen Fingerspitzen auf der Tischplatte ab, beugte sich vor und blies mir eine Ladung Wurstbrotatem ins Gesicht.
»Liebe??«
Es klang etwa wie: »Haben Sie einen an der Waffel?«
»Lassen Sie mich mal machen«, erklärte ich, »heute Abend haben Sie die ersten Resultate.«
»Frau Frank«, eine steile Falte hatte sich zwischen Bergers Augenbrauen gebildet, »ich glaube, Sie sind unterzuckert. Sie sollten dringend zu Tisch gehen.«
Ich nickte folgsam und griff nach meiner Handtasche. Als ich mich zum Gehen umdrehte, sah ich aus dem Augenwinkel, wie er hektisch etwas in das Eingabefeld einer Suchmaschine tippte. Management …
Du lieber Gott. Om Shanti. Er hatte recht. Es war wirklich Zeit für eine sehr ausgedehnte Mittagspause. Am besten bis nach Bergers Feierabend. Da hatte ich mir ja etwas Schönes eingebrockt.
Sobald ich mich in die Kantinenschlange eingereiht hatte, stand ich
vor einem neuen Problem. Kohlrouladen waren nicht vegetarisch, die
Snack-Alternative erst recht nicht. Oder hatte schon mal jemand von
Tofu-Currywurst gehört? Blieb die Salatbar mit ihren traurigen,
sauer eingelegten Nudeln von gestern oder eine Kombination aus
Beilagen. Ich warf einen Blick zu Plisch und Plum, die hinter der
Theke gemeinsam ihr tägliches Schöpfkellenballett vorführten.
Natürlich hießen die Kantinenfrauen nicht wirklich so, aber ihre echten Namen waren mit Sicherheit nicht halb so treffend. Plisch war klein, blond und spillerig, und sie sah von hinten aus wie ein zwölfjähriger Junge. Plum war groß, mächtig und dunkel gelockt, dazu trug sie eine Brille wie ein sowjetischer Politbürovorsitzender aus den Sechzigerjahren. Ich fragte mich manchmal, ob das ein modisches Statement war oder ob sie die alte Lesebrille ihres eigenen Vaters auftrug.
Als ich an die Reihe kam, hatte ich endlich einen Plan. »Eine Portion Kartoffelsalat und eine Portion Spinat«, bat ich, und Plum fuchtelte mit der Kelle.
»Auf Diät, was?«
»Nein. Ich bin jetzt Vegetarierin.«
Sie sah mich so mitleidig an, als hätte ich ihr mitgeteilt, dass ich an einer unheilbaren Krankheit kombiniert mit nässendem Ausschlag litt. Einen Augenblick lang dachte ich, sie würde gleich mit ihrer Kelle an das Glas der Durchreiche klopfen und laut verkünden: »Alle mal herhören! Die Frank isst keine Tiere mehr!« Stattdessen klatschte sie mir achselzuckend einmal grüne und einmal gelbe Pampe auf einen Teller und entließ mich mit einem »Ich sach immer, das muss jeder für sich selbst wissen.«
Während ich zentimeterweise Richtung Kasse vorrückte, inspizierte ich die beiden Haufen auf meinem Teller genauer. Was war das in dem Kartoffelsalat? Da versteckten sich doch haufenweise heimtückische Speckwürfelchen zwischen den fingerdicken, mayonnaiseverschmierten gelben Scheiben. Blinde Passagiere, die mich von meinem neuen Kurs abbringen wollten.
»Entschuldigung?«
Plum sah von einem Teller mit Wurst auf. In der linken Hand hielt sie eine Streubüchse Currypulver in Klinikgröße.
»Ja, stimmt was nicht?«
»Der Kartoffelsalat. Da ist Fleisch drin.«
Sie blickte auf meinen Teller, als hätte sie ihr eigenes Essen noch nie gesehen, dann schüttelte sie ungeduldig den Kopf.
»Ach komm, das bisschen! Jetzt stell dich mal nicht so an.«
Immer dasselbe. Kaum gab es was zu meckern, fing sie an, uns zu duzen.
»Außerdem isses lecker.«
Dann wandte sie sich wieder der Wurst zu, als wäre damit alles gesagt. Und ich wollte sie nicht weiter nerven. Wahrscheinlich hatte unsere berufsschwangere Pressesprecherin Plums letzten Vorrat an Geduld aufgebraucht.
Ich irrte ein bisschen planlos mit meinem Tablett umher, bis ich Anna entdeckte. Wenn ich schon nichts anderes essen durfte als Spinat, wollte ich es wenigstens in netter Gesellschaft tun. Erst als ich bereits hinter ihr stand, sah ich, dass sie Wichtigeres zu tun hatte. Direkt neben ihr saß IPS, und sie und Anna musterten konzentriert ein kleines, gewelltes Papierchen auf dem Tisch. Es sah aus wie ein Schwarz-weiß-Foto von Schafen im Nebel, handelte sich aber mit Sicherheit um das neueste Babybild. Da wollte ich natürlich nicht stören. Gehörte ja alles zur Karriereplanung.
Ich aß im Stehen, im sogenannten Bistro-Bereich, und machte dann noch einen kleinen Spaziergang. Dabei spendierte ich dem Leierkastenmann fünfzig Cent, und er spielte daraufhin etwas, das klang wie Can’t buy me love. Arme Beatles. Dann tätschelte ich dem Reinigungsmops den Kopf, der heute bedeutend frischer aussah als neulich, und blätterte am Kiosk in einer Gartenzeitschrift. Als natürlicher Typ musste man schließlich auf dem Laufenden sein, was Stauden und winterfeste Gewächse anging.
Zum Abschluss holte ich mir im Coffeeshop einen Fünf-Euro-Obstsalat, der hauptsächlich aus angebräunten Apfelstücken bestand. Wenn das so weiterging, würde ich durch Yoga erst unglaublich schlank werden, dann aber unweigerlich entweder verhungern oder pleitegehen. Oder beides. Ich versuchte, den Gedanken ganz schnell zu vertreiben. Das war schon wieder viel zu weit in die Zukunft gedacht. Außerdem hatte ich ein ganz anderes Problem, und das lag in viel näherer Zukunft.
Erst als es sich wirklich gar nicht mehr vermeiden ließ, fuhr ich wieder zurück in den siebten Stock und betrat das Büro. Vielleicht hatte ich ja Glück und Berger war in einem Meeting.
Dem war aber nicht so. Berger saß schon wieder hinter seinem Bildschirm, hob den Blick und sah mich ernst an. Er sagte nichts.
Ich sagte auch nichts.
»Frau Frank.« Immer noch ernst, beinahe feierlich. Was sollte das denn werden? War es am Ende ein Kündigungsgrund, amerikanische Management-Techniken zu erfinden?
»Herr Berger«, sagte ich. Etwas Originelleres fiel mir nicht ein.
»Frau Frank«, Berger erhob sich, ging um seinen Schreibtisch herum und legte mir die Hand auf den Oberarm, »ich glaube, wir sind da einer großen Sache auf der Spur. Einem ganz neuen Approach. Einer echten Revolution im Customer Management.«
»Bitte wie?«, stammelte ich.
»Ich habe in der Zwischenzeit ein bisschen recherchiert«, sagte er, »hochinteressante Materie. Bisher«, er kam noch näher, schob seine Sonnenbrille zurecht und blickte mir vertraulich in die Augen, »bisher, das gebe ich ehrlich zu, habe ich Yoga ja immer für eine ziemlich versponnene Angelegenheit gehalten. Etwas für instabile Frauen in den Wechseljahren.«
Er lachte meckernd. Ich lachte nicht mit. Sofort wurde er wieder ernst.
»Da war ich ja völlig auf dem falschen Dampfer! Wie ich gerade herausgefunden habe, wird Yoga ja tatsächlich in den höchsten Managementkreisen eingesetzt. Und das Beste ist überhaupt diese aktuelle Studie.« Er hing jetzt fast über mir drüber, als wollte er mich gleich küssen. »Sie-ben-und-zwan-zig Prozent«, bellte er aufgeregt, »sie-ben-und-zwan-zig Prozent Steigerung der Kundenzufriedenheit in Unternehmen, die Yoga als Teil der Firmenphilosophie implementiert haben! Und das innerhalb von vier bis sechs Monaten!«
Ich nickte wissend. »Jaja«, sagte ich, »ganz bekannte Studie, wird ja dauernd in der Fachliteratur zitiert.«
Nicht, dass ich jemals davon gehört hatte.
Endlich wich Berger wieder einen Schritt zurück und lehnte sich lässig gegen die Kante seines Schreibtisches.
»Und was genau, sagten Sie, haben Sie jetzt vor?«
»Ich dachte, unsere Briefe sollten einen anderen Ton bekommen. Verständnisvoller, verbindlicher. Achtsamer.«
»Hervorragend!« Berger war begeistert. »Und so etwas lernt man alles im Yoga?«
Ich nickte würdevoll. »Die meisten Leute denken bei dem Wort ja nur an Körperübungen«, sagte ich, »aber das ist lediglich einer von mehreren Wegen.«
»Aber nur ohne Anerkennung einer Rechtspflicht!«
»Bitte?«
»Das muss unbedingt rein. Mit der Rechtspflicht und der Kulanz. Sonst können Sie schreiben, was Sie wollen.«
Om Shanti. Das war ja noch mal gut gegangen. Mehr als das: Zum ersten Mal, seit ich denken konnte, hatte ich meinen Chef beeindruckt.
»Ach, sagen Sie, Frau Frank?«
Ich hatte mich gerade hinsetzen wollen. Jetzt schwebte mein Po ein paar Zentimeter über dem Drehstuhl.
»Sagen Sie mal, diese ganzen verdrehten Stellungen – können Sie die etwa auch?«
Ich stand wieder auf. »Sicher«, sagte ich im Brustton der Überzeugung. Sollte Berger mich ruhig für eine Expertin halten.
»Ach«, sagte er, »das ist faszinierend. Faszinierend. Da arbeitet man jahrelang so nebeneinander her und weiß überhaupt nicht, was eigentlich in den eigenen Mitarbeitern steckt. Sagen Sie mal – können Sie mir da vielleicht mal eben etwas zeigen?«
Ich wusste es. Früher oder später musste es nach hinten losgehen. Jetzt erwartete er irgendeine komplizierte Körperverdrehung von mir. Und das, wo ich im Stand noch nicht einmal mit den Fingerspitzen meine Zehen berühren konnte.
Der Drehsitz! Das war’s! Nicht schwierig, aber machte was her.
Ich legte meine Fingerspitzen aneinander und verneigte mich nach allen Richtungen. Das war schon mal ein guter Anfang und sah sehr echt aus. Dann ließ ich mich im halben Lotossitz auf dem Boden nieder und dankte dem Modegott, dass er die Leggings nicht nur erfunden, sondern auch für bürotauglich erklärt hatte. Im Businesskostüm wäre das schon etwas schwieriger geworden. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich. Das rechte Bein anwinkeln und über das linke stellen, bis die rechte Ferse den linken Oberschenkel berührte. So weit alles klar.
Aber wie ging es dann weiter? Auf einmal war ich verunsichert. Das hatte ich nun davon. Hätte ich mal lieber besser aufgepasst, statt während der Stunden am Wochenende darüber nachzudenken, wie Sivs Haut unter dem Buddha-Sweatshirt weiterging! Musste ich nun den rechten oder den linken Arm gegen das Knie bringen?
Ein warmer Wurstbrothauch streifte meine Wange. Auch das noch. Jetzt hatte sich der Kerl doch tatsächlich über mich gebeugt, wahrscheinlich, um besser zu sehen.
Mit einem dumpfen Knall flog die Bürotür gegen den Gummistopper. Ich öffnete die Augen und sah violette Karos.
»Oh«, entfuhr es Frau Stöver, »wie ich sehe, störe ich Sie bei – also, ich störe Sie bei was.«
Berger erhob sich. »O nein, liebe Frau Stöver«, sagte er galant, »das ist rein beruflich. Management by Yoga, schon mal gehört?«
»Yoga? Was glauben Sie denn?«, gab Frau Stöver leicht beleidigt zurück. »Ohne Yoga wäre Jennifer Aniston doch bis heute nicht über Brad Pitt hinweggekommen.«
»Glauben Sie denn, sie ist wirklich darüber hinweg?«, fragte ich interessiert zurück.
Frau Stöver wiegte nachdenklich den Kopf. »Manchmal frage ich mich das auch«, sagte sie, »vor allem die biologische Uhr, die tickt doch schon sehr laut. Und wenn sie dann zuschauen muss, wie Angelina ein Baby nach dem anderen …«
Zack! Jetzt wusste ich es wieder! Der linke Arm und die linke Schulter gehörten nach vorn. Schon saß ich im perfekten Drehsitz und lächelte Herrn Berger und Frau Stöver so bezaubernd an, als wäre ich ein ausgeschlafenes Kleinkind und die beiden meine liebenden Eltern.
»Fantastisch!«, freute sich Herr Berger. »Und es sieht so leicht aus. Würden Sie sich denn eventuell auch zutrauen, selbst Unterricht zu geben? In einem kleineren Kreis?«
Ich dachte wieder an die russische Yogalehrerin aus Werderhorst. Die hatte auch keinen Kopfstand gekonnt, und keiner hatte sich beschwert. Was für ein kleiner Kreis? Egal. Erst mal weiter mit der Flucht nach vorn.
»Sicher«, sagte ich, »im Yoga geht es ja nicht um Perfektion. Sondern darum, dass jeder seine eigenen Grenzen erkennt und sich im Rahmen seiner eigenen Möglichkeiten weiterentwickelt.«
»Wissen Sie was, Frau Frank?« Herr Berger nickte sich selbst bekräftigend zu. »Ich glaube, wir sind da einer ganz großen Sache auf der Spur.« Dann wandte er sich an Frau Stöver.
»Sie-ben-und-zwan-zig Prozent«, sagte er mit Nachdruck, »sieben-und-zwan-zig Prozent.«
An diesem Abend wurde es spät, bis ich mein Büro verließ. Während
um mich herum die Schritte verebbten, Telefonklingeln weniger und
Stimmen leiser wurden, arbeitete ich an neuen Wortbausteinen voller
Seele, Mitgefühl und Freundlichkeit. Um kurz nach neun Uhr abends
war ich auch endlich in der richtigen Stimmung, eine E-Mail zu
schreiben, die ich schon lange vor mir herschob. Ich suchte in
meinem Posteingangsfach nach dem Betreff »Unser Verhältnis« und
klickte auf »Antworten«.
»Lieber Papa«, schrieb ich, »es hat mich gefreut, von Dir zu hören. Ruf mich einfach an, ich bin gespannt auf Deine Neuigkeiten.«
Ich zögerte lange. Dann klickte ich wieder auf Abbrechen. »E-Mail im Ordner Entwürfe sichern?«, fragte mein Programm beflissen, und ich nickte seufzend.
Ich war einfach noch nicht so weit.