ARDHA MATSENDRASANA
Der Drehsitz (Ardha Matsendrasana) wirkt stressabbauend, nervenstärkend, beruhigend und harmonisierend. Er trainiert das innere Gleichgewicht und die innere Würde, sodass man auch in stürmischen Zeiten gelassen in sich selbst ruhen kann.
Die Zimmer mit ihren billig furnierten Möbeln erinnerten mich an Jugendzimmerensembles aus den Achtzigerjahren, aber das behielt ich für mich und auch alle anderen gehässigen Gedanken. Vor allem, weil ich das Bett mit Melli teilte. Sie strahlte mit dem langhaarigen Inder um die Wette, dessen Foto auf einer Art Hausaltar neben dem Bett stand. So glücklich hatte ich sie lange nicht gesehen. Ich wusste zwar nicht so genau warum, aber da wollte ich nicht stören.
Als wir unsere Sachen ausgepackt und wieder nach unten gegangen waren, drängelte sich die Schlange der Hungrigen schon aus dem Speisesaal hinaus bis in den Eingangsbereich. Mittlerweile war am Boden ein ganzer Fantasiezoo unterwegs. Füße steckten in riesigen Plüscheierwärmern mit Gesicht, in Noppensocken mit Herzchen auf der Fußsohle, und auch die Hasenohren sah ich weiter vorn am Büfett wippen.
Melli und Nadine trugen die gleichen weißen Yogahosen mit Goldstickerei auf der Potasche. Nadine hatte ihre so weit auf die Hüfte hinuntergezogen, dass ihr Nabel unter dem Shirt hervorblitzte, Melli hatte ihre brav in der Taille verschnürt. Anna trug Grau und kam natürlich ganz in Tchibo.
Unauffällig sah ich mich um. Keine Spur von Mr Buddha. Überhaupt war die Männerquote ähnlich gering wie beim VHS-Kurs »Geschirrhandtücher besticken leicht gemacht«. Doch das musste ich zugeben: Die wenigen Exemplare, die es gab, waren nicht von schlechten Eltern. Sehnige Körper, gute Haltung, wache Augen. Vielleicht sahen sie nicht gerade aus wie der junge Richard Gere bei seinem ersten Besuch beim Dalai Lama. Aber immerhin so, dass man gern eine Portion Blumenkohl mit dem einen oder anderen geteilt hätte.
Die Schlange rückte weiter, eine Frau vor mir griff nach Besteck und einem Teller.
»Er ist jung«, sagte sie gerade zu ihrer Begleiterin, »aber man merkt, er hat eine ganz alte Seele.«
»Ja«, nickte die andere, »ganz anders als der Ashram-Lehrer aus Bad Niederwurzen, da war es genau umgekehrt. Eine junge Seele in einem alten Körper.«
Planlos häufte ich mir Essen aus verschiedenen Schüsseln auf den Teller und war gespannt, wonach es schmecken würde. Das meiste konnte ich nicht richtig zuordnen. Es gab eine Art würzig riechenden Getreideeintopf, eine Schüssel mit einer Paste, von der ich annahm, dass es sich um einen Gemüsedip handelte, und verschiedenes Grünzeug, neben dem eine Flasche Biosauerkrautsaft stand. Außerdem eine vertraut aussehende Packung mit einem stilisierten Bergmassiv. Das gute alte Himalajasalz.
»Das kenn ich«, sagte ich zu Melli, »hat mir meine Mutter letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt.«
»Soll sehr gut sein«, behauptete Melli, »ich habe neulich erst gelesen, in normalem Salz sind ganz schlimme Chemikalien. Natrium, glaube ich.«
Nadine hatte unser Gespräch mit angehört und nickte wissend.
»Schlimmer«, sagte sie, »es ist sogar Chlor mit dabei.«
»Siehst du«, Melli nickte beflissen, »das sagt sogar unsere Chemieexpertin. Und Nadine kennt sich schließlich aus mit so etwas.«
Nadine begann zu grinsen, und ich versuchte mich an das vergilbte Poster mit dem Periodensystem der Elemente zu erinnern, das in unserem Chemiesaal gehangen hatte. Natrium und Chlor?
»Sag mal, ist das nicht die ganz normale Zusammensetzung von Kochsalz?«, fragte ich Nadine.
»Der Kandidat gewinnt die bronzene Buddhastatue und die Designerheckenschere«, prustete sie.
»Also, mir ist das trotzdem nicht geheuer mit dem Natrium«, beharrte Melli.
Ich rückte ein Stück weiter und hob den Deckel einer Alu-Warmhalteschale. Würstchen. Sehr seltsam. Vielleicht nahmen sie es am Wochenende nicht so eng mit dem Fleischverbot.
Suchend sahen wir uns um. Überall waren die langen Tische schon belegt, nur noch einzelne Plätze waren frei.
»Da drüben«, sagte Nadine und deutete auf eine Ecke, »da sitzt noch gar niemand.«
Melli musterte den weißen Zettel, der an der Tischdecke hing.
»Weiß nicht«, sagte sie, »da steht, das ist der Schweigetisch.«
»Ja«, Anna nickte, »und außerdem ist er kostenpflichtig.«
»Wie bitte?« Ich sah Anna an, dann das Schild. Sie hatte recht. Hinter dem Wort ›Schweigetisch‹ war noch etwas hingekritzelt, es sah aus wie eine Drei mit dem Eurozeichen dahinter. Die waren ja drauf, die Yogis. Nichts sagen und dafür noch Geld haben wollen.
»Ihr Anfänger!«, rief Melli triumphierend, »das ist doch das Om-Zeichen! «
»Braucht ihr noch einen Platz?« Jemand legte mir eine Hand an den Arm. Eine Frau mit lila Strähnchen im Haar zeigte einladend auf ihren Tisch.
»Wir können hier gern zusammenrücken.«
Wir quetschten uns zu der Lilasträhnigen und ihrem Begleiter, einem jungen Kerl mit südländischem Modelteint. Mit am Tisch saß noch eine Frau mit einer kleinen Tochter, die missmutig in ihrem Essen stocherte.
»Ich will aber Kinderketchup«, maulte sie, »den mit der lachenden Tomate, wo immer die Piratenaufkleber drauf sind.«
»Zu Hause wieder, Anna-Lena«, sagte die Mutter, »jetzt ist Mamas Yogawochenende, da machst du Mama sehr glücklich, wenn du dich mal auf etwas anderes einlässt als das, was du kennst.«
»Ich will aber nichts einlassen«, quengelte das Kind, »ich will Ketchup.«
Ich mochte zwar keinen Ketchup, aber das Kind konnte ich gut verstehen.
Vorsichtig kostete ich von meinem Würstchen. Das war ein Fehler. Das Innere fühlte sich im Mund an wie halb gebackener Kuchenteig, das äußere wie Dachpappe, die lange im Landregen durchgeweicht war.
Der junge Typ neben mir sah meinen angewiderten Gesichtsausdruck und musste lachen. »Tofu«, sagte er, »gut, oder?«
»Wer’s mag«, murmelte ich.
»Du musst zugeben, das hat mehr essenzielle Aminosäuren als jedes Stück Fleisch.«
»Geb ich gern zu. Schmeckt trotzdem nicht.«
»Dann probier mal den Getreideeintopf, der ist super.«
Folgsam kostete ich und nickte. »Ganz lecker. Könnte aber noch was Scharfes vertragen, wenigstens einen Hauch Knoblauch.«
»Knoblauch und Zwiebeln werden hier nicht verwendet«, erklärte der Junge, »die sind rajaz.«
»Was ist das denn nun wieder? Ich dachte, verbotene Lebensmittel sind tamas.«
»Rajaz ist alles, was nervös macht. Leidenschaften anregt. Deshalb auch kein Kaffee oder schwarzer Tee.«
Folgsam nahm ich noch einen Bissen von meinem Tofuwürstchen. Jetzt, wo der Überraschungseffekt weg war, schien es mir noch ungenießbarer. Vielleicht mit dem Gemüsedip? Ich tunkte großzügig ein und zwinkerte dem kleinen Mädchen zu. Vielleicht war es ja eine Alternative zu Ketchup. Und ich konnte ein Kind sehr glücklich machen.
»Halt!«, die Frau mit den lila Strähnen fiel mir in den Arm, bevor ich meine Gabel zum Mund führen konnte.
»Es geht mich ja nichts an«, sie lachte, »aber du hast gerade dein Würstchen in den Nachtisch gestippt.«
Auf einmal begann Melli auf dem Platz mir gegenüber zu strahlen. Ihre Mundwinkel zogen sich so weit auseinander, dass ich mich nicht gewundert hätte, wenn sie am Hinterkopf wieder zusammengestoßen wären, ihre Augen blitzten. Mit einer Geste, die wohl lässig wirken sollte, warf sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Strähne blieb in einem seltsamen Dreieck auf ihrem Kopf kleben. »Hallo«, hauchte sie und blickte dabei schräg hinter mich.
»Na, habt ihr’s lustig?«, hörte ich eine Männerstimme sagen.
Ich drehte mich um, und mein Herz machte einen freudigen Minihüpfer.
Da stand Mr Buddha.
Jetzt, gut ausgeleuchtet von der Energiesparlampe im Speisesaal, gefiel er mir sogar noch besser als bei unserer flüchtigen Augenbegegnung durch die Fensterscheibe des »Delhi Deli«. Er hatte nicht nur schöne breite Schultern und einen blank polierten Charakterschädel, auch der Rest war ziemlich lecker. Groß, sehnig, dunkel. Die Haut von dieser seidigen Beschaffenheit, dass sogar Schweißperlen auf ihr wie ein schickes Accessoire ausgesehen hätten. Schwarzes, ärmelloses Rippshirt, schmale schwarze Trainingshose. An den Füßen trug er gar nichts. Wahrscheinlich war er so fortgeschritten, dass er bei Bedarf einfach drei Zentimeter über dem Boden schweben konnte. Hausschuhe mit Hasenohren brauchte der jedenfalls nicht. Sogar seine Füße waren schön, die Zehen lang und gerade, der Fußrücken anmutig geschwungen.
Der ganze Mann war so rajaz, dass er eigentlich gar nicht hätte hier sein dürfen.
Pflichtschuldig versuchte ich, mich an Chris’ Füße zu erinnern. Schließlich hatte ich noch immer offiziell Liebeskummer. Doch es fiel mir nichts dazu ein.
Na gut, das war auch schon ein paar Wochen her. Bevor ich mit Yoga begonnen hatte. In der dunklen Zeit der Unachtsamkeit. Dass mir diese Füße jetzt so gefielen, war ein gutes Zeichen. Ich wurde … wie sollte ich das sagen? Ganzheitlicher. Nein, falsch. Wie hatte Nitya Rosenkötter es in meiner ersten Yogastunde genannt? Sie hatte doch so ein tolles Wort gebraucht! Genau: feinstofflich. Ich wurde feinstofflicher.
Vielleicht war es auch einfach nur der Kontrast. Vielleicht hatte mich die Begegnung mit den verhornten Kundalini-Lehrer-Füßen für einen bisher vernachlässigten männlichen Körperteil sensibilisiert.
»Hallo«, echote ich und kam mir etwas einfallslos vor. Mr Buddha sah mich an und hob die Augenbrauen.
»Hey«, sagte er, »ich bin mir nicht ganz sicher … kennen wir uns?«
»Liebe Evke«, hörte ich Melli sagen. Ihre Stimme triefte beinahe vor Feierlichkeit. »Ich möchte dir jemanden vorstellen. Das ist mein Yogalehrer Siv.«
Ich drehte mich wieder zu ihr um, zu verblüfft, um zu antworten. Jetzt hatte sie auch auf der anderen Kopfseite eine dreieckige Strähne. Nadine fand als Erste die Sprache wieder.
»Freut mich«, sagte sie und ruckelte ein bisschen auf der Sitzbank neben Melli hin und her. Dann zuppelte sie wie absichtslos an ihrem Shirt und machte ein Hohlkreuz. Jetzt war ihr Nabel vollständig zu sehen.