18
Dass unsere Partnerschaft funktionierte, beruhte nicht auf Glück, sondern auf intensivem Training, einem Schuss Kreativität und absoluter Konzentration auf das Ziel.
Brad Alan Lewis, Assault on Lake Casitas
Als Kincaid in Henley ankam, folgte er der New Street hinunter zum Themseufer, vorbei am Hotel du Vin und an Freddie Attertons Wohnung. Er stellte den Wagen auf einem Parkplatz direkt am Fluss ab, von wo er die Lichter der Henley Bridge und den Leander-Club auf der anderen Seite sehen konnte.
Es war inzwischen völlig dunkel, aber er stellte sich die Szenerie so vor, wie sie sich am späten Nachmittag des vergangenen Montags dargeboten haben musste – das schwindende Licht auf dem Fluss, das schlanke Boot, gespenstisch weiß im Dämmerlicht, wie es sich vom Anleger des Leander abstieß.
Er ließ das Autofenster herunter und lauschte, hörte im Geist das leise Plätschern der Ruderblätter, das rhythmische Quietschen des Rollsitzes, der sich auf den Schienen vor- und zurückbewegte, das dumpfe Geräusch, mit dem die Skulls gegen die Dollen stießen, während das Boot vorüberglitt. Und schließlich in der Dunkelheit verschwand.
Widerstrebend wandte er den Blick vom Fluss ab und schaltete das Handy ein, um seine Nachrichten abzuhören. Nichts von Chief Superintendent Childs – doch seine Erleichterung war nur von kurzer Dauer, als er über die Konsequenzen nachdachte.
Hieß das etwa, dass Craig sich nicht über Kincaids Besuch und seine Anschuldigungen beschwert hatte? Dass er erst einmal abwartete, ob seine Drohungen ausgereicht hatten, um Kincaid abzuschrecken?
Und wenn dem so wäre, war das ein weiterer Beweis seiner Schuld?
Oder war es nur so, dass Craig sich zuerst der nötigen Unterstützung versicherte und dass sein Gegenschlag noch bevorstand?
Aber es spielte keine Rolle, ob Craig jetzt oder später zurückschlug, dachte Kincaid – er hatte jetzt auch nicht mehr Beweise gegen Craig in der Hand als vor seinem Gespräch mit ihm. Im Gegenteil, nachdem Craig möglicherweise sowohl für Montagnachmittag als auch für Mittwochabend ein Alibi hatte, waren es sogar noch weniger.
Er blickte wieder auf den Fluss hinaus und ging die Abfolge der Ereignisse durch, wie er sie rekonstruiert hatte. Wenn Rebecca Meredith kurz nach halb fünf vom Leander losgerudert war, dann hatte sie irgendwann zwischen fünf und halb sechs Temple Island umrundet und begonnen, flussaufwärts zurückzurudern.
War es denkbar, dass Craig Rebecca um fünf Uhr ermordet hatte, dass er anschließend nass und verdreckt, wie er war, zu seinem Wagen zurückgegangen und nach Hambleden gefahren war, um sich zu Hause zu waschen und umzuziehen und dann noch vor sechs ins Pub zu spazieren, als wäre nichts geschehen?
Auf jeden Fall nicht ohne Wissen seiner Frau, falls sie zu Hause gewesen war; allerdings glaubte Kincaid sicher davon ausgehen zu können, dass er von Edie Craig keine belastende Aussage bekommen würde.
Sie brauchten Sachbeweise, um Craig mit dem Verbrechen in Verbindung zu bringen – Haare, Fasern oder Fußabdrücke am mutmaßlichen Tatort, die von ihm stammten oder mit Spuren in seinem Wagen übereinstimmten. Aber auch das stünde auf wackligen Beinen, da sie keinen unwiderlegbaren Beweis hatten, dass Rebecca Meredith tatsächlich an der von Kieran bezeichneten Stelle ermordet worden war. In jedem Fall hatte Kincaid nicht genug konkrete Indizien gegen Craig in der Hand, um einen Spurenvergleich beantragen zu können.
Und selbst wenn er Craig den Mord an Rebecca nachweisen könnte, sah es immer noch danach aus, dass er ein wasserdichtes Alibi für den Zeitpunkt des Brandanschlags auf Kierans Bootsschuppen hatte.
Doch wenn Craig Kieran nicht angegriffen hatte, wer dann? Nicht Freddie Atterton, wenn die Verbindungsdaten und die Aussage seiner Exschwiegermutter sein Alibi bestätigten.
Kincaid überlegte, ob er in Henley bleiben sollte. Sollte er noch einmal mit Atterton sprechen? Oder sich Kieran Connolly ein zweites Mal vornehmen? Er hatte das Gefühl, gegen eine Wand zu rennen, doch er wusste genau, dass dort hinter der Wand irgendetwas war – wenn er es nur sehen könnte. Und wenn er den richtigen Leuten die richtigen Fragen stellte. Aber wem und welche Fragen?
Die Luft, die vom Fluss her wehte, war kalt. Er fröstelte und schloss das Fenster, und er war kurz davor, sich im Red Lion ein Zimmer zu nehmen, als sein Handy klingelte. Er erschrak so, dass er es fast fallen ließ, doch nachdem er es endlich richtigherum gedreht hatte, sah er, dass es nur Doug war.
»Chef«, sagte Doug, sobald Kincaid sich gemeldet hatte. »Ich bin gerade im Yard angekommen. Ich habe –«
»Haben Sie den Chief Super gesehen?«, unterbrach ihn Kincaid.
»Nein, aber –«
»Dann machen Sie sich besser unsichtbar. Ich bin nämlich in ein Wespennest getreten und will nicht, dass Sie auch gestochen werden.«
Es war einen Moment lang still, während Doug die Information verarbeitete. Dann sagte er: »Ich bin in Ihrem Büro, und soviel ich weiß, ist der Chief schon nach Hause gegangen.« Vorsichtig fügte er hinzu: »Ähm, das Gespräch ist wohl nicht so gut gelaufen, nehme ich an?«
»Kommt drauf an, wie man es sieht.« Kincaid gab sich Mühe, seine Stimme ruhig zu halten. »Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass er Rebecca Meredith vergewaltigt hat. Er hat es so gut wie zugegeben. Aber ich sehe einfach keine Möglichkeit, ihm den Mord nachzuweisen.«
»Was ist mit Connollys Bootsschuppen?«
Kincaid wand sich ein wenig. »Craig hat überrascht reagiert, als ich ihn fragte, wo er am Mittwochabend war. Ich glaube nicht, dass er von dem Anschlag wusste. Und angeblich war er zu der Zeit in London, in einer Besprechung mit sehr wichtigen Leuten, wie er sich ausdrückte.«
»Aha. War einer von diesen wichtigen Leuten vielleicht Peter Gaskill?«
»Würde mich nicht überraschen.«
»Das ist ein Grund, weshalb ich anrufe.« Doug klang sehr zufrieden mit sich. »Ich habe ein bisschen recherchiert. Scheinen ziemlich dick miteinander zu sein, Ihr Freund Craig und Gaskill. Zum Beispiel in dem Sinne, dass Gaskill ihm seine Beförderung verdankt.«
»Sie haben doch nicht mit Gaskill gesprochen, oder?«, fragte Kincaid alarmiert.
»Nein. Ich wäre ihm sowieso aus dem Weg gegangen, aber er war heute Nachmittag gar nicht im Büro, sondern beim Golfen.«
»Ach, tatsächlich?« Kincaid war gar nicht einmal so überrascht. »Welch ein Zufall. Unser Freund war nämlich auch beim Golfen. Mit wem haben Sie geredet?«
»Mit DC Bisik. Offenbar hatte Sergeant Patterson recht, als sie sagte, sie wolle lieber nicht gesehen werden, wie sie sich mit uns unterhielt. Mit Dienstschluss gestern Abend ist sie in einen anderen Bezirk versetzt worden.«
»Was?« Kincaids Hand krampfte sich um das Telefon. »Wohin?«
»Dulwich. Ich habe auf dem Revier dort nachgefragt. Sie hat sich heute Morgen zum Dienst gemeldet; allerdings war der Inspector offenbar ein wenig überrascht – er hatte gar nicht gewusst, dass er noch einen Detective Sergeant brauchte.«
Ohne Zweifel das Werk von Gaskill, dachte Kincaid. Und vermutlich auch von Craig – er hatte wohl eine Befehlskette angestoßen, die in DS Pattersons prompter Versetzung resultiert hatte. Kincaid fragte sich nur, wie viele der Glieder in dieser Kette willige Helfershelfer waren.
»Sie war schon gegangen, als ich auf dem Revier anrief. Bisik hat mir ihre Handynummer gegeben«, fuhr Doug fort, »aber sie geht nicht ran.«
»Nein«, meinte Kincaid. »Das kann ich mir vorstellen.« Er trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. »Ich vermute, sie hat ihre Lektion gelernt und wird so schnell nicht mehr aus der Schule plaudern.«
»Nun ja, wir werden trotzdem noch einmal mit ihr reden müssen. Es ist nämlich so, dass Bisik nur eine Sache eingefallen ist, die an Rebecca Meredith’ Tagesablauf am Freitag aus der Reihe fiel. Sie hatte Besuch von einer Kollegin, einer DCI von der Sitte. Anscheinend eine alte Bekannte. Bisik wurde ihr nicht vorgestellt, aber Kelly Patterson vielleicht schon, meint Bisik. Er meinte auch, dass Rebecca wahrscheinlich mit dieser Kollegin noch etwas trinken gegangen ist.
Gaskill dürfte wohl wissen, wer sie ist, da bin ich mir sicher, aber Sie wollen vermutlich nicht, dass ich ihn frage«, fügte Doug hinzu. »Und den Chief auch nicht.«
»Nein.« Kincaid dachte über ihre Strategie nach. »Wenn Patterson Sie bis heute Abend nicht zurückruft, könnten Sie dann gleich Morgen früh bei ihrer neuen Dienststelle sein? Inoffiziell.«
Er bekam es irgendwie nicht in seinen Kopf, dass er sich in dieser Angelegenheit nicht an seinen eigenen Chief Superintendent wenden konnte. Wie viel wusste Childs? War er in Craigs und Gaskills Machenschaften eingeweiht, oder befolgte er selbst auch nur Anweisungen?
Kincaid fiel es immer noch schwer zu glauben, dass der Mann, den er zu kennen vermeint hatte und den er nicht nur als Vorgesetzten, sondern auch als Freund betrachtete, Craig decken würde, wenn er die Wahrheit über ihn kannte.
Ob er vielleicht versuchen sollte –
»Augenblick mal«, sagte Doug. »Auf Ihrem Computer ist gerade eine E-Mail eingegangen. Es sind die Laborergebnisse der Spurensicherung von Freddie Attertons Wagen und den Sachen, die sie aus seiner Wohnung mitgenommen haben.« Es war einen Moment still, während Doug las, und Kincaid sah ihn vor sich, wie er sich die Brille auf der Nase hochschob. Dann fuhr Doug fort: »Sie können dem Chief sagen, dass Sie es ja gleich gewusst haben. Weder im Auto noch an der Kleidung fanden sich Gras- oder Lehmspuren vom Flussufer. Auch bei den Fasern keine Übereinstimmung. Und der Fußabdruck am Tatort war eine Nummer kleiner als Attertons Schuhgröße.
Und« – Doug klang plötzlich ganz aufgeregt – »in dem Treibgut, das sich am Ufer verfangen hatte, haben sie einen Splitter Farbe gefunden, der zu dem Filippi passt.«
»Sie wurde also tatsächlich dort ermordet«, sagte Kincaid langsam. »Und zwar nicht von Freddie Atterton.« Er dachte an Freddie und an Kieran Connolly, die beide etwa die gleiche Größe und Statur hatten. »Ich wette, dass durch die kleinere Schuhgröße auch Kieran Connolly durchs Raster fällt.«
»Sie hatten geglaubt, Connolly könnte die ganze Geschichte mit dem Mann am Themseufer erfunden und dann seinen eigenen Schuppen abgefackelt haben, um sie plausibler erscheinen zu lassen?«
»Wissen Sie immer so genau, was ich glaube?«, entgegnete Kincaid, nun schon wieder mit einem Anflug von Humor. »Aber es stimmt, ich habe so etwas in Betracht gezogen, auch wenn ich es nicht für sehr wahrscheinlich hielt.«
Aber wenn sie Freddie ausschlossen und auch Kieran, dann landeten sie wieder bei Angus Craig, und Kincaid war wieder da, wo er angefangen hatte. Wie zum Teufel konnten sie –
Sein Handy summte und zeigte damit an, dass jemand »anklopfte«. Es war Gemma. »Bleiben Sie dran. Oder nein, ich ruf Sie gleich zurück«, sagte er zu Doug und stellte um.
Gemma ließ ihm kaum Zeit, hallo zu sagen, und sprudelte sofort ganz aufgeregt los. »Wir haben etwas gefunden. Oder vielmehr, Melody hat es gefunden, als sie beim Sapphire-Projekt die Akten von ungeklärten Vergewaltigungsfällen durchgegangen ist. Eine Polizeibeamtin, vergewaltigt und ermordet. Vor sechs Monaten. Der Fall passt in sein Muster.«
Als sie endlich außer Atem innehielt, waren seine Hände kalt, und ihm war flau im Magen. »Gibt es irgendwelche Beweise?«, fragte er.
»Möglicherweise eine Zeugin. Eine Kellnerin in dem Pub, wo die Frau an dem Abend, bevor sie ermordet wurde, etwas getrunken hatte. Wir können sie erst morgen erreichen.«
»Habt ihr mit irgendwem sonst darüber geredet, du oder Melody?«
»Nein, ich habe nichts –«
»Dann tut es auch nicht.« Er wusste, dass sein Ton scharf war, aber er musste sichergehen, dass seine Botschaft ankam. »Ruf im Pub an und schärfe den Leuten, mit denen ihr gesprochen habt, ein, dass sie mit niemandem darüber reden sollen – oder nein, lass Melody das machen. Ich will nicht, dass du mehr als unbedingt notwendig in die Sache verwickelt wirst. Wo bist du jetzt?«
»Ich wollte gerade zu Betty, um Charlotte abzuholen.«
»Dann hol sie ab und geh mit ihr nach Hause«, forderte er sie mit ernster Stimme auf. »Bleib dort und sprich mit keinem Menschen. Sag auch Melody, dass sie mit niemandem sprechen soll. Ich will nicht, dass irgendjemand sonst davon erfährt, solange wir nicht sicher wissen, ob die Kellnerin den Mann identifizieren kann.«
»Du glaubst, dass er wirklich gefährlich ist, nicht wahr?« Gemma klang jetzt gedrückt; von der Aufregung über ihre Entdeckung war nichts mehr zu spüren.
»Ja, das glaube ich.« Er dachte an die Boshaftigkeit und die maßlose Arroganz, die Angus Craig aus jeder Pore troff, und er wünschte, er hätte Gemma von Anfang an von diesem Fall ferngehalten. »Pass bloß gut auf dich auf, Schatz. Ich bin in einer Stunde zu Hause.«
Er hatte Doug auf der Fahrt zurück nach London vom Auto aus angerufen, um ihm zu berichten, was er von Gemma erfahren hatte, und ihn zu bitten, es weiter bei Kelly Patterson zu versuchen.
Als er endlich in Notting Hill ankam, war er froh, das Haus zu sehen, mit seiner einladenden roten Haustür und dem warmen Licht in den Fenstern. Und er versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass sie dieses Zuhause – jedenfalls in einem gewissen Sinn – Denis Childs zu verdanken hatten.
Gemma begrüßte ihn, als er eintrat, drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen und ließ ihre Wange dann ein wenig länger als sonst an seiner ruhen. »Hast du Hunger?«, fragte sie, während sie sich von ihm löste. »Ich fürchte, es gibt schon wieder Pizza. Ich hab auf dem Nachhauseweg bei Sugo’s Halt gemacht.« Mit einem kleinen Lächeln fügte sie hinzu: »Wir verwandeln uns noch alle in Pizzen, wenn wir nicht aufpassen.«
»Toby wäre sicher hellauf begeistert. Was würde er sich wohl aussuchen, was meinst du? Salami?« Kincaid hängte seinen Mantel auf, den er aus dem Kofferraum gefischt hatte. Er bückte sich, um Geordie, den Cockerspaniel, und Sid zu streicheln. Der dicke schwarze Kater ahnte inzwischen mit einem geradezu hundeartigen Instinkt Kincaids Ankunft voraus und legte sich immer fünf Minuten vorher wie zufällig zu einem Nickerchen auf das Bänkchen in der Diele.
»Dann wärst du wohl Artischocke.«
»Psst. Verrat den Kindern nichts«, sagte Kincaid, bemüht, einen Anschein von Normalität zu wahren. »Vielleicht muss ich ein bisschen mehr Fantasie in puncto Abendessen entwickeln, wenn ich bald den ganzen Tag zu Hause bin. Ich werde ja schließlich ein richtiger Hausmann sein.«
Gemma streifte ihn mit einem fragenden Blick, sagte aber lediglich: »Die Kinder haben gegessen, und die Kleinen sind auch schon gebadet. Charlotte wartet noch, dass du ihr gute Nacht sagst. Und deine Pizza mit Artischocken und Schinken steht schon zum Warmhalten im Ofen.«
»Okay. Danke, Schatz.« Es war warm im Haus, und als er einen Blick ins Wohnzimmer warf, sah er, dass Gemma den Gaskamin eingeschaltet hatte. Es war aber niemand im Zimmer. »Die Jungs sind wohl oben.«
»Ja – angeblich lesen sie.« Gemma verdrehte die Augen. »Der Himmel weiß, was Toby tatsächlich treibt. Kit schreibt wahrscheinlich SMS.«
»An Lally?«
Gemma nickte. »Ich fürchte, wir müssen das mit der SMS-Flatrate noch mal überdenken.«
Sie hatten Kit zu seinem Geburtstag Ende Juni ein einfaches Handy ohne Extras geschenkt, sowohl aus Sicherheitsgründen als auch, weil sie hofften, dass er sich damit in der Schule besser integrieren könnte. Die Stunden, die er jeden Tag damit zubrachte, mit seiner Cousine Lally SMS auszutauschen, waren allerdings nicht gerade das, was ihnen vorgeschwebt hatte. Und obwohl Kincaid seine Nichte wirklich mochte, wusste er doch auch, dass sie nicht nur emotional instabil war, sondern auch zum Klammern neigte. Er fand, dass ein zu intensiver Kontakt mit ihr Kit nicht guttäte.
»Ich seh mal nach ihnen.« Er zog sein Jackett aus, hängte es neben seinen Mantel und die Regenjacken der Kinder an die Garderobe und stieg die Treppe hinauf zu Charlottes safrangelbem Zimmer im ersten Stock.
Er lugte durch die halboffene Tür. Die Nachttischlampe war heruntergedimmt und warf einen schwachen Lichtkegel auf die kleine Gestalt unter der Bettdecke. Als er ins Zimmer trat, sah er, dass Charlotte fest schlief. Sie hatte die Decke bis unter die Nase gezogen, doch eine kleine Hand guckte heraus und war nach der leuchtend blauen Haarschleife ausgestreckt, die auf der Kante des Nachttischs lag.
Er setzte sich auf die Bettkante und strich ihr die Haare aus der Stirn. Sie rührte sich nicht. Behutsam beugte er sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Augenbraue, wobei er darauf achtete, sie nicht mit seinen Bartstoppeln zu pieksen. Dann schob er ihre Hand unter die Decke.
Er war froh, dass er heimgekommen war.
Auf Zehenspitzen schlich er sich hinaus, um nach den Jungs zu sehen, und konnte erfreut feststellen, dass Toby mit etwas relativ Harmlosem beschäftigt war – er baute eine Eisenbahn auf dem Boden seines Zimmers.
Kit las ein Buch – jedenfalls hatte er eines in der Hand, doch als Kincaid eintrat, sah er, wie der Junge rasch sein Handy unter der Bettdecke verschwinden ließ.
Kincaid sah ein, dass Gemma recht hatte, aber das doppelte Problem von Kits Handynutzung und seinem Verhältnis zu seiner Cousine würde noch ein wenig warten müssen. Im Moment beschäftigten ihn andere Dinge.
Nachdem er mit den Jungs geredet hatte, ging er wieder nach unten, wo ihm Gemma schon einen Teller mit seiner Pizza hingestellt und ein Glas Rotwein eingeschenkt hatte. Sie hatte die Flasche Bordeaux aufgemacht, die er für einen besonderen Anlass beiseitegelegt hatte.
Kits Terrierhündin Tess lag oben am Fuß seines Betts, doch Geordie war bei Gemma in der Küche geblieben. Jetzt machte er es sich auf dem Boden bequem und legte mit einem Seufzer den Kopf auf Kincaids Fuß. Sid hockte etwas abseits auf einem Stuhl und beäugte gierig die Pizza. Der Kater war einfach unverbesserlich, er versuchte immer wieder Essen zu stibitzen.
Gemma trank Tee und hatte einen Stapel Papiere neben ihrer Tasse liegen. Als er danach griff, legte sie ihre Hand auf seine und sagte: »Iss erst mal was.«
Gehorsam aß er ein Stück von der Pizza mit seinem Lieblingsbelag und trank ein halbes Glas Wein. Aber er hatte keinen Appetit, und der Wein, den er eigentlich in Ruhe hatte genießen wollen, hinterließ einen galligen Geschmack in seinem Mund.
Er dachte an das Feuer, das einladend im Wohnzimmer brannte. Doch sie saßen hier, in der Küche, wo alle wichtigen Gespräche stattzufinden schienen. War es in anderen Familien genauso?, fragte er sich. Für einen kurzen Moment verspürte er eine heftige Sehnsucht nach der Küche seiner Eltern in Cheshire, wo in seiner Familie alles von Bedeutung diskutiert worden war. Und wo er und Juliet sich als Kinder stets sicher und geborgen gefühlt hatten.
Aber heute fühlte er sich nicht einmal hier sicher. Er schob seinen Teller weg und griff nach den Papieren, und diesmal hinderte Gemma ihn nicht daran.
Sie beobachtete ihn, während er las, und als er aufblickte, war ihre Miene ernst. »Er war es, nicht wahr?«
Kincaid nickte. »Ich glaube, ja.«
»Er hat sich von Mal zu Mal gesteigert, oder? Hat sich Frauen in immer höheren Positionen als Opfer ausgesucht, ist immer gewalttätiger geworden. Mit Rebecca Meredith ist er ein großes Risiko eingegangen, und er ist damit durchgekommen. Das muss ihm das Gefühl gegeben haben, unbesiegbar zu sein.« Sie streckte die Hand aus und tippte auf den Papierstapel. »Glaubst du, dass diese Frau – Jenny Hart – glaubst du, dass sie ihm gesagt hat, sie würde sich nicht dazu erpressen lassen, den Mund zu halten?«
Er griff wieder nach den Papieren und sah sich die Tatortfotos an. Der Couchtisch in Jenny Harts Wohnzimmer war umgekippt, der Boden mit Glasscherben übersät, Zeitschriften und Zeitungen lagen umher. »Nicht nur das«, sagte er. »Sie hat sich gewehrt, und zwar heftig. Die anderen Frauen – haben die von Verletzungen gesprochen? Haben sie angegeben, dass sie geschlagen oder gewürgt wurden?«
»Geschlagen, ja«, antwortete Gemma. »Ein Opfer hatte einen Jochbeinbruch. Und die Fotos in Rebecca Meredith’ Akte zeigen Prellungen im Hals- und Schulterbereich.«
Kincaid dachte an Angus Craigs kräftige Arme und Schultern. Wenn er eine Frau vergewaltigte, setzte Craig das Überraschungsmoment, körperliche Kraft und Einschüchterung ein, wahrscheinlich in dieser Reihenfolge. Aber bei Jenny Hart hatte er sich den Teil mit der Einschüchterung vielleicht gespart. Womöglich war sein gewalttätiger Trieb so mächtig geworden, dass es kein Zurück mehr gab.
Kincaid vermutete, dass Craigs Vergewaltigungen vor Jenny Hart Gelegenheitsverbrechen gewesen waren, obwohl er sicherlich gezielt zu Feiern und Pubabenden gegangen war, in der Hoffnung, dort ein geeignetes Opfer zu finden.
War es bei Hart anders gewesen? Hatte er gewusst, welches ihr Stammlokal war und wann er sie dort vermutlich antreffen würde? Hatte er den Mord schon geplant, als er Jenny Hart an jenem Abend im Pub getroffen hatte?
Wenn ja, dann erschien der Mord an Rebecca Meredith wie eine vergleichsweise unspektakuläre und mit Bedacht durchgeführte Aktion. Wieso hatte er sie nicht zu Hause überrascht, wenn er doch wusste, dass sie allein lebte?
Kincaid beantwortete seine eigene Frage: Weil Craig gewusst hatte, mit wem er es bei Rebecca Meredith zu tun hatte, und ihm wohl klar gewesen war, dass sie sich nicht ein zweites Mal würde überrumpeln lassen.
Aber was Kincaid immer noch nicht verstand, war, warum Craig sich entschieden hatte, Rebecca Meredith jetzt zu töten anstatt schon vor einem Jahr, als sie zum ersten Mal gedroht hatte, ihn zu entlarven.
Was um alles in der Welt hatte die Tat ausgelöst? Und war Craig nicht auf den Gedanken gekommen, dass Gaskill Verdacht schöpfen würde, wenn Rebecca unter so mysteriösen Umständen starb? Oder war Gaskill so korrupt, dass Craig sich selbst in dieser Situation voll auf ihn verlassen konnte …
»Erde an Duncan!« Gemma wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. »Du bist ja ganz weit weg, Schatz. Wie wär’s, wenn du mal mit mir redest?«
»Das gefällt mir nicht«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Es gefällt mir nicht, dass du und Melody in diese Geschichte verwickelt seid. Craig hat zu viel Einfluss.« Der Gedanke, dass Gemma mit diesem Mann in Berührung gekommen war, wenn auch nur ganz flüchtig, ließ ihn rot sehen.
»Ich übernehme ab sofort die Ermittlungen im Fall Jenny Hart«, fuhr er fort. »Doug und ich werden morgen die Kellnerin befragen – obwohl es vielleicht besser wäre, wenn ich Doug da auch heraushalten würde.«
Gemma warf ihm einen Blick zu, der besagte, dass das mit ihr nicht zu machen war. »Und wenn der Chief dich von dem Fall abzieht, ehe du dazu kommst?«, fragte sie. »Was dann? Dann stehst du mit leeren Händen da, und niemand kann Craig irgendetwas anhaben. Lass Melody die Befragung übernehmen. Es ist eine berechtigte Nachermittlung im Rahmen des Sapphire-Projekts, und sie muss es mit niemandem absprechen. Wenn die Zeugin eine eindeutige Identifizierung liefert, kannst du von da an übernehmen.«
Sie hatte recht, auch wenn er das äußerst ungern zugab. Er trank noch einen Schluck von seinem Wein und sagte dann zögernd: »Na schön. Aber es ist Melodys Befragung, nicht deine«, warnte er. »Ich will nicht, dass du in irgendeiner Weise da hineingezogen wirst.«
»Natürlich nicht«, sagte sie, doch sie grinste dabei wie die Katze aus Alice im Wunderland.
Er spürte, wie sein Blutdruck in die Höhe schoss. »Du musst das ernst nehmen, Gemma. Hast du dir diese Fotos wirklich gründlich angeschaut?« Er schlug mit der flachen Hand auf den Papierstapel, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, während er fortfuhr: »Ich glaube, dir ist gar nicht klar, wie gefährlich dieser Mann wirklich ist. Ich will nicht –«
Sein Handy klingelte. Er hatte es auf den Tisch gelegt, als er sich zum Essen hingesetzt hatte, und von der Vibration stieß das Besteck klappernd gegen seinen Teller. Geordie hob den Kopf und knurrte.
»Verdammt«, murmelte Kincaid, während er nach dem Störenfried griff. »Was ist denn jetzt schon wieder? Ich schwöre, wenn das verfluchte Teil das nächste Mal klingelt, schmeiße ich es ins Klo!«
Die Art, wie seine Kiefermuskeln sich anspannten, erinnerte ihn daran, dass er immer noch auf Angus Craigs Vergeltungsschlag wartete.
Aber auch diesmal war es nicht der Chief Superintendent, der anrief, um Craigs Zorn auf ihm abzuladen oder Kincaid eine offizielle Rüge zu erteilen.
Laut Display war es Detective Constable Imogen Bell.
»Sir«, sagte sie, als er sich meldete, und sie klang überraschend verschüchtert. »Hier DC Bell. Tut mir leid, dass ich Sie so spät noch belästige, und wahrscheinlich sind Sie zu Hause – ich habe im Red Lion nachgefragt, und da hieß es, Sie seien abgereist …«
»Es spielt doch keine Rolle, wo ich bin, Bell. Raus mit der Sprache.« Er fing Gemmas fragenden Blick auf und zuckte ratlos mit den Achseln.
»Es tut mir leid, Sir«, sagte Bell. »Ich wollte nicht neugierig sein.« Sie klang jetzt noch verlegener. »Es ist nur so, dass – ähm, ich habe hier ein kleines Problem. Wie es aussieht, habe ich … also, offenbar habe ich Freddie Atterton verloren.«