19
Der Tag des Rennens rückt unerbittlich näher, und das vorherrschende Gefühl bei dem, der zum ersten Mal dabei ist, ist nicht etwa Vorfreude oder gar Euphorie, sondern Angst – nicht vor dem bevorstehenden Wettkampf, sondern davor, das Gesicht zu verlieren, Angst davor, unter Stress nicht richtig zu funktionieren, trotz der endlosen Monate des Trainings. Die Angst, die Teamkameraden zu enttäuschen, die Freunde, die Familie und die ganze verdammte Tradition dieses eineinhalb Jahrhunderte alten Ruderrennens zwischen Oxford und Cambridge.
Daniel Topolski, Boat Race: The Oxford Revival
»Sagen Sie mir genau, was passiert ist«, forderte er sie auf.
Bell zögerte. »Alles?«
»Ja, alles.« Er bemühte sich, seine Ungeduld im Zaum zu halten. »Die Entscheidung, was wichtig ist und was nicht, können Sie ruhig mir überlassen, okay?«
»Okay«, wiederholte Bell, immer noch ein wenig unsicher. »Also, nachdem ich heute Nachmittag mit Ihnen telefoniert hatte, habe ich aus den Resten im Kühlschrank ein Mittagessen zubereitet. Ich dachte mir, er sollte etwas in den Magen bekommen, nicht wahr?« Die Frage war offenbar rhetorisch, denn sie fuhr fort: »Und dann – na ja, da offenbar niemand sonst das übernehmen konnte, bin ich mit Fred – Mr. Atterton – zum Beerdigungsinstitut gegangen. Ich habe ihm geholfen, das Wichtigste zu regeln. Es war – Es war … schlimm. Ich bin froh, dass ich das nicht jeden Tag machen muss.«
»Durchaus verständlich«, versuchte Kincaid sie aufzumuntern. »Sie waren ihm sicher eine große Hilfe. Und was haben Sie dann gemacht?«
»Wir sind in die Wohnung zurückgegangen. Ich habe ihm mit dem Nachruf geholfen. Er musste so schnell wie möglich an die Times gehen. Und das war – Ich hatte gar nicht gewusst, was sie alles gemacht hat. Sie war ein ganz besonderer Mensch, oder?« Die Art, wie sie es sagte, klang ziemlich nach Heldenverehrung.
»Das war sie«, stimmte Kincaid ihr zu. »Aber sie war auch nur ein Mensch, und ich fürchte, dass Freddie Atterton im Moment nicht gewillt ist, sich an ihre Fehler zu erinnern. Trotzdem dürfen wir nicht vergessen, dass sie welche hatte.«
Während er sprach, beobachtete er Gemma, die aufgestanden war und leise die Teller und Tassen in die Spüle stellte und dabei seinem Anteil an dem Gespräch folgte.
Auch Gemma konnte stur sein, dachte er, als er ihre Fehler zu katalogisieren versuchte. Impulsiv. Sie war oft ein wenig vorschnell mit ihrem Urteil, nahm kein Blatt vor den Mund, konnte sich schnell für Dinge und Menschen begeistern. Dafür zögerte sie umso länger, Verpflichtungen einzugehen, solange sie nicht wusste, ob sie sie auch einhalten konnte.
Und er liebte sie über alles. Er hätte sie keinen Deut anders haben wollen.
Ob Rebecca Meredith sich wohl gewünscht hatte, ebenso sehr für ihre Fehler wie für ihre Leistungen geliebt zu werden? – Und hatte sie zu spät erkannt, dass sie genau das gehabt und aufgegeben hatte?
»Ja«, sagte Bell, doch sie klang nicht überzeugt. »Als wir damit fertig waren, war es Zeit fürs Abendessen, aber im Kühlschrank war nur noch saure Milch und etwas Bier. Ich sagte, ich würde einkaufen gehen. Er – Atterton – wirkte so … verloren. Er konnte noch nicht einmal einen Einkaufszettel schreiben, also bin ich … ich bin zu Sainsbury’s gegangen.« Bell hielt wieder inne.
»Und?«, fragte Kincaid nach.
»Als ich zurückkam, war er verschwunden.«
»Einfach so verschwunden? Zu Fuß? Oder mit dem Auto? Sind Sie sicher, dass er nicht in der Wohnung war?«
»Ich habe geklopft und geklingelt, dann habe ich ihn auf dem Handy und auf dem Festnetz zu erreichen versucht. Inzwischen machte ich mir ernsthaft Sorgen, also suchte ich den Hausverwalter auf und bat ihn, mich in die Wohnung zu lassen. Ich hatte Angst … Ich hatte Angst vor dem, was ich dort vorfinden würde. Aber er war nicht da. Alles war unverändert, kein Abschiedsbrief, nichts. Seine Autoschlüssel lagen noch auf der Ablage neben der Tür. Offenbar ist er einfach gegangen und nicht mehr zurückgekommen.«
»Hatte er getrunken?«
»Nein. Im Gegenteil, er hat sogar den Rest einer guten Flasche Scotch in den Ausguss geschüttet, weil er meinte, von dem Geruch würde ihm schlecht.«
Immerhin hörte es sich nicht so an, als wäre Atterton zu einer Sauftour aufgebrochen, dachte Kincaid. »Versuchen Sie weiter, ihn zu erreichen«, sagte er zu Bell. »Es war richtig, dass Sie ihm heute Nachmittag geholfen und dass Sie mich angerufen haben. Aber Freddie Atterton ist ein erwachsener Mann, und wir haben kein Recht, seine Bewegungsfreiheit einzuschränken, solange wir ihm nicht irgendeine Straftat zur Last legen.«
»Das werden wir doch nicht tun, oder?«, fragte Bell. »Ihn anklagen, meine ich.«
»Die Spurensicherung hat nichts gefunden, was ihn mit dem Tatort in Verbindung bringt, deshalb wird es vorläufig wohl nicht dazu kommen.« Er war jedoch keineswegs so sicher, wie er sich anhörte. »Gab es heute sonst noch irgendetwas?«, fragte er. »Irgendetwas Auffälliges in Ihren Gesprächen mit ihm?«
Es war still am anderen Ende, während Imogen Bell nachdachte. Dann sagte sie: »Er hat immer wieder nach dem Boot gefragt; er wollte wissen, wann er es wiederhaben könne. Ich sagte ihm, die Spurensicherung sei fast fertig damit. Ich hoffe, das war okay.«
Kincaid runzelte die Stirn. »Ich wüsste nicht, was dagegen spräche – obwohl er bis zur Testamentseröffnung keinen Rechtsanspruch auf das Boot hat.«
Nachdem er das Gespräch beendet hatte, setzte Gemma sich wieder zu ihm an den Tisch und schenkte sich einen Schluck Bordeaux ein. »Beccas Exmann ist verschwunden, habe ich das richtig gehört?«, fragte sie. »Glaubst du, dass er sich etwas angetan hat?«
»Auf mich wirkte er eigentlich nicht selbstmordgefährdet«, antwortete Kincaid. »Und DC Bell, die ihn betreut hat, sagte, er habe immer wieder nach dem Filippi gefragt, ihrem Rennruderboot. Warum sollte er fragen, wann er das Boot wiederhaben kann, wenn er vorhätte, sich das Leben zu nehmen?«
»Du denkst nicht –« Jetzt war es Gemma, die zögerte. »Du denkst nicht, dass er in Gefahr schwebt, oder?«
Kincaid dachte daran, wozu Craig, Gaskill und ihre im Hintergrund wirkenden Helfershelfer fähig waren, wenn sie verhindern wollten, dass ihre Machenschaften ans Licht kamen. »Ich hoffe nicht«, sagte er.
Kincaid konnte lange nicht einschlafen. Er lag da und spürte das Gewicht von Gemmas Bein auf seinem, atmete den Fliederduft ihrer Badeseife ein und machte sich Gedanken um Freddie Atterton – und um Gemma.
Irgendwann in den frühen Morgenstunden musste er dann doch eingenickt sein, doch er wachte wieder auf, als die nahende Morgendämmerung die Scheiben der Schlafzimmerfenster fast unmerklich heller werden ließ.
Vorsichtig zog er seine Füße unter Geordie hervor, der sich zum Schlafen quer über das Fußende des Betts ausgestreckt hatte, stand auf, duschte und zog sich an. Als er fertig war, beugte er sich über Gemma und küsste sie auf den Mundwinkel. »Ich fahre nach Henley«, flüsterte er.
»Was?« Sie blinzelte verschlafen. »Was ist passiert?«
»Nichts. Schsch – schlaf schön weiter. Ich ruf dich an.«
Er schlich die Treppe hinunter und bemühte sich, die Kinder nicht zu wecken. Dabei wurde ihm plötzlich bewusst, dass das Haus um diese frühe Morgenstunde eine ganz eigentümliche Atmosphäre ausstrahlte. Er stellte es sich als ein friedlich schlummerndes Wesen vor, das wartete, bis sein Herz wieder zum Leben erwachte – etwas, dessen Ausdünstungen eine Mischung aus Tee- und Toastdüften, Hundegeruch und dem feinen Nebel von Kinderatem waren.
Er war ziemlich stolz auf sich – und auf seine lebhafte Fantasie –, als er es unbemerkt bis zur Haustür schaffte. Doch dann hörte er das Klicken von Krallen auf den Fliesen.
Als er sich umdrehte, sah er, dass Geordie ihm nach unten gefolgt war. Der Hund schaute schwanzwedelnd zu ihm auf, mit jenem vorwurfsvoll-schmachtenden Blick, zu dem nur Cockerspaniels fähig sind.
Kincaid ging in die Hocke und tätschelte Geordie die Ohren. »Ich kann jetzt nicht mit dir raus«, flüsterte er. »Geh wieder ins Bett.«
Geordie legte den Kopf schief und wedelte noch heftiger. Kincaid gab ihm noch einen letzten Klaps. »Dir entgeht aber auch gar nichts, was, Kumpel? Pass mir schön auf Gemma auf, ja? Bist ein braver –«
Er stand da und starrte den Hund an. Wieso war er nicht eher darauf gekommen?
Als Kincaid in Henley ankam, war es schon heller Tag. Er fuhr über die Brücke und sah die Achter vom Leander-Club ablegen wie eine vielbeinige Flottille. Der Morgen war kalt, klar und windstill – ideales Ruderwetter, vermutete er. Aber im Augenblick waren es nicht die Ruderer, mit denen er sprechen wollte.
Seine erste Station war die SOKO-Zentrale im Polizeirevier Henley.
DI Singla war da, ebenso wie der um seinen Namen nicht zu beneidende DC Bean, doch die Geschäftigkeit der letzten Tage schien sich gelegt zu haben, und eine träge Stimmung lag über dem Raum. Das Team hatte kaum neue Informationen, denen es nachgehen konnte, und Kincaid hatte auch nichts beizusteuern. Noch nicht.
Er wollte gerade nach DC Bell fragen, als sie auch schon hereinkam. Sie sah mitgenommen und übernächtigt aus.
»Sir.« Sie nickte ihm zu, während sie auf einen Stuhl sank, die Finger um einen Plastikbecher mit Kaffee geschlungen, als hätte sie seine Wärme dringend nötig.
»Nicht viel Schlaf bekommen?«, fragte er.
Imogen Bell errötete. »Ich habe mir Sorgen um Mr. Atterton gemacht, Sir. Deshalb habe ich die Wohnung im Auge behalten.«
Kincaid starrte sie an. »Die ganze Nacht?«
»Ja, Sir. Von meinem Wagen aus. Ich hatte am Grundstückstor geparkt.«
Kein Wunder, dass sie aussah, als ob sie in ihren Kleidern geschlafen hätte – sie hatte darin geschlafen oder zumindest die Nacht darin verbracht. Kincaid war beeindruckt, auch wenn er sich nicht sicher war, ob sie damit demonstriert hatte, dass in ihr eine hervorragende Polizistin steckte oder dass sie hoffnungslos verknallt war. Möglicherweise beides.
»Sehr löblich«, sagte er. »Ist er nach Hause gekommen?«
»Nein, Sir.« Sie wirkte vollkommen verzweifelt. »Und er geht nach wie vor nicht an sein Handy.«
DI Singla schaltete sich ein. »Wir haben Attertons Auslandsgespräch mit Mrs. Meredith am Mittwochabend überprüft und konnten seine Angaben bestätigen, sowohl anhand der Verbindungsdaten als auch durch die Aussage von Mrs. Meredith. Sie haben zweiundvierzig Minuten lang gesprochen. Atterton kann unmöglich Kieran Connollys Bootsschuppen niedergebrannt haben, es sei denn, er besäße die Fähigkeit, sich an zwei Orten gleichzeitig aufzuhalten. Oder er und seine Exschwiegermutter stecken unter einer Decke«, fügte Singla nachdenklich hinzu. »Ich nehme an, er hätte ihren Anruf annehmen und den Hörer ausgehängt lassen können –«
»Um dann zu einem Ort zu gehen oder zu fahren, wo er ein Skiff ausleihen oder stehlen konnte, mit diesem zur Insel zu rudern, den Molotowcocktail zu werfen, das Boot zurückzubringen und rechtzeitig wieder in der Wohnung zu sein, um den Hörer einhängen zu können, und das alles in zweiundvierzig Minuten?«
»Ich gebe ja zu, dass es unwahrscheinlich ist«, stimmte Singla ihm zu. »Und ich kann mir nicht vorstellen, warum Rebecca Meredith’ Mutter so etwas hätte mitmachen sollen, es sei denn, sie und Atterton wussten, was in Rebeccas Testament stand, und hatten vor, sich das Erbe zu teilen. Aber soweit wir feststellen konnten, hat Mrs. Meredith das Geld oder den Grundbesitz ihrer Tochter kaum nötig.«
»Ganz abgesehen davon, dass ein solches Szenario auf der Annahme basiert, dass Freddie Atterton seine Exfrau ermordet hat, wo wir doch wissen, dass die Spurensicherung am Tatort kein erhärtendes Beweismaterial gefunden hat.« Kincaid grinste Singla an. »Und derartige Intrigen gibt es doch nur in amerikanischen Krimiserien.«
Singla sah ein wenig beschämt drein. »Ich mag amerikanische Krimiserien.«
Da hätte Cullen, der auf Columbo und Co. stand, eine verwandte Seele gefunden, dachte Kincaid. Aber er hatte Doug gebeten, in London zu bleiben, für den Fall, dass Melody – und Gemma – Verstärkung brauchten. Und im Übrigen glaubte er, dass in diesem Fall sehr wohl gewisse Personen unter einer Decke steckten – aber nicht die, von denen hier die Rede war.
»Und was ist jetzt mit Mr. Atterton?«, fragte Bell. »Sollen wir ihn als vermisst melden?«
Kincaid überlegte. »Warten wir noch ein wenig ab. Haben Sie es im Leander probiert?«
»Nicht seit gestern Abend.«
»Fragen Sie doch noch einmal dort nach, ja? Ich will noch rasch bei jemandem vorbeischauen, und später treffen wir uns dann wieder hier.« Er wollte sich zum Gehen wenden, aber eines beschäftigte ihn noch. »DC Bell, hat Mr. Atterton Ihnen irgendeinen Grund genannt, warum er so erpicht darauf ist, das Filippi zurückzubekommen?«
»Er sagte …« Sie zog die Stirn in Falten, als ob sie sich an die genauen Worte zu erinnern versuchte. »Er sagte, es sei das Einzige, was er wieder hinbiegen könne.«
Kincaid war ohne Frühstück von Notting Hill aufgebrochen. Jetzt spielte er mit dem Gedanken, sich einen Kaffee aus dem Automaten im Polizeirevier zu holen. Aber nur kurz. Sein Weg führte ihn direkt am Starbucks vorbei – für seinen Geschmack zwar auch nicht das Nonplusultra, aber immer noch um Längen besser als so eine braune Brühe im Styroporbecher.
Wenige Minuten später stand er mit einem Pappbecher von Starbucks in der Hand und einem Muffin im Bauch, den er in zwei Bissen hinuntergeschlungen hatte, vor Tavie Larssens Haustür und drückte die Klingel.
Wildes Gebell war zu hören, eine männliche Stimme rief ein Kommando, und dann riss Kieran Connolly die Tür auf. Seine Stirn, auf der sich am Mittwochabend gerade erst ein Bluterguss gebildet hatte, war jetzt lila verfärbt, doch er hatte den Verband entfernt, und Kincaid konnte sehen, dass ihm in der Tat eine verwegene Harry-Potter-Narbe bleiben würde, die sich schräg bis zur Augenbraue hinunterzog.
Kierans Miene hellte sich auf, als er sah, dass es Kincaid war. »Kommen Sie wegen des Schuppens?«, fragte er, während er sich der Schäferhündin und dem Labrador, die immer noch aufgeregt bellten, in den Weg stellte.
»Unter anderem«, antwortete Kincaid. »Darf ich reinkommen?«
»Ja, klar doch.« Kieran drehte sich zu den Hunden um. »Finn, Tosh, Ruhe jetzt! Platz!«
Die Hunde befolgten das erste Kommando, nicht jedoch das zweite. Sie mussten Kincaid ausgiebig beschnuppern, als er ins Zimmer trat, und er spürte ihren warmen Atem an seinen Beinen. »Ihr riecht eure Kollegen, nicht wahr?«, sagte er und tätschelte den beiden die Ohren. An Kieran gewandt, fügte er hinzu: »Sie haben die Hundekuchen vergessen.«
»Oh, stimmt.« Kieran öffnete die Dose, die auf dem Tischchen neben der Tür stand, und die Hunde machten sofort Platz. »Sie haben Hunde?«, fragte Kieran und sah Kincaid zum ersten Mal an, als ob er ein Mensch und nicht nur ein Polizeibeamter wäre.
»Einen Cockerspaniel. Und unser Sohn hat einen Terrier.«
»Cockerspaniels sind gute Hunde«, meinte Kieran. »Hervorragend bei der Drogen- und Sprengstoffarbeit. Haben eine unglaubliche Energie, die kleinen Kerle.«
»Wem sagen Sie das.«
Nachdem die Hunde ihre Leckerlis gefressen hatten, gingen sie zu ihren Schlafplätzen, die jetzt direkt nebeneinander vor dem Kamin waren. Kincaid stellte fest, dass Tavies Wohnzimmer inzwischen nicht mehr aussah, als gehörte es zu einem Puppenhaus. Nicht nur, dass zwei große Hunde und ein ellenlanger Mann sich hier breitmachten – der Boden war mit Hundespielsachen übersät, die Tische mit leeren Tassen und verstreuten Papieren bedeckt, und diverse Männerkleider waren über Sofa und Sessel verteilt.
Kieran nahm eine Jeans von der Rückenlehne des Sofas und bedeutete Kincaid, Platz zu nehmen. »Sie müssen die Unordnung entschuldigen«, sagte er. »Tavies Trockner ist kaputt. Sie hat für mich ein paar Klamotten von ihren Arbeitskollegen ausgeliehen, aber alle meine Sachen mussten gewaschen werden.«
»Ist sie hier?«
»Nein. Sie hat heute Bereitschaft.« Kieran setzte sich in den Sessel und verschränkte die großen Hände vor den Knien. »Also, wegen des Schuppens – Ist er – Kann ich – Ich möchte gerne nach Hause.«
Kincaid hatte den Eindruck, dass Kieran seinen eigenen Worten zum Trotz nicht ganz so besorgt um den Schuppen wirkte wie nach dem Brand am Mittwochabend. Das war nur verständlich, denn an dem Abend hatte er unter Schock gestanden, war verletzt und zu Tode erschrocken gewesen. Aber heute schien er sich in Tavies Haus etwas freier zu bewegen, als ob er sich hier allmählich wie zu Hause fühlte.
»Wie ich sehe, sind Sie beide einander noch nicht an die Gurgel gegangen«, sagte Kincaid.
»Noch nicht. Obwohl wir manchmal schon dicht davor waren«, meinte Kieran mit einem ironischen Funkeln in den Augen. »Trotzdem – ich muss nachsehen, ob – ob noch irgendetwas heil geblieben ist –«
»Ich habe auf dem Weg hierher mit den Brandermittlern telefoniert. Sie haben Ihren Schuppen heute Morgen freigegeben. Die Spurensicherung ist abgeschlossen, und sie sagen, man kann ihn jetzt gefahrlos betreten – wenn es auch ein ziemliches Chaos ist.«
»Oh.« Nachdem ihm sein Wunsch gewährt war, schien Kieran nicht so recht zu wissen, was er sagen sollte. »Prima.«
»Ich bin gestern dort gewesen. Es ist nicht so schlimm, wie Sie vielleicht denken, aber Sie werden alle Hände voll zu tun haben.«
Kieran nickte. Er griff sich an die Stirn, als wollte er sich kratzen, besann sich aber offenbar eines Besseren und ließ die Hand wieder in den Schoß sinken. »Tavie sagt mir immer wieder, dass alles ersetzbar ist und dass ich froh sein sollte, noch am Leben zu sein. Na ja, das weiß ich schon, aber alles, was ich besitze, war in diesem Schuppen. Ich könnte –« Er schüttelte den Kopf, als zweifelte er, ob es klug wäre, den Gedanken auszusprechen. »Wissen Sie, wer mir das angetan hat?«, fragte er stattdessen. »Oder warum? War es der Mann, den ich am Fluss gesehen habe?«
»Das wissen wir noch nicht. Aber was diese Stelle am Fluss betrifft –« Kincaid nutzte die Gelegenheit, um auf sein Thema zu kommen. »Sie hatten recht. Da war tatsächlich jemand, und er hat auch Spuren hinterlassen.« Kincaid beugte sich vor und sah zu den Hunden hinüber, die sich beide behaglich ausgestreckt hatten und zu schlafen schienen. »Mir ist da ein Gedanke gekommen – Wäre es möglich, dass die Hunde dort einen Geruch aufnehmen und mit einer bestimmten Person in Verbindung bringen könnten?«
Kieran runzelte die Stirn. »Das ist jetzt wie lange her – vier Tage? Und ich war auch dort, ganz zu schweigen von Ihrem Spurensicherungsteam, das alles durchkämmt hat. Tavie ist die Expertin, aber ich würde sagen, es ist extrem unwahrscheinlich.«
Als ob er wüsste, dass sie über ihn redeten, gab Finn einen Laut zwischen Schnaufen und Stöhnen von sich und hob den Kopf.
»Die Hunde könnten vielleicht reagieren, wenn sie eine Art emotionalen Bezug zu dem Geruch haben«, fuhr Kieran fort, ohne Kincaid in die Augen zu sehen. »Zum Beispiel – äh, durch irgendein einschneidendes Ereignis oder auch, wenn sie den Geruch einer Person aufnehmen, die sie schon kennen.«
Finn stand auf, gähnte und kam herbei, um sich zu Kierans Füßen zu betten. »Aber sie könnten genauso gut Interesse zeigen, weil diese Person zum Frühstück Würstchen gegessen hat«, fuhr Kieran fort. »Ihr seid ganz schön launische Biester, was?«, sagte er zu Finn und beugte sich vor, um dem Hund den Kopf zu streicheln.
»Okay, danke«, sagte Kincaid enttäuscht. »Es war immerhin einen Versuch wert.«
Jetzt sah Kieran ihm in die Augen; sein Blick war klar und direkt. »Sie glauben zu wissen, wer es getan hat.«
»Ich habe keine Beweise«, erwiderte Kincaid.
Er hatte gehofft, dass, falls Melody und Gemma im Fall Jenny Hart eine Identifizierung bekämen, die Hunde eine eindeutige Verbindung zwischen dem Tatort des Mordes an Rebecca Meredith und Craig herstellen könnten. Auf dieser Grundlage könnten sie dann einen Durchsuchungsbeschluss für Craigs Haus und Wagen beantragen.
Er wollte Craig den Mord an Jenny Hart nachweisen, aber noch mehr wollte er ihn für Rebecca Meredith drankriegen.
»Hören Sie, Mr. Connolly«, sagte er und stand auf. »Er ist immer noch auf freiem Fuß, und Sie sind bislang der Einzige, der ihn vielleicht am Fluss gesehen hat. Bleiben Sie noch eine Weile hier. Und gehen Sie nach Einbruch der Dunkelheit nicht allein aus dem Haus.«
An der Tür drehte Kincaid sich noch einmal um. »Ach, übrigens, wegen des Boots, an dem Sie gearbeitet haben – das, um das Sie so besorgt waren: Ich wollte Ihnen nur sagen, dass wir Ihren Nachbarn gebeten haben, es in seinem Schuppen einzuschließen.«
Er verabschiedete sich und war sich dabei keineswegs sicher, dass Kieran seinen Rat befolgen würde, doch er konnte ja schlecht jeden, der irgendetwas mit Rebecca Meredith zu tun gehabt hatte, vorsorglich in Haft nehmen.
Es wurde allmählich wärmer, als er zum Marktplatz zurückging. Er blieb stehen und sah auf seine Uhr: Es war erst zehn. Noch mindestens zwei Stunden, ehe er hoffen konnte, von Gemma zu hören. Und er hatte keinen Zweifel, dass er von ihr einen Bericht aus erster Hand bekommen würde. Seinen Warnungen zum Trotz war sie zu sehr Polizistin, um die Zeugenaussage nicht mit eigenen Ohren hören zu wollen.
Und in der Zwischenzeit würde er herausfinden, wo zum Teufel dieser Freddie Atterton steckte.
Er versuchte es zuerst in der Bar des Hotel du Vin, auch wenn es noch recht früh am Tag war, nur für den Fall, dass Attertons Abstinenz-Vorsatz nicht lange Bestand gehabt hatte – doch er war nicht dort.
Von dort ging er über die Brücke zum Leander. Nicht, dass er DC Bells Gründlichkeit misstraut hätte, aber es war ja immerhin möglich, dass sie und Atterton sich gerade verpasst hatten. Aber auch dort hatte er kein Glück, obwohl er im Empfang mit der entzückenden Lily Meyberg sprach und anschließend noch im Speisesaal, in den Bars und in den Mannschaftsräumen nachsah.
Nachdem er zum Empfang zurückgegangen war und sich bei Lily bedankt hatte, beschloss er spontan, durch die Glastür auf den kleinen Balkon hinauszutreten, von dem der Blick über den Fluss und die Anlagen des Clubs ging. Die Wiesen lagen verlassen; nur die Betonpfeiler, auf denen im kommenden Juni die Zuschauertribünen ruhen würden, ragten aus der einförmigen grünen Fläche empor.
Kincaid war noch nie bei der Henley Royal Regatta gewesen, doch er hatte Fotos und Videos gesehen. Vor seinem geistigen Auge sah er die Scharen von Zuschauern, die Tribünen und Zelte bevölkerten, die Sonne, die auf dem Wasser glitzerte, und die vielen Ruderer mit ihren Booten, wie sie vom Start ablegten, eine einzige Symphonie aus Farbe und Bewegung.
Wäre Rebecca auch dabei gewesen? Hätte sie dann unter Beweis gestellt, dass sie das Zeug zur Olympiateilnehmerin hatte?
Er hörte die Tür hinter sich knarren, und als er sich umdrehte, erblickte er Milo Jachym.
»Lily sagte, dass Sie nach Freddie suchen«, begann Milo. »Ist ihm etwas passiert?«
»Er hat gestern Abend seine Wohnung verlassen und ist nicht mehr zurückgekommen. Haben Sie eine Ahnung, wo er sein könnte?«
»Er hat mich gestern Abend angerufen, aber ich war gerade im Kraftraum. Er hat keine Nachricht hinterlassen, und als ich zurückrief, ist er nicht rangegangen.« Milo runzelte die Stirn. »Er hat nicht den Wagen genommen?«
»Nein.«
»Dann wird er nicht zu seinen Eltern gefahren sein.« Milo schüttelte den Kopf und blickte wie Kincaid über die Grünfläche hinweg. »Ich hätte nie gedacht, dass Beccas Tod ihn so schwer treffen würde. Ich hatte immer geglaubt, dass Freddie zu den Glücklichen gehört, denen im Leben alles mühelos gelingt. Er hatte alles – gutes Aussehen, Beziehungen, Talent. Aber in den letzten Jahren ist sein Charme ein bisschen abgeblättert. Es schien, als müsste er sich Mühe geben, damit ihm die Dinge nicht entgleiten.«
Kincaid betrachtete den Mann, der neben ihm stand, und fragte sich, ob Milo Jachym auf Freddie eifersüchtig gewesen war. Er hatte das Gefühl, dass Milo nichts in den Schoß gefallen war – dieser Mann hatte jede Chance, die sich ihm bot, mit beiden Händen packen und mit der kompromisslosen Entschlossenheit eines Steuermanns festhalten müssen. Und es war gewiss denkbar, dass seine Beziehung zu Rebecca Meredith komplizierter gewesen war als zwischen Trainer und Teammitgliedern üblich. »Sie kannten Freddie und Becca schon lange?«, sagte er.
»Seit sie beide noch an der Uni waren. Sie hatten so viel Potenzial, alle beide. Aber irgendwo war von Anfang an der Wurm drin.« Milo klang unendlich traurig.
Dann richtete er sich mit einem Achselzucken auf, und sofort war seine gewohnte forsche Art wieder da. »So, jetzt muss ich aber die Crew für die zweite Trainingseinheit aufs Wasser bringen. Wenn Sie Freddie finden, sagen Sie ihm, er soll mich anrufen.« Er begann die Treppe zum Bootsplatz hinunterzugehen, dann drehte er sich noch einmal zu Kincaid um. »Haben Sie es mal im Cottage versucht? Das ist der einzige Ort, der für Freddie als letzte Zuflucht in Frage käme.«
Kincaid überlegte, ob er zu seinem Wagen zurückgehen sollte, den er auf dem Parkplatz an der Greys Road nahe dem Polizeirevier abgestellt hatte. Doch er befürchtete, dass ihn die SOKO-Zentrale gleich wieder in ihren Strudel ziehen würde, und er hatte immer noch das Gefühl, dass es das Klügste wäre, sich so lange unsichtbar zu machen, bis er wusste, was sie gegen Craig in der Hand hatten.
Er würde zu Fuß nach Remenham gehen. Er war die Strecke schließlich schon einmal mit dem Auto gefahren und hatte gesehen, dass es nicht weit war.
Bald jedoch musste er feststellen, dass es zwar ein idyllisches Sträßchen war, die Strecke jedoch wesentlich weiter war, als er sie in Erinnerung hatte. Als er endlich an Rebecca Meredith’ Cottage ankam, war ihm warm, obwohl er nur eine leichte Lederjacke trug, und er hätte ein Königreich für seine Sportschuhe gegeben.
Bei Tageslicht sah das Häuschen nicht ganz so gepflegt aus; es war deutlich zu erkennen, dass die Routinearbeiten vernachlässigt worden waren. Die Hecke musste dringend geschnitten werden, der Rasen war nicht gemäht, und um das Vordach herum blätterte die Farbe ab.
Das Gartentor war nur angelehnt, und als Kincaid hindurchtrat, sah er, dass die Haustür weit offen stand. Ein Dutzend mögliche Erklärungen schossen ihm durch den Kopf, keine davon erfreulich.
Mit pochendem Herzen blieb er stehen und blickte sich erst einmal um. Nachdem er Gemma so eindringlich zur Vorsicht ermahnt hatte, wollte er jetzt nicht derjenige sein, der sich leichtsinnig in eine gefährliche Situation begab.
Nichts war zu hören, nichts rührte sich. Dann sah er die Fußstapfen. Im Schatten der Hecke war das lange Gras im Vorgarten noch feucht vom Tau, und eine deutlich erkennbare einzelne Fußspur führte von der Vortreppe auf den Rasen und um das Cottage herum.
Vorsichtig folgte Kincaid ihr. Als er um die Hausecke bog, sah er Freddie Atterton am Ende des Gartens stehen und auf den Fluss hinausblicken. Er trug eine Jeans und ein verwaschenes T-Shirt in Oxford-Blau, und er war barfuß.
»Mr. Atterton«, sagte Kincaid leise, und Atterton drehte sich um.
»Oh. Sie sind’s.« Das Lächeln, mit dem er Kincaid ansah, war zögerlich, und er wirkte ein wenig desorientiert.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Kincaid und trat näher. Jetzt sah er, dass das blaue T-Shirt wirklich ein Oxford Blue war – es hatte das Emblem des Oxford University Boat Club auf der Brust. »Wir haben uns alle ein wenig Sorgen um Sie gemacht. Besonders DC Bell.«
»Imogen. Ein schöner Name. Und ein hübsches Mädchen.« Diesmal war das Lächeln schon ein wenig fester, doch dann zog er die Stirn in Falten. »Sie hat nach mir gesucht?«
»Sie haben Ihre Mailbox nicht abgehört.«
»Nein. Hab das verdammte Handy ausgeschaltet. Die Presse.«
»Sind Sie seit gestern Abend hier?«
Freddie nickte.
»Was tun Sie hier draußen im Garten?«, fragte Kincaid so sanft, als ob er mit einem seiner Kinder spräche.
»Ich wollte – Ich wollte nur sehen –« Freddie brach ab, seine Zähne klapperten. Kincaid sah, dass seine Hosenbeine vom feuchten Gras bis fast zu den Knien klatschnass waren – wie inzwischen auch seine eigenen. »Man kann es von hier nicht ganz sehen«, fuhr Freddie fort. »Temple Island. Aber sie war so nahe dran.«
»Ja«, pflichtete Kincaid ihm bei. »Das war sie.« In ebenso beiläufigem Ton fügte er hinzu: »Sie haben wohl Ihre Schuhe verloren.«
»Oh.« Freddie sah an sich hinunter und schien überrascht, dass er barfuß war. Er fasste an sein T-Shirt. »Ich habe die Sachen hier gefunden. Meine Klamotten von der Uni. Im Kleiderschrank. Sie hatte sie aufgehoben.« Er hatte Tränen in den Augen.
»Ich finde«, sagte Kincaid in sachlichem Ton, »wir sollten ins Haus gehen, eine Tasse Tee trinken und uns erst mal aufwärmen. Dann können wir über alles reden. Einverstanden?«
Die zerwühlte Bettdecke auf dem Sofa ließ darauf schließen, dass Freddie Atterton hier übernachtet hatte und nicht oben im Schlafzimmer. Kincaid konnte es ihm nicht verdenken. Im Bett der toten Exfrau zu schlafen, wäre schlimm genug. In dem Bett zu schlafen, von dem man inzwischen wusste, dass die tote Exfrau es mit einem anderen Mann geteilt hatte, wäre noch schlimmer.
»Sie sollten sich umziehen«, riet er Freddie, als er ihm ins Zimmer folgte.
»Ich trockne mich nur ab. Vergessen Sie nicht, ich bin Ruderer. Oder jedenfalls war ich einer. Und nass zu werden gehört für einen Ruderer ganz einfach zum Alltag.«
Im Wohnzimmer war es kalt, trotz des sonnigen Tages, wie auch beim ersten Mal, als Kincaid das Cottage betreten hatte. »Wie wär’s dann, wenn Sie erst mal einheizen? Ich bin nämlich nicht ganz so abgehärtet wie Sie. Ich mach uns inzwischen etwas Heißes zu trinken.«
In der Küche fand er Teebeutel – Marke Tetley’s. Offenbar war Rebecca in dieser Hinsicht recht anspruchslos gewesen. Im Kühlschrank stand ein halb volles Plastikkännchen mit Milch, deren Haltbarkeitsdatum gerade noch nicht abgelaufen war. Nachdem er Wasser aufgesetzt hatte, schaute er ins Wohnzimmer und fragte: »Milch und Zucker?«
Freddie nickte. »Von beidem reichlich. Auch so eine alte Ruderergewohnheit. Immer rein damit, wenn es nur ordentlich Kalorien hat.« Nachdem er den Gaskamin eingeschaltet hatte, räumte er die Bettdecke beiseite und setzte sich aufs Sofa. Er begann einige alte Fotos hin- und herzuschieben, die auf dem kleinen Couchtisch ausgebreitet waren.
Kincaid füllte zwei Becher, ließ bei seinem den Zucker weg und entschied sich im letzten Moment, auch auf die Milch zu verzichten. Dann ging er mit dem Tee ins Wohnzimmer und nahm den Sessel direkt neben Freddie. »Was schauen Sie sich da an?«, fragte er, während er ihm den Becher reichte.
»Die hat sie auch aufgehoben. Ich hatte ja keine Ahnung. Ich habe einen Stift gesucht, und da fand ich sie hinten in der Schreibtischschublade.« Er drehte die Fotos eins nach dem anderen so, dass Kincaid sie sehen konnte.
Auf allen erkannte Kincaid einen wesentlich jüngeren Freddie im Ruderdress von Oxford. Mehrere Aufnahmen zeigten ihn auf der Steuerbordseite eines Achters, das Gesicht vor übermenschlicher Anstrengung verzerrt. Auf anderen war er offenbar bei Partys oder Feiern nach einem Rennen zu sehen. Eines dieser Fotos zeigte eine viel jüngere Rebecca, die eine Flasche Champagner über Freddies Kopf ausleerte. Beide lachten.
Freddie griff nach diesem Foto und fuhr mit dem Finger darüber. »Das war das zweite Jahr, in dem ich im Blue Boat ruderte«, sagte er. »Wir hatten uns gerade verlobt. Es war natürlich Ross, der Becca zu der Champagner-Aktion angestiftet hatte.«
»Ross?«
»Mein Kumpel, der mich zu –« Er stockte, trank einen Schluck von seinem Tee. »Zum Leichenschauhaus gefahren hat«, fuhr er fort. »Wir waren alle zusammen auf der Uni, Becca und ich und Ross und seine Frau Chris.«
Freddie deutete mit dem Kopf auf ein gerahmtes Foto der gleichen Boat-Race-Crew, das in Beccas Bücherregal stand. »Sehen Sie, das ist er. Das Foto wurde unmittelbar vor dem Rennen gemacht. Ross war in letzter Minute von der Isis, dem zweiten Boot, ins Blue Boat gekommen.«
Kincaid sah einen stämmigen jungen Mann, lächelnd wie auch der Rest der Crew – mit einer Mischung aus Stolz und Nervosität. »Ich dachte, der Champagner wäre vielleicht zur Feier des Sieges beim Boat Race geflossen.«
»Nicht für die Verlierer-Crew. In diesem Jahr war unser Boot um ein Haar vollgelaufen. Wir hätten alle ersaufen können. Ich glaube, dass Becca – ich weiß nicht. Danach war irgendwie nichts mehr wie früher. Vielleicht war ich dadurch in ihren Augen als Verlierer gebrandmarkt.«
»Es war doch nur ein Rennen«, meinte Kincaid.
Freddie starrte ihn entgeistert an. »Es war das Boat Race. Nichts, was danach noch kommt, kann da je heranreichen, egal, ob man gewinnt oder verliert. Aber Becca – Becca wollte, dass ich gewinne, sogar noch mehr als ich selbst.«
»War sie eifersüchtig auf Sie, weil Sie diese einmalige Chance hatten?«, fragte Kincaid, der an all das dachte, was er über Rebecca Meredith erfahren hatte. »Das war doch die eine Sache, die ihr immer verwehrt geblieben war – beim Boat Race zu rudern.«
Freddies Augen weiteten sich vor Verblüffung. »Kann sein. Auf die Idee bin ich nie gekommen. Vielleicht war es ihr deswegen so wichtig.«
»Ihre Niederlage war auch Beccas Niederlage.«
»Sie hat es schwergenommen. Sie war nicht nur wütend, nicht nur enttäuscht. Sie war … verbittert.« Er zuckte mit den Achseln. »Das Leben ging weiter, wir haben geheiratet, haben getan, als ob alles noch so wäre wie vorher. Aber das war es nicht. Und dann – na ja, Sie wissen, was dann passiert ist.«
»Die Olympia-Qualifikation. Ihre Verletzung. Ihr Scheitern.«
Freddie nickte. »Ich habe damals nicht geglaubt, dass wir darüber hinwegkommen würden. Aber dann hat sie den Job bei der Polizei bekommen, wie Chris auch, und für eine Weile wurde es besser. Sie hat diese ganze besessene Energie in ihre Arbeit gesteckt. Aber da war immer eine Distanz zwischen uns, eine Mauer, die ich einfach nicht überwinden konnte.«
»Und so haben Sie schließlich anderswo Trost gesucht.« Kincaid sagte es ohne Vorwurf in der Stimme.
Freddie lächelte schief. »So kann man es wohl nennen. Aber es hat nie geholfen. Heute frage ich mich immer wieder, ob ich irgendetwas hätte tun können, um etwas daran zu ändern. Und ich werde es nie herausfinden.«
Er hatte recht. Kincaid konnte nichts Tröstendes erwidern. Und jetzt wusste er, dass die Dinge, die er irgendwann würde sagen müssen, nur Freddies Schuldgefühle verstärken würden.
Wenn Freddie und Becca zusammengeblieben wären, dann hätte Angus Craig vielleicht nie die Gelegenheit bekommen, Rebecca zu vergewaltigen. Und sie wäre vielleicht noch am Leben.
Kincaid blickte sich nachdenklich im Raum um. Als er am Dienstagabend zum ersten Mal hier gewesen war, da hatte er noch keine Ahnung gehabt, was sich hier abgespielt hatte.
Jetzt sah er vor seinem geistigen Auge die Tatortfotos aus Jenny Harts Wohnung, und er sah dieses Zimmer verwüstet, sah Rebecca, der Gewalt angetan worden war. Übelkeit stieg in ihm auf.
»Was ist?«, fragte Freddie. »Sie schauen, als hätten Sie einen Geist gesehen.«
Kincaid erwiderte seinen Blick, und in diesem Augenblick kam er zu einem Entschluss. Freddie Atterton musste erfahren, was mit seiner Exfrau passiert war.
Aber noch nicht gleich. Denn mit dem Wissen würde die Wut kommen, und wenn Freddie auf Angus Craig losginge, hätte Kincaid keine Möglichkeit, ihn vor den Konsequenzen zu bewahren.