KONASANA
Der Sitz mit angewinkelten Beinen (Konasana) lässt sich zur Vorbeugung und Bekämpfung leichter Angstzustände einsetzen.
In meiner ersten Yogagruppe bei Sunny Side blickte ich nur in vertraute Gesichter. Ich war mir allerdings nicht sicher, ob das von Vorteil war.
Ganz vorn, in der ersten Reihe, saßen Anna und IPS. In den letzten Wochen waren die beiden dicke Freundinnen geworden, wobei Anna eher die Freundin war und IPS eher dick. Kurz vor Beginn ihrer Mutterschutzzeit hatte sie eine Art Ganzkörperschwangerschaft entwickelt, so als hätte der imposante Bauch sich mittlerweile bis in die Fußgelenke, die Oberarme und das Gesicht ausgedehnt.
Es stand ihr aber nicht schlecht, im Gegenteil. Früher hatte sie häufig einen verkrampften Zug um den Mund gehabt, jetzt erinnerte sie mich eher an meinen speziellen Freund, der mich ab und zu von Flyern, Sweatshirts oder Autos her ansprach.
Direkt dahinter hatte ebenfalls ein ungleiches Paar Platz genommen. Neben Frau Stövers gewaltigem Busen wirkte die magere Lisa-Marie wie eine Zweitklässlerin, die ein bisschen zu schnell gewachsen war. Vielleicht lag es aber auch an den Glitzermäuschen auf ihrem Shirt, die den kindlichen Eindruck noch unterstrichen. Das Shirt war so lila wie die Matte, auf der Lisa-Marie saß, und sie schien förmlich mit ihrem Hintergrund zu verschmelzen.
Last but not least waren da noch die beiden Kantinenköchinnen. Mit denen hätte ich nun am wenigsten gerechnet. Schließlich fochten Plisch, Plum und ich nun schon seit Wochen jeden Mittag ein Duell aus, bei dem es darum ging, ob sie mir eine heimliche Portion Fleisch in mein Essen schmuggeln konnten. Bisher lagen sie leicht in Führung. Ob das ein Problem war bei unserer spirituellen Zusammenarbeit?
Plum packte den Stier gleich bei den Hörnern.
»Sie, das mit dem Yoga«, fragte sie, »das ist aber jetzt nicht nur für Vegetarier, oder?«
Milde schüttelte ich den Kopf. Jeden da abholen, wo er steht. Dieses Motto hatte ich verinnerlicht. Nach ein paar Wochen würden die zwei Damen vom Grill schon von selbst merken, dass sie Fleisch nicht mehr brauchten. Dass es sie herunterzog, träge und dumpf machte.
»Also, ich esse das ja so gut wie gar nicht«, bemerkte Plisch, »höchstens mal ein paar Chicken Wings oder Spareribs im Biergarten.«
»Ich persönlich muss Fleisch auch nicht haben«, Plum nickte ihrer Kollegin zu und winkte großzügig ab. »Höchstens vielleicht mal eine Frikadelle zum Abendbrot.«
»Das ist was anderes«, sagte Plisch. »Das ist ja auch Hackfleisch.«
Ich schaltete den tragbaren CD-Player mit einer »Buddha Bar«-CD ein, die mir Nadine gestern noch gebrannt hatte. Plisch und Plum verstummten. Dann ließ ich meinen Blick über die umgeräumte Kantine schweifen und versuchte, großen inneren Frieden zu empfinden. Stattdessen war ich nervös. Das Design ließ auch zu wünschen übrig. Und der Geruch sowieso.
Dabei hatte ich es mir so einfach vorgestellt. Es war nicht so schwierig, einen Seitenflügel der Kantine frei zu räumen, und viel Equipment hatte ich auch nicht gebraucht. Was die Yogamatten anging, hatte ein Anruf bei einem Hotelkonzern gereicht, an dem Sunny Side zu dreiundfünfzig Prozent beteiligt war und der sich auf Wellnesshotels im Mittelgebirge spezialisiert hatte. Ehrensache, dass sie uns dreißig Stück per Express lieferten, mit goldgeprägtem Firmennamen.
Besonders gute Qualität war der Schaumstoff nicht. Das konnte man von einer Hotelkette mit dem Werbespruch »Wellness fürs Portemonnaie« wohl kaum erwarten.
Dazu hatte Berger zweihundert Euro aus dem Marketing-Budget für spezielle Aufgaben lockergemacht, und die hatte ich sehr effektiv eingesetzt. Die größte Investition war ein Milchglasbuddha in Größe eines gut genährten Säuglings und mit einer Lampe im Inneren, deren Licht im Zwei-Minuten-Takt die Farbe wechselte. Bisher hatte er nicht mit mir gesprochen, und ich hoffte, er würde auch künftig seinen Schnabel halten. Es sei denn, er hatte im richtigen Moment ein paar sachdienliche Hinweise für Yogalehrerinnen, die nicht weiterwussten.
Außerdem hatte ich einige Meditationskissen mit aufgestickten Lotosblumen gekauft und ein Schälchen, in dem man Duftessenz verbrennen konnte. Natürlich war es Anna, die mich auf die Meditationswochen bei Tchibo hingewiesen hatte. Der Zeitpunkt hätte nicht günstiger sein können.
Aber selbst eine Extradröhnung Sandelholzessenz hätte nichts gegen den Bratfettgeruch ausgerichtet, der über dem Raum hing. Mittags zur Essenszeit war mir das nie aufgefallen, aber jetzt, um achtzehn Uhr, schien der Geruch aus allen Ritzen zu quellen. Er saß in jeder Pore des Linoleumbodens, verschanzte sich in den Kunstfaserbezügen der Stühle. Dazu kam noch das Problem mit den Schaulustigen. Ich hatte ja nicht gewusst, wie viele Menschen noch nach achtzehn Uhr ihre Büros verließen. Natürlich mussten sie alle auf dem Weg zum Ausgang an der Kantine vorbei, die ab Hüfthöhe nur mit einer durchsichtigen Glasscheibe vom Gang abgetrennt war. Dort drückten sie sich die Nasen platt und beäugten uns, als wären wir eine Reihe neugeborener Eisbärenbabys im Zoo.
Dabei hatten wir noch nicht einmal angefangen.
Entschlossen stellte ich mich in eine aufrechte Position. Dann legte ich die Hände in einer Art Gebetshaltung zusammen, so wie ich es nun schon bei so vielen Yogalehrern gesehen hatte, und verneigte mich leicht vor meinen Schülern. Gerade noch rechtzeitig fiel mir ein, dass ich vielleicht auch den Rest des Universums grüßen sollte und drehte mich leicht im Kreis.
Das Universum stand draußen vor der Kantine und grüßte zurück. Dabei amüsierte es sich sichtbar.
Mein Leuchtbuddha glühte rot.
Ich setzte mich wieder hin. So konnten die Kollegen draußen zwar immer noch mich sehen, aber ich sie nicht mehr so gut.
Eigentlich hatte ich die Stunde wie immer mit Mantrasingen beginnen wollen. Doch als ich in die Gesichter meiner Schülerinnen blickte, verließ mich der Mut. Zwar wusste ich selbst, dass dieser Gedanke erschütternd weltlich und oberflächlich war – aber die Vorstellung, dass ich ganz allein in der Kantine einen singenden Gruß an den Elefantengott entbieten würde, während die Herren vom Controlling ihre Nasen an der Scheibe platt drückten, war mir dann doch zu unangenehm. Wir würden stumm anfangen.
Es wurde sowieso zu viel gequatscht auf dieser Welt, vor allem in der Reisebranche.
Trotzdem sahen mich meine sechs Schülerinnen so an, als müsste ich jetzt allmählich dringend etwas sagen. Augen zu und durch.
»Wir beginnen wie immer mit den Atemübungen«, begann ich leichthin, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes gemacht. »Wir legen die rechte Hand ins Vishnu-Mudra, halten das rechte Nasenloch mit dem Daumen zu und atmen durch das linke …«
»Geht nicht.« Ich sah auf. Lisa-Marie schüttelte hektisch den Kopf.
»Wie, geht nicht?«, fragte ich zurück.
»Heunupfen«, näselte sie.
»Gut«, sagte ich. »Dann setzt du dich einfach entspannt in einen kreuzbeinigen Sitz, die Finger ins Cin-Mudra …«
»Sie, Frau Frank?«, das war Frau St över. »Müssen wir eigentlich die ganze Stunde über auf dem Boden bleiben? Ich meine, wenn Yoga so eine sitzende Angelegenheit ist, warum nehmen wir uns nicht ein paar Stühle und machen es uns bequemer?«
»Das ist, ähm, energetisch aber nicht so günstig«, stotterte ich. »Ich habe doch außerdem hier diese Meditationskissen, die Sie unter Ihre Sitzhöcker …«
»Nun seien Sie mal nicht päpstlicher als der Papst«, sagte Frau Stöver energisch, wuchtete sich vom Boden hoch und begann, Stühle von den Tischen zu heben, wobei Plum ihr hilfreich zur Hand ging.
Der Leuchtbuddha glomm jetzt grünlich.
Lisa-Marie sah erstaunt auf. »Echt, der Papst macht auch Yoga?«, fragte sie. »Krass!«
»Also, das mit dieser speziellen Atmung ist in der Schwangerschaft auch nicht so ratsam«, sagte IPS, »ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich in dieser Zeit stattdessen ein paar meiner eigenen Übungen mache. Aus dem Yoga für werdende Mütter.«
Sie ging in den Vierfüßlerstand und machte abwechselnd einen Buckel und ein Hohlkreuz.
»Diese Asana kenne ich gar nicht«, erkundigte sich Anna interessiert, »wie heißt die?«
»Meine Yogalehrerin sagt immer Alte Kuh, junge Kuh dazu«, erklärte IPS und buckelte wieder. »Bis zur zweiundzwanzigsten Schwangerschaftswoche macht man die Bewegung kräftiger, wie eine junge Kuh, danach vorsichtig wie eine alte.«
Anna ging ebenfalls in den Vierfüßlerstand und machte mit. Ich fragte mich, ob sie mir etwas zu beichten hatte. Oder ob das wieder Teil ihrer Jobstrategie war.
Währenddessen hatten Plum und Frau Stöver es sich auf Kantinenstühlen gemütlich gemacht und atmeten geräuschvoll durch das linke Nasenloch ein und aus, und Lisa-Marie saß auf dem Boden und kicherte. Wahrscheinlich stellte sie sich den Papst in kleidsamer Yoga-Baumwollhose mit tief sitzendem Schritt vor. Buddha leuchtete gelb und schwieg eisern.
Es war nicht ermutigend.
»Kann’s jetzt mal losgehen?«, fragte Plisch und blickte auf die große Kantinenuhr über der Theke. »Wir müssen heute noch die Gemüselasagne vorbereiten, meine Kollegin und ich.«
Gemüselasagne. Das war doch auch wieder so ein heimtückisches Fleischversteck, das sie sich mit Plum ausgedacht hatte.
»Völlig einverstanden«, erwiderte ich, »also, wenn das mit den Atemübungen nicht so euer Ding ist, ich kann das nachfühlen. Ich hab auch eine Weile gebraucht, bis ich mich so richtig auf Yoga habe einlassen können. Aber wenn es erst wirklich Teil des Lebens geworden ist, dann …«
Ich hätte noch weitergeredet, aber dann traf mich Annas Blick. Annas wortloser, handarbeitslehrerinnenstrenger Noch-ein-Wort-und-ich-oute-dich-als-Anfängerin-Blick.
Buddha blinkte bläulich.
»Also, was ich sagen wollte – dann machen wir eben jetzt den Sonnengruß. IPS, äh, ups, ich meine, Ilona – du spürst einfach hinein in deinen Körper und tust, was dir gerade guttut.«
Ich machte eine Geste, und folgsam standen alle auf. Frau Stöver und Plum stellten sogar die Kantinenstühle zur Seite. IPS blieb auf dem Boden, umfasste mit den Händen ihre Kniekehlen und rollte sich auf dem Po hin und her wie ein kleiner, dicker Kreisel, der nicht richtig in Schwung gebracht worden ist.
Es gab einen einzigen Lichtblick. Die Herren vom Controlling waren von der Glasscheibe verschwunden. Wenigstens hatten sie endlich mal was zu erzählen beim Abendbrot. Statt vom Soll-Ist-Abgleich fürs erste Quartal würden die Gattinnen heute erfahren, wie es aussah, wenn Customer Relations Assistant Evke Frank das Universum mit einem Gruß voller Lichtenergie überschüttete.
Und es gab noch einen zweiten Lichtblick. Das mit dem aufrechten Stand klappte schon mal prima.
Auch die Rückbeuge bekamen alle hin. Schwierig wurde es, als es darum ging, bei gestreckten Beinen die Handflächen auf den Boden zu bringen. Das heißt, eigentlich konnte es nur eine Teilnehmerin nicht.
Nämlich ich.
»Sollen wir jetzt die Knie dabei durchdrücken oder nicht?«, erkundigte sich Plisch, noch etwas ungeduldiger als vorher, und federte gummiartig in den Knien wie eine olympische Kunstturnerin.
»Ja«, sagte ich sanft, »jeder so gut wie er kann.« Dabei versuchte ich vergeblich, es ihr nachzumachen. Waren meine Handflächen unten, waren meine Beine krumm. Waren die Beine gerade, schwebten die Hände auf Knöchelhöhe. Ich begann zu ahnen, dass eine Yogalehrerin schlimmere Defizite haben konnte als den fehlenden Kopfstand.
Wir standen auf Füßen und Händen voreinander wie Hunde, kurz bevor sie am Laternenpfahl das Beinchen heben, und fixierten uns. Plisch schüttelte ärgerlich den Kopf.
»Ich dachte, Sie bringen uns hier was bei.«
»Jeder darf seine eigenen Grenzen spüren. Das ist ja das Gute am Yoga.«
»Und ich dachte, es hilft gegen Rückenschmerzen. Sagt mein Hausarzt jedenfalls.«
»Ja. Das auch.«
Während Plisch und ich uns noch unterkühlt angifteten, hatte Anna ein Herz und machte die Übung weiter. Bein nach hinten, zweites Bein nach hinten, Stütz, Brustkorb runter, Kobra. Alle hielten gut mit, sogar Frau Stövers erste Kobra hatte ordentlich Biss. Meine Schüler waren begabt. Wahrscheinlich begabter als ich.
Meine erste Stunde als Yogalehrerin war vor allem eins: eine Lektion in Demut.
Während IPS sich noch immer auf dem Boden kugelte, machten wir viermal die Sonnengruß-Übungsreihe. Buddha sagte nichts dazu, er wechselte eifrig die Farben. Meine neuen Handgelenkswärmer vom Namaste-Versand verteilten mittlerweile nicht nur Energie in meinem Körper, sie fühlten sich so heiß an, als könnte man auf ihnen Chai kochen. Stumm schwitzten wir vor uns hin.
Und dann fiel mir etwas ein, das mich in der nächsten Sekunde noch viel mehr zum Schwitzen brachte. Ich hatte Steve völlig vergessen. Der wartete mindestens seit fünf Minuten gegenüber im Einkaufszentrum, in Barbies Bierbar.
»So«, sagte ich und versuchte, meiner Stimme die Hektik nicht anmerken zu lassen, »das reicht auch fürs Erste.«
»Und was ist mit der Schlussmeditation?«
Verblüfft sah ich Lisa-Marie an.
»Na, die Schlussmeditation. Also, zu Beginn des zweiten Lehrjahres durften wir uns doch ein Wochenende aus dem ›Moments for me‹-Katalog aussuchen, und da war ich beim Power Yoga in der Eifel. Die haben immer …«
»Das mit der Schlussmeditation ist eher für die Fortgeschrittenen, das machen wir nächstes Mal«, würgte ich sie ab.
»Ich dachte, jeder kann hier einsteigen und testet seine eigenen Grenzen?«, fragte sie säuerlich.
Ich warf einen Seitenblick zu Buddha. Er glühte rot vor sich hin und schwieg. Wenn man ihn dann mal wirklich brauchte, fiel ihm auch wieder nichts ein.
»Man muss das vorsichtig angehen«, übernahm Anna und legte Lisa-Marie eine Hand auf die Schulter. »Beim Yoga werden Energien freigesetzt, das muss man behutsam steigern.«
Ich warf einen dankbaren Seitenblick auf Anna und nickte stumm.
Während ich schnell meine Sachen zusammenraffte, spürte ich, wie jemand hinter mich trat.
»Evke? Ich wollte …«
»Ähem, weißt du, Ilona, es tut mir leid. Aber fürs Schwangerschaftsyoga bin ich, glaube ich, nicht richtig qualifiziert. Vielleicht.…«
»Ist völlig in Ordnung«, sie winkte ab, »ich wollte etwas ganz anderes mit dir besprechen.«
Dabei sah sie mich plötzlich sehr ernst an. Was war da los? Hatte es etwa Klagen über meine neuen Musterbriefe gegeben? Als Pressesprecherin kam ihr ja immer eine Menge zu Ohren.
»Entschuldige«, sagte ich und stopfte hektisch meine Handgelenkwärmer in meine Sporttasche, »ich muss dringend los, ich bin gleich noch verabredet.«
»Okay«, sie nickte, »aber ruf mich in den nächsten Tagen mal an, ja?«
Ich versprach es, dann zog ich Buddha den Stecker. Er wurde ziemlich blass. Selber schuld. Hätte er vorhin mal den Schnabel aufgemacht. Aber so langsam hatte ich verstanden: Der Gute mischte sich immer nur dann ein, wenn ich ihn nicht gebrauchen konnte. Wenn ich mal dringend um einen Rat verlegen war, dann hüllte er sich in göttliches Schweigen.
Auf dem Weg nach draußen fragte ich mich, ob er das mit Absicht tat. Und was ich daraus lernen sollte.