22
Sie waren sich eines Morgens auf dem Fluss begegnet, als ihre Ruder um ein Haar in voller Fahrt zusammenstießen.
Daniel J. Boyne, The Red Rose Crew: A True Story of Women, Winning, and the Water
Kincaid konnte das Feuer schon riechen, als sie im Dorf ankamen, trotz der geschlossenen Wagenfenster.
Er und Cullen hatten die Fahrt von London nach Hambleden in grimmigem Schweigen verbracht. Doug, der auf dem Beifahrersitz saß, war ein wenig grün im Gesicht, und Kincaid selbst wollte keine Spekulationen anstellen, solange er nicht genau wusste, was passiert war.
»Ich hätte vielleicht lieber auf den Glühwein verzichten sollen«, meinte Doug jetzt.
Kincaid nickte zustimmend. Er hatte den Verdacht, dass er selbst das eine Stück Geburtstagstorte und das Glas Bowle noch bereuen würde – mehr hatte er vor Childs’ Anruf gar nicht geschafft. Immer wieder musste er an Edie Craig denken, die trotz ihrer Verzweiflung freundlich zu ihm gewesen war, obwohl sie es nicht nötig gehabt hätte.
Er hatte gewusst, dass sie Craig hätten festnehmen sollen, aber so etwas – damit hatte er nicht gerechnet.
Die engen Dorfstraßen waren mit Fahrzeugen verstopft, der Parkplatz des Pubs bis auf den letzten Quadratmeter besetzt – sicherlich weit mehr als an einem normalen Samstag. So eine Tragödie war immer gut für den Umsatz.
Ein paar Schaulustige standen sogar auf der Straße herum. Kincaid musste hupen und sie mit Zeichen auffordern, den Weg freizumachen, als er die Zufahrt zu Craigs Anwesen erreichte.
Er ließ das Fenster herunter und zeigte dem uniformierten Constable, der an der Abzweigung postiert war, seinen Dienstausweis. Als er weiterfuhr und den Wagen auf den Rasen lenkte, schlug ihnen der Gestank wie eine Woge entgegen. Bildete er sich nur ein, dass er in dem beißenden Rauchgeruch die unverkennbare Note von verkohltem Fleisch wahrnehmen konnte?
Dann blickte er auf und sah das Haus.
»O Mann«, flüsterte Doug neben ihm.
Der schöne rote Backstein war schwarz von Feuer und Ruß, die Fenster zersprungen, das Dach an mehreren Stellen eingebrochen. Es war offensichtlich, dass das Feuer ungehindert gewütet hatte, ehe die Feuerwehr eingetroffen war.
Zwei der Löschfahrzeuge standen noch in der Auffahrt wie rote Wachtposten, und lange Schläuche zogen sich bis in das ausgebrannte Haus hinein. Ein wenig abseits von den Feuerwehrleuten und den uniformierten Beamten stand eine Gruppe von Männern in Zivil, unter ihnen Chief Superintendent Denis Childs, dessen füllige Gestalt nicht zu übersehen war. Als sie ausstiegen und hinübergingen, kam er ihnen entgegen.
»Was ist passiert?«, fragte Kincaid nur. Er wusste nicht, ob er sich hätte beherrschen können, wenn er mehr gesagt hätte.
»Der Alarm wurde um zwei Uhr früh ausgelöst, aber als die Feuerwehr eintraf, hatten die Flammen schon das ganze Gebäude erfasst. Erst vor einer halben Stunde konnten sie das erste Team hineinschicken.« Childs trug seinen Burberry über einer Cordhose und einem alten Pullover, und sein normalerweise so akkurat frisiertes dunkles Haar war ungekämmt und vom Wind zerzaust.
Der ungewohnte Anblick seines Chefs in diesem derangierten Aufzug verstärkte noch Kincaids Gefühl von Unwirklichkeit. »Ist es wahr? Sie sind beide tot?«
Childs nickte nur und wandte den Blick ab.
Kincaid schluckte. »Wie ist es passiert?«
»Laut Auskunft des Brandermittlers« – Childs wies auf einen Mann, der soeben aus dem Haus kam, und Kincaid erkannte den Spezialisten, den er bei Kieran Connollys Bootsschuppen getroffen hatte – »sieht es nach einem erweiterten Suizid aus. Nach einer ersten Einschätzung wurde Mrs. Craig aus kurzer Entfernung erschossen. Anschließend hat Craig offenbar das Feuer gelegt und sich dann selbst erschossen.«
Kincaid schüttelte den Kopf. »Ich will es selbst sehen.« Er ging auf das Haus zu, doch Childs packte seinen Arm mit festem Griff. »Sie können da nicht reingehen, Duncan. Es ist zu heiß. Es wird noch Stunden dauern, und dann muss erst einmal die Spurensicherung rein. Das wissen Sie doch.«
Kincaid schüttelte ihn ab und drehte sich zu ihm um. »Was ich weiß, ist, dass es nicht dazu hätte kommen müssen. Wir hätten von dem richterlichen Beschluss Gebrauch machen und ihn festnehmen sollen. Dann würde Craig jetzt in einer Zelle sitzen und auf seinen Anwalt warten, und Edie Craig wäre noch am Leben. Ich will genau wissen, was Sie zu ihm gesagt haben.«
»Chef –« Doug starrte ihn entsetzt an.
Kincaid ignorierte ihn. Er schien seine Zunge nicht mehr unter Kontrolle zu haben. »Haben Sie ihm gesagt, dass er sich mit seiner Dienstwaffe selbst richten sollte? Sind Sie nicht auf den Gedanken gekommen, dass er vielleicht seine Frau mit in den Tod reißen würde?«
Denis Childs sah ihn mit unbewegter Miene an, und nur jemandem, der ihn sehr gut kannte, wäre aufgefallen, wie seine dunklen Augen sich ein wenig verengten. »Superintendent, Sie vergessen sich. Ich habe nichts dergleichen getan. Ich habe lediglich –«
»Die Höflichkeit walten lassen, die einem leitenden Polizeibeamten gebührt.« Kincaid versuchte gar nicht erst, seinen Abscheu zu verbergen. »Und jetzt haben wir ein weiteres Opfer, Edie Craig, und zweifellos sind sämtliche forensischen Beweise, die Craig mit Rebecca Meredith’ Tod in Verbindung bringen, verschwunden. War Edie Craig etwa nicht so wichtig? War Rebecca Meredith nicht so wichtig?
Und was ist mit den anderen Frauen, deren Leben er zerstört oder ausgelöscht hat? Hatten sie nicht verdient, dass ihnen in irgendeiner Form Gerechtigkeit widerfährt?« Kincaid hielt nur inne, um Atem zu schöpfen. »Aber das ist doch eine viel elegantere Lösung für die Met, nicht wahr? Angesehener ehemaliger Polizeibeamter kommt bei tragischem Brand ums Leben.«
Denis Childs warf Cullen einen Blick zu, der besagte, dass er sich wünschen würde, er wäre tot, wenn er auch nur eine Silbe dieses Gesprächs nach außen dringen ließe.
An Kincaid gewandt, sagte er dann in jenem bedächtigen Ton, der die Beamten unter seinem Kommando erzittern ließ: »Gerechtigkeit? Reden Sie mir nicht von Gerechtigkeit, Duncan. Glauben Sie wirklich, dass es für diese Frauen, für ihre Familien und für ihre Karrieren besser wäre, wenn das, was ihnen angetan wurde, an die Öffentlichkeit käme?
Wenn es Gemma gewesen wäre, hätten Sie das gewollt? Hätte Gemma das gewollt?«
»Ich –«
»Und was Jenny Hart betrifft« – Childs zeigte mit dem Finger auf ihn – »garantiere ich Ihnen, dass diese DNS-Proben untersucht werden und dass die Ergebnisse dieser Untersuchungen veröffentlicht werden, ohne Rücksicht auf den Schaden, den der Ruf der Met dadurch erleiden könnte.
Und wenn Sie irgendetwas beibringen können, was Craig mit Rebecca Meredith in Verbindung bringt, werde ich mein Möglichstes tun, damit seine Beteiligung an ihrem Tod ebenfalls publik gemacht wird.«
»Inoffiziell, wenn ich Sie recht verstehe?«
»Wenn das die beste Methode ist.« Childs musterte Kincaid nachdenklich. »So etwas lässt sich arrangieren. Soviel ich weiß, pflegen Sie privaten Umgang mit einer Polizeibeamtin, die Verbindungen zu einer großen Tageszeitung hat?«
Kincaid blieb der Mund offen stehen. Er hatte Melody Talbots Geständnis, dass ihr Vater der Ivan Talbot war, der Eigentümer der London Chronicle, nie irgendjemandem weitererzählt. Und sie hatte ihm zwar gesagt, dass sowohl Doug als auch Gemma es wussten, doch er konnte sich nicht vorstellen, dass die beiden die Information weiterverbreitet hatten.
Nachdem er die Bombe hatte platzen lassen, strich Childs das Revers seines Mantels glatt, ganz so, als trüge er darunter einen City-Anzug und nicht etwa einen alten Pulli. »Und nun«, fuhr er fort, »schlage ich vor, dass Sie die Kollegen ihre Arbeit machen lassen und nach Hause fahren. Was ich ebenfalls tun werde.«
»Dieser raffinierte Hund«, sagte Doug leise, nachdem Childs weg war. »Haben Sie gewusst, dass er über Melody Bescheid weiß?«
Kincaid schüttelte den Kopf. »Nein. Und ich frage mich, was er noch alles weiß, ohne es uns zu sagen.«
»Sie werden nicht tun, was er sagt, oder?«
»Nein«, antwortete Kincaid. Er sollte es tun, das wusste er. Wenn er vernünftig wäre, würde er zur Geburtstagsparty seines kleinen Mädchens zurückkehren und ansonsten denken: Ende gut, alles gut – zumindest soweit es die Met betraf.
Aber es war noch nicht Montag. Er war offiziell noch sechsunddreißig Stunden im Dienst, und sein Fall war noch nicht abgeschlossen. »Ich werde mich mal mit dem Brandermittler unterhalten. Ein netter Kerl, fanden Sie nicht auch?«
Doug grinste und rückte seine Brille zurecht. »Hab ich mir schon gedacht, dass Sie das sagen würden.«
Als Gemma gesehen hatte, wie Kincaid nach dem Telefonat zögerte, hatte sie ihm zugeflüstert: »Geh. Na los, geh!«
»Aber was ist mit Charlotte – und der Party –«
»Mach dir keine Sorgen um sie. Ich erkläre es den Kindern. Ruf mich an, wenn du was Neues weißt.«
Er und Doug hatten sich noch rasch bei den Gästen entschuldigt und sich unauffällig hinausgeschlichen – zum Glück, bevor Kincaid sehen konnte, wie Charlotte zu weinen anfing.
Gemma nahm sie auf den Arm, tröstete sie und versuchte sie abzulenken, indem sie fragte, ob sie auch aus Charlottes kleinem Fläschchen trinken dürfe.
Charlotte gab ihr einen »Schluck«, dann drückte sie die Flasche an ihre Brust und entspannte sich in Gemmas Armen, bis nur noch ab und zu ein kleines Schniefen zu hören war.
Würde sie sich an solche Enttäuschungen gewöhnen?, fragte sich Gemma, während sie Charlotte in ihren Armen wiegte und ihr zärtlich auf den Rücken klopfte.
Hatte es den Jungs geschadet, dass ständig entweder Gemma oder Duncan oder alle beide zu irgendwelchen Tatorten oder Zeugenbefragungen hetzen mussten?
Von den beiden kam Toby besser damit zurecht. Er war noch zu klein gewesen, um irgendeine Erinnerung daran zu haben, wie sein Vater sie beide verlassen hatte, und seitdem hatte er nach und nach eine Schutzschicht aus Geborgenheit und Sicherheit ausbilden können wie eine kleine Perle in einer Auster – obwohl, dachte sie lächelnd, bestimmt niemand auf die Idee käme, Toby mit einer Perle zu vergleichen.
Kit hatte wie Charlotte einen Verlust erlitten, war aber zudem schwer enttäuscht worden, sowohl von dem Mann, den er für seinen Vater gehalten hatte, als auch von seiner Großmutter. Und doch schien er all das recht gut zu verarbeiten, wenngleich niemand sagen konnte, ob ihm nicht doch Narben zurückbleiben würden.
Im Augenblick jedoch neckte er seinen Bruder, indem er mit Tobys Piratenschwert »Hasch-mich« spielte. Er sah aus wie ein ganz normaler, zu allerhand Unfug aufgelegter Vierzehnjähriger. Und das war gut.
Nachdem Charlotte sich ausgeheult hatte, wurde es ihr allmählich langweilig auf Gemmas Arm, und sie begann zu zappeln. »Ich will runter, Mami«, sagte sie.
»Was?« Gemma war so verblüfft, dass sie ihren Griff lockerte und Charlotte mit einem Rumms auf den Füßen landete.
»Ich will mit Holly spielen«, sagte Charlotte mit mehr Nachdruck. Und dann lief sie davon, hüpfte in ihrem gelben Kleidchen durchs Zimmer, ohne zu ahnen, dass sie gerade etwas höchst Bedeutsames gesagt hatte.
Gemma stand da, die Fingerknöchel an ihre plötzlich zitternden Lippen gepresst. Es war nichts weiter, sagte sie sich. Charlotte hatte gehört, wie Toby sie ständig »Mami« nannte, und selbst Kit benutzte die Anrede, wenn er sie necken wollte. Es war nur natürlich, dass Charlotte nachzuplappern begann, was sie gehört hatte. Aber dennoch –
»Alles okay, Chefin?«, fragte Melody und trat zu ihr. »Du siehst ein bisschen – belämmert aus.«
»Oh.« Gemma versuchte sich zusammenzunehmen. »Es ist nichts. Ich habe wohl nur etwas zu viel Torte gegessen.«
Melody warf ihr einen skeptischen Blick zu – vielleicht, weil sie gesehen hatte, wie Gemma nur einen kleinen Bissen probiert und dann ihren Teller abgestellt hatte, um sich einem anderen Gast zuzuwenden.
Doch anstatt Gemmas Ausrede anzuzweifeln, fuhr sich Melody nervös durchs Haar und sagte ein wenig zögerlich: »Chefin, ich will ja nicht noch mehr Unruhe in Charlottes Party hineinbringen, aber … diese Frau, die Kollegin von der Sitte, von der Doug sagte, sie habe Rebecca Meredith an deren letztem Tag im Dienst besucht – Chris Abbott …«
»Was ist mit ihr?«, fragte Gemma. Sie spürte, wie ihr Magen sich leicht zusammenkrampfte, als hätte sie eine körperliche Vorahnung.
»Mir ist gerade eingefallen, warum mir ihr Name so bekannt vorkam«, sagte Melody. »Er stand in den Sapphire-Akten.«
»Superintendent Kincaid«, begrüßte sie Owen Morris, der Brandermittler der Feuerwehr. »Und Sergeant Cullen. Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen nicht die Hand geben kann.« Er hielt zur Demonstration seine behandschuhten Hände hoch und zuckte mit den Achseln. »Wir scheinen uns immer wieder bei solchen Anlässen zu begegnen.«
Morris, der noch in voller Montur war, kam soeben aus dem Haus, in dem Kincaid gerade noch die Assistentin des Brandermittlers hatte verschwinden sehen.
»Können wir reingehen, wenn wir Schutzkleidung anlegen?«, fragte Kincaid.
»Nein, tut mir leid. Es ist noch zu heiß, und das Gebäude ist einsturzgefährdet. Der Rechtsmediziner und die Spurensicherung werden auch noch warten müssen.«
Frustriert blickte Kincaid zu der offenen Haustür. »Dann geben Sie uns doch bitte eine Schilderung.«
»Kein schöner Anblick, das hier«, erwiderte Morris kopfschüttelnd, und Kincaid fragte sich, ob es auch Brandstätten gab, die einen schönen Anblick boten. »Aber die Opfer befanden sich im Erdgeschoss, und da das Feuer sich nach oben ausgebreitet hat, sind die Leichen noch relativ unversehrt.
Die Frau – wir gehen vorläufig davon aus, dass es sich um Mrs. Craig handelt – war in der Küche. Wie es aussieht, hat sie eine Kugel in den Hinterkopf bekommen.«
Edie, dachte Kincaid. Nicht einfach nur die Frau oder Mrs. Craig.
»Der Deputy Assistant Commissioner befand sich in einem Raum, bei dem es sich dem Anschein nach um sein Arbeitszimmer handelte.«
»Sind Sie sicher, dass er es ist?«
»Ich bin ihm ein paar Mal begegnet«, erwiderte Morris und verzog das Gesicht. »Was von seinem Gesicht übrig ist, erlaubt eine Identifizierung. Das Arbeitszimmer war der Ausgangspunkt des Feuers. Neben der Leiche stand ein Benzinkanister. Er hielt die Waffe noch in der Hand, allerdings ist sie ziemlich stark beschädigt. Es handelt sich um eine Handfeuerwaffe mit kleinem Kaliber, aber für den Zweck allemal groß genug. Die Forensiker werden Ihnen sicher das Fabrikat sagen können.«
»Können Sie rekonstruieren, was passiert ist?«, fragte Kincaid, obwohl er nicht verhindern konnte, dass die Szene bereits vor seinem geistigen Auge ablief.
»Wie es aussieht, hat er seine Frau erschossen und anschließend im ganzen Erdgeschoss Benzin verschüttet. Er ist mit dem Kanister in der Hand rückwärts in sein Arbeitszimmer gegangen und hat dann die Benzinspur mit einem Feuerzeug oder einem Streichholz entzündet. Ich vermute, dass er danach abgewartet hat, bis er sicher war, dass das Feuer gut brannte. Dann hat er sich in die Schläfe geschossen.«
Sie starrten alle wie hypnotisiert zum Haus hinüber, und Kincaid fragte sich, wie ein Mensch es fertigbringen konnte zu tun, was Angus Craig getan hatte.
Eine Hupe ertönte. Als Kincaid sich umdrehte, sah er einen kleinen hellgrünen Ford zum Tor hereinfahren. Imogen Bell stieg aus und kam zu ihnen herüber. Sie sah wesentlich aufgeräumter und munterer aus als am gestrigen Morgen. Offenbar hatte sie es nicht für nötig befunden, die letzte Nacht in ihrem Wagen zu verbringen, um Freddie Attertons Wohnung zu bewachen.
»Sir«, sagte sie zu Kincaid und nickte Cullen und Owen Morris zur Begrüßung zu. »DI Singla schickt mich; ich soll mich mit Ihnen über unser Vorgehen abstimmen. Er lässt Ihnen ausrichten, dass die Spurensicherung und der Rechtsmediziner unterwegs sind. Und wir haben weitere Kräfte angefordert, um das Anwesen abzusperren. Es dürfte nicht lange dauern, bis die Presseleute in Scharen anrücken.« Sie warf einen Blick auf das Haus und schüttelte den Kopf. »Ist es wirklich wahr? Deputy Assistant Commissioner Craig?«
»Der Rechtsmediziner muss ihn noch offiziell identifizieren, aber es sieht danach aus. Kannten Sie ihn?«, fragte er, plötzlich beunruhigt.
»Ich bin ihm ein paar Mal in Henley begegnet, und wir haben auch hier und da ein paar Worte gewechselt. Er schien ganz nett zu sein.«
Kincaid schloss die Augen und sprach innerlich ein kleines Dankgebet dafür, dass Imogen Bell Angus Craig nicht näher kennengelernt hatte.
»Ach ja, Sir«, sagte Bell. »Da war eben ein Mann am Tor, der sagte, er wolle mit einem der Verantwortlichen sprechen. Ein Nachbar. Er sagt, er habe Mrs. Craigs Hund, und er möchte wissen, was er mit ihm machen soll.«
»Ganz unabhängig von dem, was Angus Craig jetzt getan hat«, sagte Gemma, »wir wissen immer noch nicht, warum er Rebecca Meredith gerade zu diesem Zeitpunkt ermordet haben sollte. Und ich kann nicht an einen Zufall glauben, wenn Rebecca ausgerechnet an dem Tag, an dem sie sich so merkwürdig zu verhalten begann, mit einem anderen möglichen Opfer von Craig gesprochen hat. Zumal, wenn diese Frau wirklich eine alte Freundin von ihr war.« Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum, während sie nachdachte. »Wir müssen mit dieser Frau reden.«
»Jetzt?« Melody blickte sich unter den anderen Gästen um. Es sah aus, als ob die Party sich allmählich dem Ende zuneigte. »Was ist mit den Kindern?«
»Ich werde Betty oder Hazel fragen, ob sie eine Weile auf die Kleinen aufpassen können«, sagte Gemma. Die Seifenblase der heilen Familienidylle war früher zerplatzt, als sie gedacht hatte. Aber sosehr es ihr widerstrebte, die Kinder und ihre Gäste im Stich zu lassen, wusste sie doch, dass sie einen solchen ungeklärten Punkt nicht offen lassen durfte. »Wir wissen noch nicht genau, was in Craigs Haus passiert ist«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Aber wir dürfen keinesfalls etwas übersehen.«
»Sie wohnt in Barnes, diese Chris Abbott. Das weiß ich noch, weil es in der Akte steht. Die Adresse kann ich erfragen.«
»Dann tu das. Hier stimmt irgendetwas nicht.« Beim Gedanken an Duncan und Doug, die jetzt in Henley waren, erfasste Gemma eine plötzliche Unruhe, und sie hielt es nicht länger aus, herumzustehen und nichts zu tun. Doch vor allem anderen musste sie mit ihren Eltern sprechen.
Während Melody nach ihrem Handy griff, ging Gemma ins Esszimmer und kniete sich neben Vi und Ern. Erfreut stellte sie fest, dass ihre Mutter immer noch munter aussah.
»Mum, Dad, es tut mir furchtbar leid, aber es ist etwas dazwischengekommen. Melody und ich müssen weg.«
»Bei dir kommt immer etwas dazwischen«, sagte ihr Vater.
Ihre Mutter warf ihm einen bösen Blick zu. »Ist es diese Geschichte von Duncan?«
»Ich glaube, es könnte damit in Verbindung stehen, ja.« Als Gemma sah, wie Vi besorgt die Stirn in Falten zog, beeilte sie sich, sie zu beruhigen. »Es ist nur eine Zeugenbefragung, Mum. Aber es muss jetzt sein.«
Der Blick ihrer Mutter ging zum Wohnzimmer, wo die drei kleinen Kinder inzwischen dazu übergegangen waren, auf dem Fußboden mit Tobys Autos zu spielen. »Was ist mit Charlotte? Ich meine, es ist doch schließlich ihr Geburtstag.«
»Ich weiß, Mum. Aber ich werde nicht so furchtbar lange weg sein. Ich frage Hazel oder Betty, ob sie –«
»Wir können so lange bleiben«, sagte ihr Vater. »Das können wir doch, oder, Vi?«
Gemma starrte ihren Vater an, als ob er plötzlich in einer Fremdsprache redete.
Ihre Mutter wirkte nicht minder überrascht, fing sich jedoch schneller als Gemma. »Aber sicher doch, Ern. Das ist eine gute Idee. Natürlich nur, wenn Gemma nichts dagegen hat.«
»Nichts wäre mir lieber.« Sie drückte zuerst ihrer Mutter und dann ihrem Vater einen Kuss auf die Wange, und sie hätte schwören können, dass die Lippen ihres Vaters sich zu einem flüchtigen Lächeln formten. »Seid ihr auch sicher, dass ihr klarkommt? Ihr wisst, dass Toby ganz schön –«
»Jetzt mach doch nicht solche Umstände«, unterbrach sie Vi. »Wir sind seine Großeltern, falls du das vergessen hast. Wir haben schon auf ihn aufgepasst, als er noch ein ganz kleiner Wurm war. Denk nur dran, dass du –«
»Chefin.« Melody stand im Flur, das Mobiltelefon noch in der Hand. »Entschuldigt die Störung, aber ich finde, das musst du dir ansehen.«
Als Gemma neben sie trat, zeigte Melody ihr das Foto, das sie auf das Display des Handys geladen hatte. Eine junge blonde Frau im Ruderdress lächelte in die Kamera. Darunter stand: »Christine Hunt, St. Catherine’s College.«
»Ich hätte gründlicher recherchieren sollen«, sagte Melody. »Chris Abbott, geborene Hunt. Ich hätte erkennen müssen, dass das Rudern das verbindende Element ist.«
»Warum hättest du darauf achten sollen?«
»Weil es mein Job ist«, sagte Melody. »Ich hätte gezielt nach länger zurückliegenden Verbindungen zwischen Rebecca Meredith und den Frauen in den Sapphire-Akten suchen müssen. Aber ich habe mich vom Fall Hart ablenken lassen. Ich dachte, das sei der Durchbruch.«
»Das haben wir alle geglaubt. Und wir wissen nicht, ob diese Chris Abbott irgendetwas mit Rebecca Meredith’ Tod zu tun hat.«
»Also …« Melody senkte die Stimme. »Willst du Duncan Bescheid sagen, dass wir zu ihr fahren?«
Gemma überlegte nur eine Sekunde. »Nein. Er würde uns bloß sagen, wir sollen es nicht tun.«
Kieran hatte den Nachmittag beim Bootsschuppen verbracht, bewaffnet mit Sperrholz zum Vernageln der kaputten Fenster, einem Besen und extra großen Müllsäcken.
Nach seinem Gespräch mit Freddie Atterton am Tag zuvor fühlte er sich auf seltsame Weise ermutigt. Er fand, dass er wenigstens einen Versuch unternehmen könnte, das Chaos zu beseitigen. Anschließend würde er das Ausmaß des Schadens abschätzen können. Und vielleicht, ganz vielleicht, könnte er sich selbst und sein Geschäft nach und nach wieder auf die Spur bringen.
Vorerst hatte er allerdings eher die Befürchtung, dass er sich zu einem regelrechten Hausmann entwickelte. Tavie hatte letzte Nacht eine Doppelschicht fahren müssen, um einen kurzfristig erkrankten Kollegen zu ersetzen. Erst am frühen Morgen war sie nach Hause gekommen, völlig erschöpft und nach Rauch stinkend. Sie erzählte, dass sie zu einem Hausbrand in Hambleden gerufen worden seien – das Haus habe keinem Geringeren als einem pensionierten Polizeichef gehört –, doch das Feuer hätte schon so weit um sich gegriffen, dass die Sanitäter nicht hineingehen konnten.
»Ich bin so froh, dass du hier warst, Kieran«, hatte sie gesagt, als sie sich auf einen Esszimmerstuhl fallen ließ und Tosh ihr das rußverschmierte Gesicht abzulecken versuchte. »Ich hätte sonst in meinem ganzen Bekanntenkreis bitten und betteln müssen, dass jemand sich um Tosh kümmert.«
Er wusste, dass Tavie eine Vereinbarung mit einem jungen Mädchen aus der Nachbarschaft hatte, das tagsüber kam, um nach Tosh zu sehen, aber für kurzfristige nächtliche Einsätze hatte sie niemanden, der einspringen konnte.
»Und außerdem«, fügte sie hinzu und lächelte ihn an, »tut es gut, mal wieder ein freundliches Gesicht zu sehen. Und sich nicht ständig verteidigen zu müssen.«
Er sah sie verwirrt an. »Wieso solltest du dich verteidigen müssen?«
»Siehst du – da haben wir’s.« Sie schüttelte den Kopf. »Du hast keine Ahnung, wovon ich rede. Du bist offenbar nicht der Meinung, dass eine Frau sich gefälligst unterzuordnen hat.«
»Tavie, ohne dich wäre ich jetzt –«
»Ach, hör schon auf.« Sie wehrte seine Dankbarkeit mit einer wegwerfenden Geste ab. »Kochen kannst du doch, oder? Eier und Toast? Und Tee?«
Er nickte. »Doch, schon, aber es hat noch niemand behauptet, dass ich ein zweiter Bocuse wäre.«
»Ist mir egal. Mach mir ein schönes Frühstück, dann hast du dich angemessen revanchiert. Ich muss jetzt erst mal ins Bad.«
Während sie die Treppe hinaufstapfte, machte er sich voller Eifer an die Arbeit. Und er pfiff sogar ein wenig vor sich hin, ganz stolz darauf, dass er schon herausgefunden hatte, wo in ihrer tadellos aufgeräumten Küche alles war, und dass er am Nachmittag ein paar Grundnahrungsmittel eingekauft hatte.
Nachdem er das Frühstück auf zwei Teller verteilt und den Tee aufgegossen hatte, sah er nach den Hunden, die Seite an Seite im Eingang zur Küche lagen und ihn aufmerksam beobachteten. »Kommt ja nicht auf dumme Gedanken, Freunde«, sagte er. Dann beschloss er, lieber auf Nummer Sicher zu gehen, und stellte die Teller zum Warmhalten in den Ofen. Tosh vertraute er durchaus; bei Finn hatte er gewisse Zweifel.
Er ging zum Fuß der Treppe, um Tavie zu rufen. Als sie nicht antwortete, trabte er die Stufen zum Obergeschoss hinauf. Vielleicht hatte sie ihn ja nicht gehört, weil das Wasser lief oder sie sich gerade die Haare föhnte.
Er war gerade am oberen Treppenabsatz angekommen, als die Badtür aufging und Tavie heraustrat, nackt bis auf ein Handtuch, das sie sich lose um die Hüfte geschlungen hatte. Ihr blondes Haar war dunkel von der Feuchtigkeit und stand vom Frottieren wirr vom Kopf ab.
»Ich wollte nur –« Er schluckte. »Tut mir leid. Ich wusste nicht – Frühstück ist fertig.«
»Okay. Ich komme gleich.«
»Ja. Alles klar.« Er drehte sich um und flog fast die Treppe hinunter, doch zuvor hatte er noch gesehen, wie sich die Röte von ihrem Hals nach unten ausbreitete, bis zum Ansatz ihrer kleinen Brüste.
Kurz darauf kam sie herunter, bekleidet mit einem Sweatshirt und einer weiten Jogginghose. Sie aßen, und falls Tavie die Szene peinlich war, ließ sie es sich nicht anmerken. Kieran hielt den Blick die meiste Zeit auf seinen Teller gerichtet und versuchte, nicht an den schlanken Körper zu denken, der sich unter den unförmigen Klamotten verbarg.
»Wie wär’s, wenn ich mit den Hunden eine Runde laufen gehe?«, schlug er vor, als sie fertig waren. Tavie, die ihren Teller verblüffend schnell geleert hatte und schon bei der zweiten Tasse Tee war, nickte. »Gute Idee.«
»Du kannst ja ins Bett gehen. Dich ausruhen, wollte ich sagen.« Er hätte sich ohrfeigen können – er musste sich doch wie ein Idiot anhören. »Später gehe ich dann rüber zum Schuppen und sehe mir mal an, was da noch zu machen ist. Ich nehme Tosh und Finn mit.«
Tavie schlug die müden blauen Augen auf. »Aber sieh zu, dass du vor Einbruch der Dunkelheit zurück bist. Vergiss nicht, was der Superintendent gesagt hat.«
»Jawohl, Ma’am«, entgegnete er frech.
»Ach, sei doch still«, sagte sie noch einmal und wankte nach oben in ihr Schlafzimmer. Aber er hatte den Anflug eines Lächelns in ihrem Gesicht gesehen.
Das Bild von Tavie mit dem Handtuch um ihre Hüften verfolgte ihn, während er den Nachmittag mit Kehren und Räumen und Hämmern zubrachte. Dass ihr Anblick ihn erregte, verursachte ihm Gewissensbisse – es kam ihm vor, als ob er Becca betröge, und es war ein komisches Gefühl, Tavie plötzlich mit anderen Augen zu sehen. Aber Tavie schien es nichts auszumachen – ihm war inzwischen der Gedanke gekommen, dass sie sich ja einfach einen Bademantel hätte überziehen können, wenn sie sich vor ihm geschämt hätte. Sie hatte ihn doch wohl nicht absichtlich – nein. Er schalt sich für seine Dummheit.
Und was Becca betraf – darüber durfte er gar nicht nachdenken. Noch nicht. Er konnte die Erinnerungen an ihren Körper neben ihm im Bett, an ihre Berührung, nicht vom Anblick ihres Gesichts dort unterhalb des Wehrs trennen. Wenn er es versuchte, krampfte sich sein Magen zusammen, und er fühlte sich verloren.
Er schüttelte den Kopf und kippte die letzte Kehrschaufel voll Schutt in den großen Müllkübel, der in seiner Werkstatt stand. Der Kübel war wundersamerweise unversehrt geblieben. Kieran war mit seinen Aufräumarbeiten schon ein gutes Stück vorangekommen, aber es würde noch einmal einen ganzen Tag kosten, die Müllsäcke ans andere Ufer zu transportieren und zu entsorgen. Immerhin hatte er jetzt die Fenster vernagelt und konnte den Schuppen mit seinem Werkzeug darin abschließen. Aber es war schon spät, und er wollte nicht, dass Tavie sich Sorgen machte.
Er sperrte ab und begrüßte die Hunde, die sich in eine windgeschützte Grasmulde gelegt und geduldig auf ihn gewartet hatten, während sie dem Treiben auf dem Fluss zusahen.
Als er sich umblickte, wurde ihm klar, warum er gedacht hatte, es würde überraschend schnell dunkel. Im Westen waren schwere Wolken aufgezogen und hatten eine verfrühte Dämmerung eingeleitet. Kieran schauderte und dachte mit Schrecken daran, dass das Wetter umschlagen könnte.
Doch zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass sein Kopf klar war. Vielleicht würde es diesmal nicht so schlimm werden.
Er setzte mit den Hunden über, machte das Boot fest und ging den Uferpfad entlang. Es wehte ein kühler Wind, und er schlug seinen Kragen hoch, während die Hunde wild und ausgelassen um ihn herumtollten. Als er die Mill Meadows erreichte, zog er zwei Tennisbälle aus der Anoraktasche und ließ die Hunde von der Leine, um eine kleine Runde »Fang den Ball« mit ihnen zu spielen.
Er hatte sich nicht getraut, Tavie zu fragen, ob sie sich das mit seinem Ausschluss aus dem SAR-Team inzwischen anders überlegt hatte, und erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr es ihm fehlen würde. Und Finn – Finn war wie Tosh zum Arbeiten geboren, und es wäre grausam, ihm das wegzunehmen. Das war ein Argument, mit dem er Tavie vielleicht umstimmen könnte.
Kieran nahm die Hunde wieder an die Leine und beschleunigte seine Schritte. Er fragte sich, ob Tavie wohl wach war, und hatte es plötzlich sehr eilig, zu dem kleinen windschiefen Häuschen zurückzukehren.
Als er die Thames Side erreichte, wo die Straße sich verengte, wechselten ein paar Passanten auf die andere Seite, um den Hunden nicht zu nahe zu kommen. Kieran fand das ziemlich amüsant – trotz ihrer beeindruckenden Größe waren Finn und Tosh zwei gutmütige Riesenbabys –, aber als er Finn noch nicht gehabt hatte, hätte er vielleicht genauso reagiert.
Er hatte gerade die Brückenstraße überquert und war in Richtung Marktplatz abgebogen, als er Freddie Atterton aus dem Red Lion kommen sah. Gerade wollte er auf ihn zugehen, um ihm zu sagen, dass er mit dem Schuppen schon ein gutes Stück vorangekommen war, da sah er, dass Freddie nicht allein war.
Ein zweiter Mann war mit ihm aus dem Hotel gekommen, und wie es aussah, stritten die beiden oder hatten zumindest eine hitzige Auseinandersetzung.
Vielleicht sollte er sie lieber nicht stören, beschloss Kieran, obwohl er direkt an ihnen vorbeikommen würde. Doch irgendetwas ließ ihn noch einmal hinsehen. Was war –
Noch ehe er den Gedanken zu Ende denken konnte, machte Finn plötzlich einen gewaltigen Satz nach vorne, riss Kieran fast die Leine aus der Hand und fing an, wie von Sinnen zu bellen und zu zerren.