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Ich wappne mich für die zwanzig wichtigsten Schläge meines Lebens, und vom ersten Schlag an spüre ich, wie die Kraft sich vom einen auf den anderen überträgt, wie jeder von uns das Letzte aus sich herausholt. (James Livingston)

David und James Livingston, Blood Over Water

Doug Cullen war in Twyford in den Zug nach Paddington umgestiegen. Als er dort ankam, ging es schon auf drei Uhr zu.

Er fuhr mit der U-Bahn weiter nach Shepherd’s Bush. Von dort war es noch ein gutes Stück zu Fuß bis zum Revier West London, aber das war Doug nur recht. Das schöne Wetter dauerte an, und nachdem er am Morgen die Ruderer im Leander-Club gesehen hatte, war ihm die unangenehme Erkenntnis gedämmert, dass er noch tüchtig an seiner Form arbeiten musste, ehe er es wagen konnte, sich wieder in einen Einer zu setzen.

Die Zugfahrt und der anschließende Fußmarsch hatten ihm Zeit zum Nachdenken gegeben, und er hatte sich eine Strategie zurechtgelegt. Er würde auf keinen Fall mit Superintendent Peter Gaskill sprechen – im Gegenteil, er wollte Gaskill nach Möglichkeit ganz aus dem Weg gehen.

Nach ihrem ersten Gespräch mit Sergeant Kelly Patterson hatte er nicht das Gefühl, dass sie noch viel mehr aus ihr herausbekommen würden – blieb also nur DC Bryan Bisik, der zwar auch abgeblockt hatte, aber viele Alternativen hatten sie ja nicht.

Im Revier angekommen, bat er den diensthabenden Sergeant, ihn bei Bisik zu melden, und wenige Minuten darauf kam der Detective Constable zu ihm herunter. Bisik wirkte gestresst und sah ziemlich mitgenommen aus. Sein blasses Gesicht war teigig, die Haut unter den Augen leicht gerötet und aufgequollen, und sein gegeltes dunkles Haar war mit Schuppen gesprenkelt.

»Sergeant Cullen«, sagte er. »Haben Sie – irgendwelche neuen Erkenntnisse?«

»Das kann man wohl sagen«, erwiderte Cullen. »Und zum Teil höchst interessante.«

»Es tut mir leid, aber der Super ist zurzeit nicht im Büro.«

»Ich wollte eigentlich zu Ihnen. Können wir uns irgendwo unterhalten?«

Bisik warf einen argwöhnischen Blick in Richtung des Diensthabenden. »Ich wüsste nicht, was ich Ihnen noch erzählen könnte; wir haben doch neulich schon über alles gesprochen.«

Doug drehte sich so, dass er dem Diensthabenden den Rücken zuwandte, und senkte die Stimme. »Wenn Ihr Chef nicht da ist – wie wär’s, wenn ich Sie auf ein Bier einlade?«

»Nun ja …« Bisiks Blick ging wieder zum Empfangsschalter. Der Sergeant telefonierte gerade. »Okay«, sagte er halblaut. »Also, drüben in Brook Green ist ein Pub. Gehen Sie einfach zurück zur U-Bahn, dann sehen Sie es schon. Ich bin in zehn Minuten dort. Warten Sie draußen auf mich. Für mich ein Pint Foster’s.«

Doug erinnerte sich an das Pub; es hatte einen ganz netten Eindruck gemacht. Als er dort ankam, waren wegen der frühen Stunde die wenigen Tische auf dem Gehsteig noch unbesetzt. Er ging hinein, um zwei Bier zu bestellen, und trug die Gläser nach draußen. Gerade hatte er sich an einen der Tische gesetzt, als Bisik auch schon eiligen Schritts auf ihn zukam.

»Danke, Kollege«, sagte Bisik, nachdem er sich schwerfällig auf einem der Metallstühle niedergelassen hatte. Er hob sein Glas und prostete Doug zu. Nachdem er einen langen Zug genommen hatte, stellte er das Glas ab und zog eine Schachtel Silk Cut aus der Jackentasche. Er schüttelte eine Zigarette heraus und seufzte erleichtert, während er sie anzündete. »Mann, das hab ich jetzt gebraucht.«

Dann runzelte er die Stirn, zog noch einmal an der Zigarette und drückte sie in dem Metallaschenbecher aus. Eine blaue Rauchwolke stieg kerzengerade in die windstille Luft auf. Bisik schüttelte den Kopf. »Aber was echt total nervt, ist, dass ich nicht mehr rauchen kann, ohne ein schlechtes Gewissen zu kriegen. Becca hat mir und Kelly ständig in den Ohren gelegen deswegen. Ich glaube, wir haben extra mehr geraucht, nur um sie zu ärgern. Aber jetzt … Jedes Mal, wenn ich mir eine anstecke, höre ich ihre Stimme. Kelly geht’s genauso.«

»Wo ist Sergeant Patterson heute?«, fragte Doug.

»Das wissen Sie nicht?«

Doug schüttelte den Kopf. »Was soll ich wissen?«

»Sie ist zu einer anderen Dienststelle versetzt worden. Mit Wirkung von gestern. Ohne Vorwarnung.«

»Sie wollen mich auf den Arm nehmen?« Doug starrte ihn an; das Pintglas in seiner Hand schien vergessen.

»Ich wollte, es wäre so.« Bisik trank noch einen Schluck Bier und zuckte mit den Achseln. »Ich sollte wohl gar nicht mit Ihnen reden.«

»Hat Sergeant Patterson Ihnen erzählt, dass sie mit uns gesprochen hat?«

»Nein. Aber ich habe sie mit Ihnen gesehen, dort vor dem Revier. Und offenbar war ich nicht der Einzige.«

Doug ging die Möglichkeiten durch. Hatte Gaskill sie mit Patterson gesehen? Oder war es der Diensthabende gewesen, der es dann Gaskill gemeldet hatte? Er versuchte sich zu erinnern, wer in diesen wenigen Minuten sonst noch vorbeigekommen sein könnte, und er fühlte sich mit einem Mal unangenehm exponiert.

Als Bisik bemerkte, wie Doug die Straße auf und ab blickte, sagte er: »Entspannen Sie sich. Wir sind weit genug weg vom Revier. Deswegen habe ich ja dieses Pub ausgesucht.« Er zündete sich eine zweite Silk Cut an. »Und außerdem weiß ich gar nichts. Ich habe keine Ahnung, was Kelly Ihnen erzählt hat. Wenn die mich nach Sibirien verbannen wollen, ist mir das im Moment eigentlich ziemlich egal.«

»Sie wissen also nichts über Angus Craig?«

Bisik sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an, dann zog er eine teuer aussehende Sonnenbrille aus der Tasche und setzte sie auf. Die Sonne stand jetzt schon sehr tief. »Angus Craig? Wer soll das denn sein?«

Doug schüttelte den Kopf. »Wenn Sie das nicht wissen, dann fragen Sie vielleicht lieber nicht nach. Wo ist übrigens Superintendent Gaskill heute Nachmittag?« Er fragte sich, ob Gaskill in diesem Moment plante, jeden aus dem Weg zu räumen, der mit Rebecca Meredith näher zu tun gehabt hatte.

Aber das war lächerlich. Paranoid. Kein Zweifel, er wurde allmählich paranoid.

»Beim Golfspielen«, sagte Bisik. »Nicht mein Ding, aber für unseren Super ist Golf das Höchste. Und heute ist wohl ein guter Tag dafür, wenn man auf so was steht. Ich persönlich hock mich ja lieber in den Biergarten.« Er nahm seine Sonnenbrille wieder ab und spielte mit dem Bügel herum. »Die Chefin – Becca – hätte gesagt, es ist ein idealer Tag zum Rudern.«

Doug erkannte seine Chance. »Freitag letzte Woche war auch so ein Tag, nicht wahr? Aber da ist sie nicht nach Henley gefahren, um zu trainieren. Haben Sie eine Ahnung, wieso?«

»Letzten Freitag?« Bisik zog die Stirn in Falten und schwenkte seine Sonnenbrille. Doug hoffte unwillkürlich, dass es nur ein Markenimitat vom Portobello-Markt war. »Nein. Sie hat zur gewohnten Zeit Feierabend gemacht.«

Enttäuscht fragte Doug nach: »War an dem Tag sonst noch irgendetwas ungewöhnlich? Sie hat ihren Wagen in London gelassen und ist mit dem Zug nach Henley zurückgefahren, was sie offenbar sonst nicht gemacht hat.«

Bisik setzte sein Glas noch einmal an und trank mit aufreizender Bedächtigkeit. »Wir haben an diesem Messerstecher-Fall gearbeitet und sind partout keinen Millimeter vorangekommen«, sagte er langsam. »Die Burschen haben mit angesehen, wie ihrem Kumpel ein Messer in den Bauch gerammt wurde, aber keiner von denen will als Zeuge aussagen. Ich kann es ihnen, ehrlich gesagt, nicht verdenken. Sie würden nur riskieren, dass es ihnen genauso ergeht. Aber Becca war richtig stinkig. Ich kann mich nicht erinnern – Oh, warten Sie mal.« Er strahlte Doug an. »Da war diese Kollegin von der Sitte zu Besuch, aus einem anderen Bezirk. Sie haben sich in Beccas Büro unterhalten.«

»Eine Kollegin von der Sitte?«

»Ja. Die beiden schienen sich zu kennen. Haben gequatscht wie alte Schulfreundinnen.«

»Haben Sie eine Ahnung, wer diese Kollegin war oder was sie in Ihrem Revier wollte?«

»Nein. Ich war fast den ganzen Nachmittag damit beschäftigt, pampige Teenager zu vernehmen.« Bisik ließ ein kleines Grinsen sehen, als ob er sich an etwas Angenehmes erinnerte. »Eine Blondine, ungefähr so alt wie die Chefin. Sah gar nicht übel aus. Die hätte ich gerne mal auf einen Drink eingeladen.« Er zog noch einmal an seiner Zigarette; offenbar waren die Schuldgefühle für den Moment vergessen. »Aber ich bin ihr nicht vorgestellt worden. Allerdings habe ich so ganz nebenbei genug von ihrem Plausch mitgehört, um den Eindruck zu gewinnen, dass sie sich schon länger kannten. Sie wissen schon, so nach dem Motto ›Wie geht’s denn deinem Onkel George?‹. Und Becca hat tatsächlich gelächelt. Also, das war allerdings ungewöhnlich.

Vielleicht sind die beiden ja einen trinken gegangen«, fügte er hinzu, wobei ihn der Gedanke selbst zu überraschen schien. »Anscheinend hatte die Chefin doch ein Privatleben, auch wenn wir nie was davon mitbekommen haben.«

»Und wer könnte wissen, wer diese Frau war?«

»Kelly – Sergeant Patterson – vielleicht. Sie war an dem Nachmittag im CID-Büro. Aber sie ist jetzt in Dulwich oder in Plumstead, eins von den beiden. Ich bring das immer durcheinander. Und der Super dürfte es auch wissen, da die Tussi schließlich in unserem Revier war.«

Doug dachte sich, dass es wahrscheinlich eine sehr gute Idee wäre, es auf anderem Wege zu versuchen, ehe er Superintendent Gaskill um diese Information bat. »Haben Sie Sergeant Pattersons Handynummer?«

»Klar.« Bisik nahm die Zigarette aus dem Mund, holte sein Handy hervor und kramte dann in seiner Jackentasche, um schließlich einen zerknitterten Wettschein hervorzuangeln. Doug half ihm mit einem Stift aus.

Bisik scrollte sich durch das Telefonverzeichnis, kritzelte eine Nummer auf den Zettel und drückte ihn Doug in die Hand. »Dann hoffe ich mal für Sie, dass sie auch rangeht. Ich versuche seit gestern vergeblich, sie zu erreichen.«

Kincaid kam später von Henley weg, als er gehofft hatte. Nachdem er und Cullen sich nach ihrem Mittagessen getrennt hatten, war er in die SOKO-Zentrale zurückgegangen. Er hatte DI Singla und seinen Mitarbeitern von Freddie Attertons Vernehmung berichtet und dabei nur die letzte Information weggelassen, die sie von ihm bekommen hatten.

Anschließend gab er den letzten hartnäckigen Vertretern der Presse, die noch vor dem Polizeirevier ausharrten – zumeist Sportreporter, die auf pikante private Details hofften – ein zweites Statement ab.

Chief Superintendent Childs hatte er nicht angerufen, und das lastete schwer auf ihm.

Doch als er auf dem Weg nach Hambleden an der Mühle vorbeikam, wurde ihm noch einmal bewusst, dass Angus Craig nur einen strammen Fußmarsch entfernt von dem Wehr wohnte, an dem Rebecca Meredith’ Leiche gefunden worden war. Und wenngleich Craig die Stelle am Buckinghamshire-Ufer, wo Becca vermutlich ermordet worden war, nicht ganz so leicht zu Fuß erreichen konnte, hätte er mit dem Auto zweifellos schnell und bequem dorthin gelangen können.

Kincaid drosselte das Tempo, als er das Dorf Hambleden erreichte. Die Kirche, das Pub, die Cottages aus rotem Backstein mit ihren rosenumrankten Fassaden – all das schien die reinste Postkartenidylle.

Und das Haus, das ein wenig außerhalb des Orts am Ende eines langen Zufahrtswegs stand, war so stattlich, dass Kincaid leise Zweifel beschlichen, ob er es als bloßer Detective Superintendent wagen konnte, einfach so unangemeldet an die imposante Tür zu klopfen.

Er wäre versucht gewesen, das Haus einen protzigen Backsteinklotz zu nennen, hätte es sich nicht so harmonisch in die Landschaft eingefügt. Die Tatsache, dass er es von der Stilepoche her nicht einordnen konnte, ließ ihn vermuten, dass es im Laufe der Jahre immer wieder in ungewöhnlich geschickter Weise durch Anbauten erweitert worden war.

Die weitläufigen Rasenflächen des Grundstücks waren makellos gepflegt, und das warme Rot von Backstein und Dachziegeln verschmolz mit der herbstlichen Pracht der Bäume auf dem Hügel wie in einem kunstvoll komponierten Gemälde.

Es war ein Traum – ein Haus zum Verlieben, aber auch zum Repräsentieren.

Und es war alles sehr nobel, selbst für einen Deputy Assistant Commissioner der Met. Vielleicht, dachte Kincaid gnädig, war ja die Ehefrau diejenige mit dem Geld.

Er parkte den Astra in der Auffahrt und fragte sich, was er Angus Craig eigentlich genau sagen wollte, beschloss dann aber, dass es das Beste wäre, sich nicht allzu viele Gedanken darüber zu machen.

Er stieg aus, drückte die Tür so behutsam zu, dass nur ein leises Klicken zu hören war, rückte seine Krawatte zurecht und ging über den knirschenden Kies auf das Haus zu. Er würde einfach improvisieren müssen.

Die Messingklingel hatte die Form eines Greifs, und als er sie drückte, hörte er tief im Innern des Hauses einen Glockenschlag, gefolgt vom fernen Jaulen eines Hundes.

Er wartete und verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Nach der bombastischen Klingel wäre er nicht überrascht gewesen, wenn ihm ein Butler in gestärktem Hemd und Cutaway geöffnet hätte, doch es war Angus Craig persönlich, der an die Tür kam.

Craig sah so aus, wie Kincaid ihn in Erinnerung hatte, wenngleich der ohnehin schon kräftige Mann vielleicht noch ein paar Pfund zugelegt hatte, seit er ihn zuletzt gesehen hatte. Sein schütteres, strohblondes Haar war aus dem breiten, geröteten Gesicht zurückgekämmt, und er sah den Besucher mit dem verärgerten Ausdruck eines Mannes an, der bei einer wichtigen Tätigkeit unterbrochen wurde. Er trug Golfkleidung und hatte noch die Stollenschuhe an den Füßen.

Da er befürchtete, dass Craig ihn wegen des Astra für einen Vertreter für Doppelglasfenster halten könnte, ergriff Kincaid die Initiative. »Assistant Commissioner Craig? Ich bin Superintendent Duncan Kincaid vom Yard. Sie erinnern sich wahrscheinlich nicht an mich, aber ich habe an ein oder zwei Ihrer Führungsseminare in Bramshill teilgenommen.«

Der finstere Blick wich sogleich einem Lächeln von falscher Herzlichkeit, und Kincaid war klar, dass Angus Craig nicht nur wusste, wer er war, sondern auch, warum er gekommen war.

»Superintendent Kincaid – doch, ich erinnere mich an Sie. Wie ich höre, leisten Sie gute Arbeit bei der Meredith-Ermittlung.«

»Danke, Sir. Ich wollte fragen, ob ich Sie kurz sprechen könnte.«

»Selbstverständlich«, antwortete Craig, doch er wirkte alles andere als begeistert. »Treten Sie ein. Wir können uns in meinem Arbeitszimmer unterhalten. Ich wollte gerade andere Schuhe anziehen.«

Als Kincaid ihm ins Haus folgte, blickte Craig sich zu dem Astra um, ehe er die Tür schloss. »Ich hätte gedacht, dass der Yard einem Beamten Ihres Ranges einen etwas höherklassigen Dienstwagen zur Verfügung stellen könnte.«

»Das ist mein Privatfahrzeug, Sir.« Kincaid war selbst überrascht, wie sehr er sich genötigt sah, den Astra zu verteidigen.

Craig zog nur eine strohblonde Braue hoch, entschuldigte sich aber nicht für die beleidigende Bemerkung. Seine Stollenschuhe klickten auf den breiten Eichendielen, als er voranging, und Kincaid fragte sich, was Craigs Frau wohl davon halten mochte, dass ihr Mann so wenig Rücksicht auf die hochwertige Ausstattung des Hauses nahm. An einem Bänkchen im Flur blieb Craig stehen, zog seine Golfschuhe aus und schlüpfte in ein Paar Lederpantoffeln, während Kincaid wartete.

Die Inneneinrichtung des Hauses war weniger prunkvoll, als Kincaid erwartet hatte. Wände und Türrahmen waren in einem gedämpften Weiß gestrichen. Die Möbel wie auch die Blumenarrangements waren schlicht, sahen aber gleichwohl teuer aus, und eine Wand war mit einer Serie geschmackvoller Holzkohlezeichnungen von männlichen und weiblichen Akten geschmückt. Irgendwo im hinteren Teil des Hauses war das schrille Kläffen eines Hundes zu hören.

Craig stellte die Golfschuhe neben dem Bänkchen ab und richtete sich auf. »Dieser verfluchte Hund. Gehört meiner Frau. Das macht er jedes Mal, wenn sie nicht zu Hause ist.« Er deutete mit dem Kopf zu einem Zimmer auf der anderen Seite des Flurs. »Bitte sehr, Superintendent.«

Als Kincaid hinter Craig eintrat, sah er, dass das Zimmer zwar ebenso wohlproportioniert war wie das Haus insgesamt, der Gesamteindruck wurde jedoch durch einen übergroßen Schreibtisch gestört.

Breite Fenster gaben den Blick auf den Rasen vor dem Haus frei, und trotz des ungewöhnlich warmen Tages brannte in einem Kamin mit prächtigem schmiedeeisernem Rost ein kleines Feuer.

Zwei ledergepolsterte Ohrensessel standen schräg zueinander vor dem Kamin und bildeten eine einladende Plauderecke. Doch Craig zog es vor, sich hinter seinen massiven Schreibtisch zu setzen, und brachte Kincaid damit in die unangenehme Lage, sich einen kleinen Stuhl ohne Armlehne heranziehen zu müssen.

Es war die gleiche Einschüchterungstaktik, die auch Peter Gaskill praktizierte, und selbst wenn Kincaid sonst nichts über Craig gewusst hätte, wäre der Mann ihm allein deswegen unsympathisch gewesen.

In dunklen Bücherschränken waren Golfpokale zur Schau gestellt, dazwischen ledergebundene Klassiker, von denen Kincaid vermutete, dass sie nie gelesen worden waren. Auf einem Beistelltischchen zwischen den Fenstern stand eine Flasche achtzehn Jahre alter Glenlivet mit zwei Whiskygläsern aus Kristall auf einem Tablett, doch Craig machte keine Anstalten, Kincaid einen Drink anzubieten.

Kincaid lehnte sich so bequem zurück, wie es ihm auf dem kleinen Stuhl möglich war, wischte sich einen imaginären Fussel vom Revers und sah sich im Zimmer um. Er wollte Craig nicht die Befriedigung gönnen, mit seiner Unhöflichkeit eine Reaktion zu provozieren, und er wollte sehen, welche Taktik Craig beim Thema Rebecca Meredith einschlagen würde, wenn er ihn einfach reden ließ.

Craig schluckte den Köder. »Tragisch, diese Geschichte mit DCI Meredith«, sagte er. »Aber wie man hört, ist der Exmann der Hauptverdächtige.« Er sagte nicht, von wem er das gehört hatte.

Der Hauptverdächtige? Kincaid kam sich vor wie in einem Agatha-Christie-Krimi. »Tatsächlich, Sir?« Er legte gelinde Überraschung in seinen Ton. »Das ist mir neu. Wenn Sie mit dem Hauptverdächtigen Mr. Atterton meinen – er ist uns bei unseren Ermittlungen behilflich. Wir haben jedoch keine handfesten Beweise, die ihn mit Rebecca Meredith’ Tod in Verbindung bringen.«

Kincaid legte die Fußknöchel übereinander und gab sich große Mühe, eine neutrale Miene aufzusetzen, obwohl der aufwallende Zorn ihm schon in den Schläfen pochte. »Aber wie ich wiederum höre, kennen Sie Mr. Atterton persönlich. Mehr noch, Sie waren am Dienstagmorgen mit ihm zum Frühstück verabredet. Zu schade, dass Sie nicht kommen konnten. Ich bin sicher, dass jemand mit Ihrem Wissen und Ihrer Erfahrung Freddie Atterton die Unterstützung und den Rat hätte bieten können, deren er so dringend bedurfte, nachdem er festgestellt hatte, dass seine Exfrau verschwunden war.«

Für einen Sekundenbruchteil blitzte Berechnung in Craigs Zügen auf, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle und setzte eine leicht verächtliche Miene auf. »Ich bin dem Mann mal begegnet, ja; aber da hatte ich keine Ahnung, dass er einmal mit DCI Meredith verheiratet war. Und ich wusste auch nicht, dass seine Investitionspläne nicht mehr als das waren – bloße Pläne.«

»Sie haben sich also über Freddie Atterton informiert, nachdem Sie sich mit ihm im Leander verabredet hatten?«

»Selbstverständlich habe ich das, Superintendent. Ich war dreißig Jahre lang im Polizeidienst, falls Sie das vergessen haben sollten.«

Das hatte Kincaid ganz bestimmt nicht vergessen. »Und deswegen sind Sie am Dienstagmorgen nicht erschienen?« Er hob missbilligend die Schultern. »Sie hätten ja auch anrufen und den Termin absagen können.«

Craig starrte ihn an, als hätte er vollkommen den Verstand verloren. »Superintendent, kritisieren Sie etwa meine Umgangsformen? Atterton ist kaum besser als ein Hochstapler, und solche Höflichkeit hat er gar nicht verdient. Wenn Sie es unbedingt wissen wollen – ich hatte mich über mich selbst geärgert, weil ich auf ihn hereingefallen war, wenn auch nur ganz kurz.« Er stützte seine massigen Hände auf die Tischkante und schob seinen Stuhl zurück, wie um zu signalisieren, dass die Unterredung beendet war. »Und Sie sollten vielleicht lieber einen Mord aufklären, als mir hier die Zeit zu stehlen.«

Doch Kincaid wollte sich nicht so leicht abservieren lassen. »Wie ich höre, kannten Sie DCI Meredith sogar noch besser als ihren Exmann.« Das Pochen in seinen Schläfen steigerte sich zu einem Hämmern, und sein Puls schoss in die Höhe.

Er hatte gerade seinen Rubikon überschritten, und es gab kein Zurück mehr.

»Wovon reden Sie?«, sagte Craig leise. Er bemühte sich jetzt nicht mehr, seiner Stimme einen Anstrich von Höflichkeit zu verleihen.

»Ich spreche von der Tatsache, dass DCI Meredith Sie der Vergewaltigung beschuldigt hatte. Und dass Peter Gaskill, Meredith’ Vorgesetzter, sie dazu überredet hatte, keine Anzeige gegen Sie zu erstatten. Doch ihre Vereinbarung basierte auf seinem Versprechen ihr gegenüber, dass gegen Sie, Sir, innerhalb der Met Maßnahmen ergriffen würden.«

Alle Farbe war aus Craigs Gesicht gewichen. »Wie können Sie es wagen –«

»Aber das ist nicht passiert, nicht wahr?«, unterbrach ihn Kincaid, indem er sich vorbeugte und Craigs Blick standhielt. »Und erst vor wenigen Wochen erfuhr Rebecca Meredith, in welchem Ausmaß diese Versprechen gebrochen worden waren. Ich frage mich, womit sie gedroht hat und was Sie alles getan hätten, um sie zum Schweigen zu bringen.«

Craigs stämmiger Brustkorb weitete sich, als er tief Luft holte. »Diese Frau war absolut unzurechnungsfähig. Sie konnte von Glück sagen, dass sie wegen ihrer unhaltbaren Anschuldigungen nicht aus dem Polizeidienst entlassen wurde. Gaskill und ich haben ihr gegenüber eine Milde walten lassen, die sie nicht verdient hatte.«

»Oh, aber ganz so einfach ist es nicht, Sir.« Kincaid gab der Anrede eine spöttische Betonung. Er fand es plötzlich unerträglich warm im Zimmer und musste der Versuchung widerstehen, vom Feuer wegzurücken. »Rebecca Meredith wusste nämlich, wie die Dinge liefen«, sagte er. »Deswegen hatte sie, bevor sie sich an Gaskill wandte, einen Abstrich und eine DNS-Probe machen lassen. Sie gab zu Protokoll, dass der Täter unbekannt sei, doch die DNS-Probe wurde zu den Asservaten genommen. Gaskill wusste das. Sie wussten es auch. Die Frage ist, ob Rebecca Meredith beschlossen hatte, ihre eigene Karriere aufs Spiel zu setzen, indem sie diesen Beweis gegen Sie verwendete.«

Noch während er sprach, fragte Kincaid sich, ob diese Beweise immer noch existierten oder ob die belastende DNS-Probe gerade noch rechtzeitig auf unerklärliche Weise verschwunden war.

Doch Craigs nächste Worte sprachen dagegen. »Ich hatte Sex mit dieser Frau, das stimmt. Aber sie hat es darauf angelegt«, fügte er boshaft hinzu, »und nie und nimmer hätte die Schlampe das Gegenteil beweisen können.«

Kincaid hätte sich durch Craigs Eingeständnis wohl bestätigt fühlen sollen, doch in der Stimme des Mannes lag so viel Gehässigkeit, dass ihm übel wurde. Hätte Craig das Gleiche auch über Gemma gesagt, wenn sein Vergewaltigungsversuch nicht vereitelt worden wäre? Und über andere Frauen, deren einziges Vergehen darin bestand, dass sie ihm vertraut hatten?

»Peter Gaskill hat ihr einen Gefallen getan, als er sie dazu überredete, nicht vor aller Welt auszuposaunen, was für ein Flittchen sie war«, fuhr Craig fort. Er umfasste den großen gläsernen Briefbeschwerer auf seinem Schreibtisch mit der rechten Hand, spannte die Finger an und lockerte sie wieder. »Sie hätte ihre Karriere ruiniert und den Ruf der Met beschädigt.«

Kincaid konnte sich den Sarkasmus nicht verkneifen. »Während der Ihre ohne Makel geblieben wäre.«

»Sie werden allmählich unverschämt, und ich habe endgültig genug von diesem Theater.« Craig hatte plötzlich wieder Farbe im Gesicht – es war jetzt beinahe violett vor Zorn. Das Hundegebell, das ihr Gespräch immer wieder untermalt hatte, schwoll plötzlich an, vielleicht eine Reaktion auf den drohenden Ton von Craigs Stimme.

Craig zog die Stirn in Falten und fluchte. »Verdammter Köter. Eines Tages bring ich ihn noch um.«

Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Kincaid zu und sagte: »Nun, Superintendent, Sie finden sicher selbst zur Tür. Aber glauben Sie nicht, dass ich Sie nicht Ihren Vorgesetzten melden werde oder dass Sie nicht die Konsequenzen Ihrer Impertinenz zu spüren bekommen werden.«

Kincaid erhob sich langsam. »Auch Sie, Sir, stehen nicht über den Vorschriften oder dem Gesetz.« Er hoffte nur inständig, dass das auch stimmte, aber er war jetzt auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen. »Und nur damit wir uns recht verstehen: Sie sagen also, dass Sie nichts mit dem Mord an Rebecca Meredith zu tun haben?«

»Natürlich nicht.« Craigs Tonfall war vernichtend. »Ich warne Sie, Superintendent. Machen Sie sich nicht noch mehr zum Narren, als Sie es ohnehin schon getan haben.«

»Dann haben Sie sicherlich nichts dagegen, mir zu verraten, wo Sie am Montagabend waren, Sir«, sagte Kincaid, ohne die Drohung zu beachten. »Sagen wir, so zwischen vier und sechs Uhr.«

Er merkte, wie Craig sich eine spontane Erwiderung verkniff, sah wieder die schnelle Berechnung in den hellen Augen, als ob Craig abwöge, was er zu verlieren hatte, wenn er die Frage beantwortete. Dann sagte er: »Ich war bis fünf Uhr hier. Danach habe ich im Pub einen Drink genommen. Das ist mein übliches Programm.«

»Mit Pub meinen Sie das Stag and Huntsman?«

Craig nickte knapp. »Genau.«

»Und kann irgendjemand bestätigen, dass Sie davor zu Hause waren?«

»Meine Frau.« Craig spie die Worte aus, als wären es Glassplitter.

»Ich werde mit ihr sprechen müssen«, sagte Kincaid.

»Sie ist nicht zu Hause. Wenn sie es wäre, würde der verfluchte Köter nicht so kläffen.«

»Dann muss ich wohl noch einmal vorbeikommen. Danke für Ihre Mithilfe, Sir.« Kincaid wandte sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um. »Oh, und eine Sache noch, Sir. Gestern Abend gegen acht Uhr – wo waren Sie da?«

Er sah die Überraschung in Craigs geweiteten Augen, in dem kaum merklichen Erschlaffen der Muskeln um seinen Mund.

Mit dieser Frage hatte Craig nicht gerechnet. Sie standen sich stumm gegenüber, und Kincaid fragte sich, ob er gerade einen fürchterlichen, irreparablen Fehler gemacht hatte.

»Ich war in einer Besprechung in London«, sagte Craig mit einem boshaften Blitzen in den Augen. »Mit Leuten, die Sie sich lieber nicht zu Feinden machen sollten.«