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Jeder Mensch verliert permanent kleine, wie Cornflakes geformte Hautschuppen – bis zu 40 000 in der Minute. Auf jeder dieser Schuppen sitzen Bakterien, und jede strömt den einzigartigen, unverwechselbaren Duft dieses Menschen aus. Das ist der Geruch, auf den der ausgebildete Suchhund anspricht.
American Rescue Dog Association,
Search and Rescue Dogs: Training the K-9 Hero
Tavie hatte den Leander-Club zum Sammelpunkt für das Team bestimmt. Es war nicht nur der Ort, wo die Vermisste zuletzt gesehen worden war, er bot sich auch als zentraler Stützpunkt für die Suchaktion an, wo es Strom gab und das Team sich mit allem Notwendigen versorgen konnte.
Als Kieran in die Einfahrt des Clubs einbog, sah er, dass die anderen Teammitglieder sich schon an der Stelle zu sammeln begannen, wo der Weg an der Wiese endete. Tavies glänzender schwarzer Toyota mit Allradantrieb und dem unverwechselbaren Logo der Thames Valley Search and Rescue auf der Seite parkte direkt vor dem Torbogen am Eingang des Clubs, flankiert von zwei Streifenwagen der Thames Valley Police.
Tavie stand neben dem Pick-up, ihr blonder Haarschopf ein weithin sichtbarer Blickfang über ihrer schwarzen Uniform, während sie auf die uniformierten Constables einredete und dabei ein Sprechfunkgerät schwenkte, wie um ihre Worte zu untermalen. Aus dem Laderaum des Transporters war ein hohes, scharfes Jaulen zu hören. Tosh, Tavies Deutsche Schäferhündin, brachte ihre Ungeduld zum Ausdruck.
Kieran entdeckte auch die robusten fahrbaren Untersätze der anderen Teammitglieder, die in der Nähe von Tavies Toyota geparkt hatten, und als er in den Rückspiegel schaute, sah er hinter sich noch weitere in die Einfahrt einbiegen. Alle waren mit Hundeboxen ausgestattet.
Er fand eine Lücke am Zaun des Parkplatzes, und kaum hatte er den Motor abgestellt, als Finn auch schon zu bellen anfing. Ein Chor von Hundestimmen aus den anderen Autos antwortete ihm. »Immer mit der Ruhe, Junge«, forderte Kieran ihn auf. Die Zeit war ein entscheidender Faktor bei der Vermisstensuche, aber ebenso wichtig war gute Vorbereitung. Kieran hatte sich noch ein paar Minuten für eine schnelle Katzenwäsche genommen, ehe er seine Uniform angelegt hatte, und Finn hatte eine Portion Trockenfutter bekommen, während Kieran selbst sich mit einem Energieriegel gestärkt hatte. Es könnte ein langer Tag werden, und sie würden ihre ganzen Kraftreserven brauchen.
Während er noch ein letztes Mal seine Ausrüstung überprüfte und aus dem Wagen stieg, sah er einen groß gewachsenen, schlanken Mann in einem Sakko durch den Torbogen treten, der zum Eingang des Clubhauses führte, und aufgeregt gestikulierend auf Tavie zugehen.
Im ersten Moment dachte Kieran, es sei vielleicht der Geschäftsführer des Clubs, doch als er näher trat, konnte er die Verzweiflung in den fein geschnittenen Zügen des Mannes sehen. Ganz offensichtlich war er persönlich betroffen.
Als Kieran bei der Gruppe anlangte, drehte Tavie sich zu ihm um. »Kieran, das ist Mr. Atterton. Er hat seine Exfrau als vermisst gemeldet. Sie ist gestern Abend mit einem Boot vom Club aus losgerudert und nicht mehr zurückgekommen.« Tavies Ton war sachlich, wie immer, wenn sie Angehörige zu beruhigen versuchte.
Kieran betrachtete Atterton eingehend und versuchte herauszufinden, wieso der Mann ihm so bekannt vorkam. Er war schätzungsweise Mitte dreißig, durchtrainiert, mit kräftigen Schultern, die aus der Ferne durch den eleganten Schnitt seines Sakkos kaschiert worden waren. Wo hatte Kieran ihn schon einmal gesehen? Seine Unruhe wuchs.
Atterton wandte sich zu ihm um. »Ms. Larssen sagt, Sie rudern auch.« Sein Akzent wies ihn sofort als Akademiker und Mitglied der Oberschicht aus. »Dann werden Sie das ja verstehen. Ich weiß, es klingt verrückt, in der Abenddämmerung mit einem Skiff loszurudern. Aber Becca wäre nicht unvorsichtig gewesen. Dafür ist sie zu erfahren.«
Kierans Herz krampfte sich zusammen, als ob all seine vagen Befürchtungen sich zu einem Stein in seiner Brust verfestigt hätten. »Becca?«
»Rebecca. Rebecca Meredith. Meine Frau – meine Exfrau – hat ihren Mädchennamen behalten. Unter dem war sie als Ruderin bekannt. Und jetzt trainiert sie wieder. Für die Olympischen Spiele.«
»Becca«, wiederholte Kieran, und seine Lippen fühlten sich plötzlich taub an. Ihm war, als hätte sich vor ihm ein tiefes Loch aufgetan, und er hatte das Gefühl, ins Leere zu stürzen.
»Kieran, ist alles in Ordnung mit dir?« Tavie hatte gewartet, bis sie allein waren und ihre Position eingenommen hatten, ehe sie ihn fragte.
Sie hatte auf beiden Seiten des Flusses je zwei Teams eingesetzt, bestehend aus je zwei Hundeführern und zwei Hunden. Am Buckinghamshire-Ufer hatte sie Rafe und Andrea Bennett zwischen Henley und Temple Island postiert, und Scott deckte mit Sarah das Gebiet zwischen Temple Island und der Schleuse von Hambleden ab. Am Berkshire-Ufer hatte sie Sophie und Hugo für den Abschnitt zwischen Leander und Temple Island eingeteilt und sich selbst und Kieran den letzten Abschnitt zwischen Temple Island und der Schleuse von Hambleden vorbehalten. Tom Bennett war zur Koordination beim Leander-Club geblieben.
Es war ihr endlich gelungen, Mr. Atterton davon zu überzeugen, dass er sich am besten nützlich machen konnte, indem er im Club blieb, falls seine Frau anrufen oder zurückkehren sollte. Dann waren sie und Kieran in getrennten Autos die Remenham Lane entlanggefahren und von dort weiter über den Feldweg, von dem aus es nicht mehr weit zum Uferpfad und ihrem Suchsektor war.
Sie hatten am letzten Zaun angehalten, der zwischen ihnen und den Themseauen lag. Hinter der Wiese konnte sie den Fluss sehen, mit Temple Island in der Mitte. Die Insel mit dem Pavillon wirkte übertrieben in Szene gesetzt vor dem Hintergrund der wild wuchernden Vegetation am gegenüberliegenden Ufer, das zu Buckinghamshire gehörte. Sie würden mit den Hunden durch das Gatter und über die Wiese gehen, die nach dem morgendlichen Wolkenbruch gewiss matschig war, um dann zu Fuß flussabwärts zu suchen.
Zum Glück schien das schlechte Wetter am Morgen die üblichen Scharen von Hundebesitzern, Joggern und Eltern mit Kinderwagen abgeschreckt zu haben, die sich gewöhnlich auf dem Themsepfad tummelten, und gleich nach dem Start der Suche hatte die Polizei die Uferwege auf beiden Seiten zwischen Henley und Hambleden abgesperrt, was die für die Suchhunde verwirrende Vielzahl von Gerüchen reduzierte.
Tavie öffnete Toshs Hundebox und legte der Schäferhündin die Leine an. Tosh sprang leichtfüßig herunter, setzte sich halb auf Tavies Fuß und blickte zappelnd vor Ungeduld zu ihr auf. Sie konnte es nicht erwarten, an die Arbeit zu gehen.
Tavie sah sich nach Kieran um, der immer noch nicht geantwortet hatte. Er zerrte seine Ausrüstung aus dem Laderaum seines alten grünen Land Rover – Rucksack, Funkgerät, Wasserflasche, Hundeleine und den Quietscheball, den Finn als Finderlohn bekam. Seine Bewegungen wirkten automatisch, und er sah sie nicht an.
»Kieran, bist du sicher, dass du der Sache gewachsen bist? Ich schaffe das auch allein, wenn es wegen des Gewitters –«
»Mir fehlt nichts«, sagte er, doch er sah ihr immer noch nicht in die Augen. Und irgendetwas in seiner Stimme ließ Finn, der bisher winselnd darauf gedrängt hatte, aus seiner Box befreit zu werden, plötzlich verstummen. Der Hund starrte seinen Herrn an, die Lefzen zu einem fragenden Ausdruck verzogen, den Tavie komisch gefunden hätte, wäre sie nicht so besorgt gewesen.
Sie wusste, dass Kieran schlechte Tage hatte und dass er sich bei Gewitter unwohl fühlte. Über seine Vergangenheit hatte er nie viel erzählt, und was die Gegenwart betraf, wusste sie nur, dass er in dem kleinen Schuppen auf der Insel oberhalb der Henley Bridge Boote reparierte und dass er ruderte.
Aber ungeachtet seiner schweigsamen Art hatten sie sich angefreundet. Nachdem sie sich zufällig im Park begegnet waren, hatte Tavie sich erboten, ihm bei der Erziehung von Finn zu helfen. Und schließlich hatte sie Kieran dazu ermuntert, sich dem Such- und Rettungsteam anzuschließen. Anfangs hatte er sich noch gegen den Gedanken gesträubt, doch als Finn größer geworden war, hatte er allmählich eingesehen, dass der Hund eine Aufgabe brauchte. Tavie hätte nie zugegeben, dass es ihrer Einschätzung nach viel eher Kieran war, der einen Grund brauchte, am Morgen aufzustehen, doch als er begann, sie nach den Einzelheiten ihrer Suchaktionen auszufragen, sah sie das lebhafte Interesse in seinen Augen.
Vor der ersten Übungseinheit mit dem Team hatte sie jedoch noch einmal innegehalten, weil sie irgendwie das Gefühl hatte, ihn beschützen zu müssen. »Kieran, du weißt schon, dass viele der Vermissten, die wir finden, nicht mehr am Leben sind. Meinst du, dass das ein Problem für dich sein könnte?«
Er hatte sie angesehen und schief gelächelt. »Nein – solange es Fremde sind.«
Tavie legte ihm die Hand auf die Schulter. Jetzt musste sie wieder an seine Antwort denken. »Kieran, ich muss dich das fragen. Als du den Namen dieser Frau gehört hast, bist du leichenblass geworden. Sie ist Ruderin, du bist Ruderer, und ich denke, es ist eine sehr kleine Welt hier in Henley. Kennst du sie etwa?«
Melody betrachtete das Reihenhaus mit der nach außen gewölbten Fassade und zog die Stirn in Falten. »Ich … ähm … ich finde es ein bisschen … spießig.« Doch dann sah sie die enttäuschte Miene ihres Begleiters und bemühte sich hastig um Schadensbegrenzung. »Es ist hübsch, Doug, doch, wirklich. Bloß dass Putney nicht gerade die Junggesellengegend ist, oder?« Sie musterte ihn berechnend. »Oder hast du vielleicht Pläne, von denen wir nichts wissen, Kollege?«
Doug Cullen errötete bis an die Wurzeln seiner hellblonden Haare. »Nein. Es ist bloß – ich wollte etwas, das möglichst das genaue Gegenteil von der Wohnung in Euston ist. Es hat eine gute Anbindung zu Scotland Yard. Ich wollte in der Nähe des Flusses und der Ruderclubs sein. Und es war ein günstiges Angebot.« Er betrachtete das Haus mit sichtlichem Besitzerstolz. »Muss nur noch ein bisschen hergerichtet werden, das ist alles.«
Wenn Melody sich die abblätternde Farbe an den Fensterrahmen und der Haustür so ansah, dazu die feuchten Stellen im Putz, dann stieg in ihr der Verdacht auf, dass das eher untertrieben war. »Du hast es also tatsächlich gekauft?«
»Vor einer Stunde hab ich die letzten Papiere unterschrieben.« Doug fischte einen Schlüsselbund aus der Tasche und hielt ihn hoch wie eine Trophäe.
Melody war überrascht gewesen, als er sie an diesem Morgen auf dem Revier Notting Hill angerufen und gefragt hatte, ob sie sich mit ihm in Putney zum Lunch treffen wolle. Sie wusste, dass er schon länger auf Wohnungssuche war. Und Gemma hatte ihr erzählt, dass Duncan ein paar Tage Urlaub nehmen wollte, bevor er offiziell in Elternzeit ging, weshalb Melody vermutete, dass Doug als Duncans Sergeant nicht so recht wusste, was er mit sich anfangen sollte. Womit sie nicht gerechnet hatte, war, dass er tatsächlich den Sprung gewagt hatte und unter die Hausbesitzer gegangen war.
»Du steckst heute voller Überraschungen. Ich hätte dich nie als den Heimwerker-Typ eingeschätzt.« Sie hätte Doug auch nie als den sportlichen Typ eingeschätzt, obwohl er ihr erzählt hatte, dass er sich unter anderem deswegen für Putney entschieden hatte, weil er wieder rudern wollte, was er seit der Schule nicht mehr getan hatte. Als sie über die Putney Bridge gefahren war, hatte sie einen einsamen Ruderer gesehen, der mühsam gegen die Strömung angekämpft hatte, und es war ihr nicht gelungen, sich Doug keuchend und schnaufend im verschwitzten Ruderdress vorzustellen. Die anstrengendste Tätigkeit, bei der sie ihn je beobachtet hatte, war das Einhacken auf eine Computertastatur.
»Beim Anstreichen macht mir so schnell keiner was vor«, sagte er, und er klang ein wenig gereizt. »Und was den Rest betrifft, da gibt’s doch haufenweise Bücher und natürlich das Internet …«
Melody bezweifelte nicht, dass Doug in der Lage wäre, sich Anleitungen für die Renovierung zu beschaffen – im Recherchieren konnte er ihr durchaus das Wasser reichen –, aber ob er auch das entsprechende handwerkliche Geschick hatte, wusste sie nicht zu sagen. Über Rohrzangen zu lesen und tatsächlich mit einer umzugehen, waren ganz verschiedene Paar Schuhe, zumindest nach ihrer bescheidenen Erfahrung. Sie war selbst auch nicht gerade die geborene Heimwerkerin.
»Ich würde dich gerne mal in deinem Handwerker-Overall sehen.« Sie grinste und hängte sich bei ihm ein, wofür sie einen verblüfften Blick erntete. »Na los, jetzt will ich auch was sehen für mein Geld.« Ein Windstoß fuhr durch die ruhige Wohnstraße, wirbelte das braune Laub in den Rinnsteinen auf und zerzauste die Haare in Melodys Nacken. Zwar versperrten die Reihenhäuser den Blick auf die Themse im Norden, aber dennoch waren sie hier so nahe am Fluss, dass Melody seinen feuchten, erdigen Geruch wahrzunehmen glaubte.
Als sie Dougs Arm losließ, um den Kragen ihrer Jacke hochzuschlagen, hätte sie schwören können, dass ein Ausdruck der Erleichterung über seine Züge huschte.
Jetzt hatte sie ein schlechtes Gewissen, dass sie ihn so aufgezogen hatte. Sie wusste, dass ihm zu viel Körperkontakt unangenehm war, und sie selbst war in dieser Hinsicht sonst auch eher zurückhaltend. Aber irgendetwas schien sie heute zu reizen, seine Grenzen auszutesten.
In den letzten paar Monaten hatte sich zwischen ihnen eine eigenartige Freundschaft entwickelt, und sie hatte den Verdacht, dass sie beide auf diesem Gebiet recht unerfahren waren. Ja, sie fragte sich, ob ihm vielleicht niemand sonst eingefallen war, mit dem er die Begeisterung über sein neues Heim hätte teilen können.
Melody war schon immer sehr vorsichtig gewesen, wenn es um Beziehungen ging. Als junges Mädchen hatte sie sich nie sicher sein können, ob jemand sie um ihrer selbst willen mochte oder sich nur wegen ihres Vaters an sie heranmachte. Und später, nachdem sie bei der Polizei angefangen hatte, wollte sie niemanden zu nahe an sich heranlassen, weil sie fürchtete, gerade wegen ihres Vaters abgelehnt zu werden.
Doch Gemma hatte die Wahrheit erfahren, ebenso wie Doug Cullen, und anschließend war Melody zu Duncan gegangen. Zwar arbeitete sie nicht direkt mit ihm zusammen, doch sie war mit Gemma und dadurch auch irgendwie mit Duncan befreundet, und allein deshalb war sie ihm mehr als anderen Vorgesetzten zur Offenheit verpflichtet.
Nachdem Duncan sich ihre Geschichte angehört hatte, musterte er sie mit prüfendem Blick und nickte einmal. »Ihre Familie geht niemanden etwas an«, hatte er gesagt, »solange Sie sie nicht selbst zum Thema machen.« Und dabei hatte er es bewenden lassen. Für Melody war es wie eine Offenbarung gewesen, und sie hatte zum ersten Mal das Gefühl gehabt, einfach sie selbst sein zu können. Und auch ihr Verhältnis zu Doug Cullen hatte sich daraufhin auf undefinierbare Weise gewandelt.
»Es ist eigentlich nur ein normales Reihenhäuschen«, sagte Doug, während er vor ihr die Stufen zur Haustür hinaufstieg. »Aber es hat einen Garten.«
Trotz des maroden Rahmens wies die Tür hübsche viktorianische Buntglasscheiben in Blassgrün und Gold auf. Als sie eintraten und Doug die Tür hinter ihnen schloss, fiel das diffuse Tageslicht durch die Scheiben, und der Effekt erinnerte Melody an das Licht in einem Frühlingswald. Der ursprüngliche schwarz-weiße Fliesenboden war noch intakt, und eine Treppe führte von der Diele hinauf ins Obergeschoss, wo Melody die Schlafzimmer vermutete.
Doug forderte sie mit einer kleinen theatralischen Verbeugung auf weiterzugehen. Das Licht, das durch die Buntglasscheiben fiel, funkelte auf seiner Brille und verlieh seinem blonden Haar eine grünliche Färbung. »Mein bescheidenes Heim.«
Links hinter der Treppe sah Melody einen Schrank und in dem Winkel daneben eine kleine Toilette. Dahinter führte eine weitere Tür in eine winzige Küche.
Rechter Hand jedoch gingen von der Diele zwei Zimmer ab, die sich über die ganze Länge des Hauses erstreckten. Als sie das vordere Wohnzimmer betrat, sah sie, dass die Wand zwischen den beiden Räumen durchbrochen war, sodass das Licht durch das ganze Haus fiel. Hinten führte eine Terrassentür in den Garten.
»Oh«, hauchte sie überrascht. »Das ist ja wunderschön. Klein, aber wunderschön.«
Doug nickte und errötete erneut, offensichtlich hocherfreut über ihre Reaktion. »Oben gibt es noch ein richtiges Bad, und ich werde eines der Zimmer als Schlafzimmer und das andere als Arbeitszimmer benutzen. Die Küchenschränke und die Arbeitsflächen müssen erneuert werden. Und hier« – er wies mit besitzergreifender Geste auf den Wohn-Ess-Bereich – »kommt ein neuer Teppichboden rein, und streichen muss ich natürlich auch noch.«
»Das gedeckte Weiß sagt dir also nicht so zu?«, frotzelte Melody. Die Wände hatten die Farbe von geronnener Sahne, mit helleren Flecken an den Stellen, wo Bilder gehangen hatten. Die Kamineinfassungen im Wohnzimmer und im Esszimmer schienen original zu sein, doch die Kamine selbst waren mit Brettern vernagelt.
Doug schüttelte sich. »Nein. Und Grau kommt gar nicht in Frage. Von Grau habe ich für den Rest meines Lebens die Nase voll.«
»Du könntest die Farben der Buntglasfenster verwenden«, meinte Melody nachdenklich. »Bei diesem Licht würde das fantastisch aussehen. Und du musst Gaskaminöfen einbauen lassen.« Melody ging zur Terrassentür und sah hinaus. Von dort führten ein paar Stufen hinunter zu einem Oval aus zerbrochenen Steinplatten. Dahinter lag ein kleines, von Unkraut überwuchertes Rasenstück, auf drei Seiten gesäumt von verwahrlosten Blumenbeeten.
Melody, die sich durchaus hätte aussuchen können, wo sie wohnen wollte, wenn sie die Unterstützung ihres Vaters in Anspruch genommen hätte, verspürte einen Anflug von Neid. Nicht, dass ihre Eigentumswohnung in Notting Hill nicht in Ordnung gewesen wäre, abgesehen davon, dass sie sich überhaupt nicht wie ein Zuhause anfühlte. Zudem lag sie im obersten Stock des Gebäudes und hatte nur einen winzigen Balkon. Und Melody verspürte seit einer Weile das unvermutete Bedürfnis, sich die Hände schmutzig zu machen und frisches Grün zu riechen.
»Ich könnte dir mit dem Garten helfen, wenn du magst«, bot sie ein wenig zögerlich an, indem sie sich zu ihm umdrehte. »Im Frühjahr.«
»Hast du überhaupt schon jemals Gartenarbeit gemacht?« Dougs Stimme hatte einen leicht spöttischen Unterton.
»Ich verstehe wahrscheinlich mehr vom Gärtnern als du vom Anstreichen und von Sanitärinstallation«, erwiderte sie gleichmütig. »Als kleines Mädchen bin ich dem Gärtner meiner Großeltern in Buckinghamshire auf Schritt und Tritt gefolgt. Das kann doch nicht so schwer sein – düngen und Blumenzwiebeln setzen und so.« Sie sah ihn prüfend an. »Was ist mit dir? Du bist doch in St. Alban’s aufgewachsen, nicht wahr? Die Vorstadtidylle par excellence. Ihr hattet doch mit Sicherheit einen Garten.«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich bin mit acht ins Internat gekommen und durfte immer nur in den Ferien nach Hause. Mein Vater hat samstags immer den Rasen gemäht. Das war seine Art, sich zu entspannen, und daran ließ er auch niemanden sonst teilhaben.«
Melody wusste, dass Doug wie sie selbst ein Einzelkind war. Sein Vater, ein Rechtsanwalt, stammte aus einer wohlhabenden Familie und hatte Doug bereits vor dessen Geburt in Eton angemeldet. Aber wenngleich Melodys Vater sie mit seiner selbstherrlichen und sturen Art oft auf die Palme brachte, hatten er und Melodys Mutter ihr doch immer genügend Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet.
Plötzlich tauchte ein Bild von Doug als einsamer, linkischer Junge vor ihrem geistigen Auge auf, mit einem Vater, der seinem kleinen Sohn nicht einmal das Vergnügen gegönnt hatte auszuprobieren, wie man einen Rasenmäher betätigt.
Um zu verhindern, dass er das Mitgefühl in ihrer Miene las, wandte sie sich zum Kamin um und wischte mit der Fingerspitze den Staub vom Sims. »Wenn du mit dem Umzug fertig bist, musst du uns alle zum Essen einladen«, sagte sie.
»Ich hab gar keinen Tisch. Und wahrscheinlich bis auf weiteres auch sonst nicht viel. Das Einzige, was ich aus der Wohnung in Euston mitnehme, ist das Bett und meine Musikanlage.«
Dazu wären Melody spontan verschiedene Kommentare eingefallen, aber keiner schien ihr angemessen, und sie hatte das Gefühl, dass sie schon rot wurde, wenn sie nur daran dachte. Hoffentlich nicht ganz so schlimm wie Doug. »Also ein kompletter Neustart?«, fragte sie stattdessen, ohne sich zu ihm umzudrehen.
»Absolut. Nur dass ich keine Ahnung habe, wo ich anfangen soll.« Er blickte sich im Zimmer um und wirkte ein wenig verloren, als wäre ihm eben erst richtig bewusst geworden, was er sich da vorgenommen hatte. Dann schob er seine Nickelbrille hoch und starrte sie an, als ob er nur auf einen Kommentar von ihr wartete. »Es gibt Leute, die behaupten, ich hätte keinen Geschmack.«
»Hmm.« Wenn sie sich seinen Anzug von der Stange und die fantasielose Krawatte so betrachtete, war Melody geneigt, sich dieser Meinung anzuschließen, doch das würde sie schön für sich behalten. Dougs Bemerkung hatte offensichtlich eine Vorgeschichte. »Aber was gefällt dir denn eigentlich?«
»Das ist ja eben das Problem.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich hasse meine Wohnung. Sie ist kahl und deprimierend. Und ich hasse das Haus meiner Eltern. Dunkel, muffig und vollgestopft mit dem Nippes meiner Mutter. Nie durfte man irgendetwas anfassen.«
»Da müsste es doch irgendwo eine goldene Mitte geben.« Melody drehte sich langsam im Kreis, während sie über die Räume nachdachte. Sie fragte sich, welche Prioritäten sie selbst setzen würde, wenn sie sich entschließen könnte, sich die Sachen ihrer Mutter vom Hals zu schaffen – die Sachen, die in das Stadthaus ihrer Eltern in Kensington einfach nicht mehr passten. »Ich würde damit anfangen, mir einfach erst einmal ein paar Sachen auszusuchen, die mir gefallen, ohne mir Gedanken darüber zu machen, ob sie zusammenpassen«, sagte sie. »Ich kenne da ein ganz tolles Auktionshaus in Chelsea, in der Lots Road, nahe beim Kraftwerk. Da könntest du dich mal umschauen und sehen, ob dich irgendwas anmacht.«
Du liebe Zeit, hatte sie wirklich anmacht gesagt? Was war nur los mit ihr heute?
Aber Doug schien sich keiner Zweideutigkeit bewusst. Er nickte und sagte: »Stimmt, das könnte ich machen«, als sei ihm die Idee völlig neu.
»Das wird schon werden, wart’s nur ab.« Melody fühlte sich plötzlich beengt, trotz der leeren Räume. »Ich finde, du hast da eine hervorragende Wahl getroffen. Das Haus gefällt mir richtig gut. Aber jetzt sollte ich besser nach Notting Hill zurückfahren.«
»Ich hab doch versprochen, dass ich dich zum Lunch einlade«, sagte er.
»Oh. Recht hast du.« Sie fragte sich, ob sie das Mittagessen ohne weitere Fettnäpfchen überstehen würde. »Was schwebt dir denn so vor?«
Er grinste. »Etwas ausgesprochen Passendes, denke ich, jetzt, wo ich dein dunkles Geheimnis kenne. Das Lokal heißt The Jolly Gardeners.«
Kieran schüttelte Tavies Hand ab, entriegelte Finns Box und befestigte die Leine am Halsband des Hundes. »Ich weiß, wer sie ist«, sagte er, ohne sich zu Tavie umzudrehen. Er traute weder seiner Mimik noch seiner Stimme, seit Tavie ihren Namen gesagt hatte, seit sie ihn so beiläufig hatte fallen lassen wie einen Stein, den man in den Fluss wirft.
Es hatte einen Moment gedauert, bis er die volle Tragweite der Information erfasst hatte. Rebecca. Rebecca Meredith. Für ihn war sie immer nur Becca gewesen.
Und er brachte sie auch nicht automatisch mit ihrem Nachnamen in Verbindung, wenngleich er ihn natürlich kannte, so wie jeder Ruderer. Aber Rebecca Meredith war für ihn eine Fremde; eine Frau, die Kostüme trug und an Wochentagen morgens nach London fuhr, wo sie auf einem Polizeirevier arbeitete; wo die Kaffeebecher aus Styropor, die sie geleert hatte, sich auf einem Schreibtisch sammelten, den er nie gesehen hatte. Eine Frau, die einmal mit diesem Atterton verheiratet gewesen war. Er wusste jetzt, warum Attertons Gesicht ihm so bekannt vorgekommen war. Er hatte eine jüngere Version davon auf einigen alten Fotos gesehen, die ganz hinten in einem Bücherregal in Beccas Wohnzimmer Staub ansetzten.
Rebecca Meredith, das war nicht die Frau, für die Rudern so natürlich war wie Atmen; die lachte, wenn sie sich eine feuchte Haarsträhne aus den Augen wischte und ein Boot auf ihre Hüfte hob – oder die Bettdecke über ihre nackte Schulter zog, die im Schein der Lampe golden glänzte.
»Becca«, flüsterte er. Bitte, lass es nicht Becca sein. Aber er wusste nur zu gut, dass sie in der Abenddämmerung ruderte, und seine einzige Hoffnung war, dass es irgendeine vollkommen rationale Erklärung für ihr Verschwinden gab. Er ließ seine Gedanken abdriften, und das war gefährlich.
Finn stupste ihn an und leckte sein Kinn ab. Der Hund wusste, dass es Zeit war, an die Arbeit zu gehen, und er konnte Kierans Zögern nicht verstehen. »Guter Junge«, sagte Kieran und trat einen Schritt zurück, damit Finn aus dem Auto springen konnte.
Die Hunde begrüßten sich mit Schnüffeln und Schwanzwedeln, doch sie wandten ihre Aufmerksamkeit rasch wieder ihren Führern zu. Tavie beobachtete Kieran mit besorgter, ja beinahe angstvoller Miene, und er rang sich ein Lächeln ab.
»Du siehst fürchterlich aus«, sagte Tavie. Das Lächeln hatte sie keine Sekunde lang täuschen können.
»Du hast doch immer ein Kompliment parat.« Sein Versuch, sich in ihr übliches scherzhaftes Geplänkel zu flüchten, klang selbst in seinen eigenen Ohren verlogen. »Es ist alles in Ordnung, ehrlich.« Er deutete mit dem Kopf auf die Tüte, die sie aus ihrem Wagen genommen hatte. »Komm, legen wir los. Was hast du für die Hunde?«
»Ich habe den Wäschekorb geplündert, als wir das Cottage überprüft haben. Eine wahre Fundgrube – Socken oder Unterhosen für jedes Team. Aber jetzt lass uns erst mal auf die andere Seite vom Zaun gehen.« Tavie trat als Erste durch das Gatter, während Tosh sich an ihr vorbeizwängte und in ihrem Eifer auf Tavies Füße trat. Finn wirkte ungewöhnlich verhalten, und Kieran wusste, dass der Hund sich von seiner Stimmung anstecken ließ.
Als sie den Zaun hinter sich gelassen hatten und nur noch eine matschige Wiese sie vom Uferweg trennte, blieb Tavie stehen. Sie und Kieran ließen die Hunde von der Leine, und nachdem sie sich Handschuhe angezogen hatte, öffnete sie die Tüte – oder vielmehr die Tüten, denn es steckte noch eine papierne in der aus Plastik – und zog einen weißen Stofffetzen heraus: eine Damen-Stretchunterhose, von der zweckmäßigen Sorte, die den Schweiß beim Rudertraining besonders gut absorbierte. Ein idealer Geruchsartikel – und ein Gegenstand, der Kieran erschreckend vertraut war.
Tavie hielt den Hunden die Unterhose hin, nur Zentimeter von ihren Nasen entfernt. »Riech, Tosh! Riech, Finn!«, forderte sie die beiden in dem hohen, singenden Tonfall auf, bei dem sie vor Aufregung zu zittern begannen.
Die Hunde nahmen gehorsam Witterung auf, und Kieran malte sich wie jedes Mal aus, wie die Geruchsmoleküle in ihre Nasen strömten und die Rezeptoren in ihren Gehirnen erregten – eine Empfindung, die Menschen nie würden nachvollziehen können. Zum ersten Mal löste die Vorstellung in ihm eher Widerwillen als Neid aus.
Die Funkgeräte knackten und rauschten, als die Teams auf beiden Seiten des Flusses ihre Positionen durchgaben, und Kieran hörte in der Ferne das Brummen eines Hubschraubers. Das musste der Helikopter der Thames Valley Police sein. Die Besatzung würde das Areal gleichzeitig aus der Luft absuchen und dabei auch Wärmebildkameras einsetzen.
Tavie steckte die Unterhose wieder ein und sagte: »Such sie, Tosh, such Rebecca!«
Doch ehe Kieran Finn das gleiche Kommando geben konnte, begannen beide Hunde zu winseln und an seinen Beinen zu kratzen. Finn sprang an Kieran hoch und setzte ihm die Vorderpfoten auf die Brust – sein Zeichen dafür, dass er etwas gefunden hatte.
»Finn, weg da!« Er drückte den Hund nach unten, während Tavie ihn anstarrte.
»Kieran, was zum Teufel hat das zu bedeuten? Hast du etwas von den Sachen angefasst?«
Er wusste, dass sie sich nicht nur Sorgen machte, er könnte die Hunde verwirren. Sie hatte sicherlich für alle mitgenommenen Geruchsartikel, die wie Beweismittel behandelt werden mussten, unterschrieben und würde zur Verantwortung gezogen, wenn etwas davon kontaminiert wäre.
»Natürlich nicht. Ich habe deine Tüte nicht angerührt.« Das war nur halb gelogen. Er versuchte sich zusammenzureißen. »Komm jetzt, wir verlieren nur Zeit.« Er wandte sich den Hunden zu und klatschte in die Hände. »Finn! Such sie!«, kommandierte er, doch ihren Namen brachte er nicht über die Lippen. Er trabte los in Richtung Fluss – das Signal für Finn, dass er den Geruchskegel absuchen sollte. Tavie folgte ihm, und die Hunde liefen rasch voraus, um sogleich in ihr typisches Zickzackmuster zu verfallen.
Der Wind wehte flussaufwärts, was ideale Arbeitsbedingungen für die Hunde bedeutete, doch Kieran wusste, dass der heftige Regen am Morgen ihre Chancen, eine Hochwindspur aufzunehmen, wohl deutlich verringert hatte.
Im selben Moment, als sie den Fluss erreichten, hörten sie im Funkgerät das Team, das auf gleicher Höhe das andere Ufer absuchte. Scotts Stimme drang nur bruchstückhaft durch. »Hunde … zeigen an … können nicht –«
»Sie sind direkt gegenüber von uns«, sagte Tavie. Sie rief Tosh zu sich und befahl ihr zu warten. »Schau hin. Kannst du sie sehen? Sie müssten genau dort sein, wo der Benham-Wald bis ans Wasser hinunterreicht.«
Kieran bremste schlitternd hinter ihr ab und spähte an der Spitze von Temple Island vorbei zu den Baumgruppen am anderen Flussufer hinüber. Da sah er plötzlich etwas Braun-Weißes im Gestrüpp – Scotts Springer-Spaniel, der aus dem dichten Unterholz am Ufer hervorbrach, einen Augenblick später gefolgt vom Golden Retriever seiner Partnerin Sarah.
Die Hunde sprangen aufgeregt auf und ab, als Scott und Sarah hinter ihnen auftauchten, doch keiner der beiden lief zu seinem Führer zurück, um einen Fund anzuzeigen.
Die beiden Hundeführer traten bis ans Wasser vor, gingen in die Hocke und streckten die Hände aus. Sarahs Stimme, die ein wenig schrill klang, tönte im gleichen Moment aus dem Funkgerät, als Kieran erkannte, was sie da aus dem Schilf hervorzogen. »Es ist ein Boot«, sagte sie. »Wir haben das Boot gefunden.«
Es trieb kieloben im Wasser, und die charakteristischen Farben – weiß mit einem dünnen blauen Streifen – waren vom anderen Ufer aus deutlich zu erkennen. Eines der schlanken Skulls steckte noch in der Dolle.
»Es ist ein Filippi.« Irgendwie machte es Kieran wütend, dass Sarah das nicht wusste. »Was –«
»Keine Spur von der Vermissten«, meldete Scott sich zu Wort. »Und die Hunde legen kein ausgeprägtes Anzeigeverhalten an den Tag, weder im Wasser noch am Ufer.«
Kieran drückte noch einmal auf die Sprechtaste seines Funkgeräts. »Schau nach den Turnschuhen.« Er sah, wie Scott zu ihm aufblickte, und selbst auf die Entfernung konnte er erkennen, dass er nicht wusste, was Kieran meinte. »Dreh das Boot um und schau, ob die Klettverschlüsse der Turnschuhe offen sind.«
»Kieran«, sagte Tavie, »das Boot ist ein Beweisstück.«
»Nun mach schon«, forderte er Scott auf und ignorierte Tavies Ermahnung. Die Sportruderer steckten ihre Füße in Schuhe, die am Stemmbrett des Boots befestigt waren. Und wenngleich es möglich war, die Füße herauszuziehen, ohne die Klettverschlüsse zu öffnen – die Schuhe sollten schließlich nicht zu eng sitzen –, klammerte Kieran sich an der irrationalen Hoffnung fest, dass Becca sich schwimmend hatte retten können, falls es ihr gelungen war, die Laschen zu lösen.
Er sah, wie Scott mit den Schultern zuckte und sich dann vorbeugte und das Boot umzudrehen versuchte. Nach kürzester Zeit war er völlig durchnässt. »Du musst vielleicht das Ruder losmachen«, sagte Kieran ins Funkgerät. »Schraub einfach die Dolle auf.«
Scotts Mund bewegte sich in einem stummen Fluch, während er am Boot herumhantierte und schließlich Sarah das Skull mit dem pinkfarbenen Blatt reichte. Nachdem es ihm gelungen war, das Boot umzudrehen, spähte er ins Heck. »Also, die Klettverschlüsse sind offen.«
»Okay, fass sonst nichts an«, schaltete Tavie sich ein. »Scott, ihr beide müsst an Ort und Stelle bleiben und den Fundort für die Polizei sichern. Ich werde eins der anderen Teams anweisen, euch zu überholen und flussabwärts weiterzusuchen, da es eher unwahrscheinlich ist, dass sie in der anderen Richtung irgendetwas finden werden. Kieran und ich setzen die Suche auf dieser Seite in Richtung Hambleden fort.«
Scott signalisierte ihr mit einem Handzeichen, dass er verstanden hatte, doch Kieran wandte sich bereits ab und schickte Finn los, indem er den Arm ausstreckte und ihm das Suchkommando gab. Tosh setzte Finn sofort nach, und einen Augenblick lang verschwamm ihre schwarz-braune Zeichnung mit Finns schwarzer Silhouette, ehe sie sich von dem Labrador löste und in ihr eigenes Suchmuster verfiel.
Kieran hörte Tavie ins Funkgerät sprechen. Was sie sagte, konnte er nicht verstehen, da der Wind ihre Worte sogleich davonwehte, doch dann vernahm er das Knirschen ihrer Stiefelsohlen auf dem Kies, als sie lostrabte, um zu ihm aufzuschließen.
»Wenn sie sich aus eigener Kraft aus dem Boot befreit hat, dann könnte sie irgendwo verletzt angetrieben worden sein«, sagte er. »Oder bewusstlos.« Er suchte das gegenüberliegende Ufer ab. Es gab hier keine Möglichkeit, den Fluss zu überqueren; man musste entweder zurück nach Henley oder weiter nach Hambleden gehen.
»Kieran, wenn sie aus dem Boot gefallen ist, dann war sie die ganze Nacht im Wasser. Du weißt doch, wie kalt es ist.« Tavie fasste ihn am Arm und hielt ihn zurück, bis er gezwungen war, sie anzusehen. »Du musst dich aus der Suche ausklinken. Jetzt sofort.«
Er sah, dass sie nicht etwa wütend war, weil er sich ihren Anweisungen widersetzt hatte; sie hatte Angst um ihn.
Doch er schüttelte den Kopf und erwiderte: »Ich kann nicht. Ich muss selber sehen – sie ist vielleicht verletzt –«
Das Dröhnen des Hubschraubers wurde lauter. Kieran blickte auf und sah, wie er langsam und unerbittlich flussabwärts auf sie zukam.
Tavie hob die Stimme, um den zunehmenden Lärm zu übertönen. »Mit der Wärmebildkamera haben sie nichts finden können.« Sie wollte ihm klarmachen, dass Becca, wenn sie hier irgendwo sein sollte, bereits kalt war. Zu kalt.
»Sie ist vielleicht nur unterkühlt und hat irgendwo Schutz gesucht.« Aber sie befanden sich jetzt auf gleicher Höhe mit den makellos gepflegten Grünanlagen des Greenlands College jenseits des Flusses, und auf ihrer Seite reichte die Wiese bis an den Pfad heran. Weit und breit war nichts zu sehen, was sich als Unterschlupf angeboten hätte.
Diesmal widersprach Tavie ihm nicht, sondern fiel an seiner Seite in einen gleichmäßigen Trab. Die Hunde arbeiteten schnell, doch sie ließ sie gewähren, und er wusste, dass sie nicht eingriff, weil sie nicht glaubte, dass sie hier irgendetwas finden würden.
Nach einer Wegbiegung kam am anderen Ufer die Mühle in Sicht, und darunter – gleich einem Gemälde – ihr perfektes Spiegelbild auf dem Wasser. Darüber ballten sich schon wieder dunkle Wolken zusammen und verfärbten den Himmel wie ein Bluterguss.
Auf ihrer Seite floss das Wasser schneller und strömte auf das nahe Wehr zu. Zwischen den Pfeilern der Fußgängerbrücke schoss es hindurch, in gewaltigen Bahnen von torfbrauner Farbe, um dann schäumend und sprudelnd über die Stufen des Wehrs hinunterzustürzen. Ein Stück Treibholz hatte sich an einer der Stufen verfangen – eine verdrehte, dunkle Silhouette, die die Fluten teilte wie ein menschlicher Körper.
Ein Tosen erfüllte Kierans Ohren. Er konnte nicht feststellen, ob das Geräusch aus seinem Kopf kam oder von außerhalb.
Die Hunde blieben auf dem Uferweg; sie suchten jetzt in einem engeren Radius und wedelten immer heftiger mit den Schwänzen. Hinter dem Wehr schwappte das immer noch aufgewühlte Wasser in Strudeln und Wirbeln in eine Gruppe von halb überschwemmten Bäumen hinein, zwischen denen sich Treibgut verfangen hatte.
Beide Hunde konzentrierten sich jetzt auf die Uferböschung. Tosh schnüffelte am Rand und senkte den Kopf, bis ihre Schnauze fast die Wasseroberfläche berührte. Sie sah aus, als ob sie das Wasser aufleckte, mit gezierten Bewegungen, als sei sie bei einer Hunde-Teegesellschaft zu Gast. Aber Kieran wusste, dass sie die Geruchsmoleküle mit der Zunge aufnahm. Finn winselte und tänzelte an ihrer Seite.
Tosh wich zurück und bellte, den Kopf in Erwartung von Anweisungen zu Tavie gewandt. Tavie kniete sich hin und legte eine Hand an das Geschirr der Hündin. Die Strömung war hier noch stark, weshalb sie verhindern wollte, dass Tosh ins Wasser ging, wenn es nicht unbedingt nötig war.
Tavie hielt sich schützend die Hand über die Augen, während sie sich weit über die glänzende Wasserfläche beugte, um in das Gewirr aus Baumstämmen und Treibholz zu spähen. Als sie plötzlich erstarrte, ließ Kieran sich neben ihr auf die Knie fallen.
Tavie drehte sich zu ihm um und stieß ihn zurück, als könne sie so verhindern, dass er sah, was sie gesehen hatte. Aber es war zu spät.
Dicht unter der Oberfläche bewegten sich Strähnen von dunklem Haar wie Farn, und weiße Finger, leicht gekrümmt, trieben hin und her, als ob sie winkten, um Hilfe herbeizurufen.
»Nein«, sagte Kieran. »Nein.« Und das Tosen überwältigte ihn.