9
Skullen ist ein Sport für Individualisten.
Brad Alan Lewis, Assault on Lake Casitas
Die junge Detective Constable war hoch aufgeschossen und schlaksig, mit einer energischen Art und einem etwas linkischen Charme. Sie hatte schulterlanges braunes Haar und braune Augen, und Kincaid konnte sich vorstellen, dass Rebecca Meredith vor zehn Jahren ganz ähnlich ausgesehen hatte.
»Wie heißen Sie?«, fragte er.
»Imogen, Sir. DC Imogen Bell.«
»Kann es sein, dass Sie auch rudern?«
»Nein, Sir. Aber ich bin schon mit dem einen oder anderen Ruderer ausgegangen – die meisten sind ganz schön eingebildete Schnösel. Meinen, bloß weil sie ein bisschen paddeln können, müssten alle Frauen auf sie –« Sie fing Singlas Blick auf und brach ab. »Äh, verzeihen Sie, Sir.«
»Nein, das ist schon in Ordnung. Ich bin immer interessiert an persönlichen Einschätzungen und Insider-Informationen«, erwiderte Kincaid und sah ein kurzes Lächeln um ihre Lippen spielen, ehe sie sich zusammennahm und für ihren Chef eine geschäftsmäßige Miene aufsetzte.
»Kannten Sie DCI Meredith, Constable Bell?«
»Ich wusste, wer sie war, Sir. Aber gesprochen habe ich nie mit ihr. Ich bin ihr ein paar Mal auf der Straße begegnet. Wir – Na ja, sie war schon so etwas wie ein Vorbild für mich. Sie wirkte wie eine Frau, die sich durchsetzen kann, meine ich.« Sie warf wieder einen argwöhnischen Blick in Singlas Richtung, doch der hatte inzwischen einen Anruf angenommen.
Bells Kollege, ein etwas fülliger junger Mann in einem unvorteilhaft engen Anzug, schüttelte dezent den Kopf und wandte sich ab, als wolle er sie ihrem Schicksal überlassen.
Kincaid jedoch interessierte sich nicht dafür, was sich nach DI Singlas Auffassung gehörte und was nicht. Wenn diese beiden Beamten sein potenzielles Team waren, dann wollte er sich einen Eindruck von ihren Persönlichkeiten und der Dynamik ihrer Beziehung verschaffen. »Kennen Sie Freddie Atterton, ihren Exmann?«, fragte er.
»Auch nicht persönlich«, antwortete Bell. »Aber er hat – nun ja, einen gewissen Ruf.«
»Und was für einen, wenn ich fragen darf?«
»Er soll ein ziemlicher Frauenheld sein, Sir. Und er geht gerne in die besseren Clubs und Bars wie das Hotel du Vin und das Loch Fyne – allerdings ist er meines Wissens nicht als starker Trinker bekannt.«
»Sie sind sehr gut informiert.«
Kincaids Bemerkung wurde von dem untersetzten Constable mit einem Grinsen quittiert. »Das kommt daher, dass sie alle Barkeeper persönlich kennt«, sagte der junge Mann. »Und sie hat vergessen, den Strip-Club zu erwähnen.«
Imogen warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Es ist eine kleine Stadt hier. Und Barkeeper sind gute Informationsquellen. Sie wissen immer, was läuft, und sie haben meistens einen ziemlich guten Riecher, wenn irgendjemand etwas nicht ganz Astreines im Schilde führt.«
Imogen Bell gefiel Kincaid immer besser.
»Henley hat ein Striplokal?«, fragte Cullen ungläubig.
»Ja, drüben beim Parkplatz.« Bell zuckte wegwerfend mit den Achseln. »Und es ist bei weitem nicht so verrucht, wie es sich anhört. Im Grunde ist es ein ganz normaler Nachtclub, mit ein paar Mädchen, die Lapdance machen. Da gehen in Henley alle hin, wenn die Pubs schließen.«
»Und gleich nebenan ist das Seniorenzentrum«, fügte ihr Kollege hinzu. »Weswegen es schon jede Menge Ärger mit der Stadtverwaltung gegeben hat.«
Kincaid betrachtete ihn. »Entschuldigen Sie, ich habe mir Ihren Namen nicht gemerkt.«
»Ich heiße Bean. Laurence Bean, Sir.«
»Bean und Bell?« Er musste unwillkürlich grinsen, auch wenn er wusste, dass er sich damit bei DC Bean nicht unbedingt beliebt machen würde. »Oder Bell und Bean? Klingt wie ein Varieté-Duo.«
Bell grinste ebenfalls. »Mr. Bean ist doch eher eine Solonummer.«
»Haha, sehr witzig, Bell«, gab Bean zurück, doch ehe er eine schlagfertige Antwort loswerden konnte, wurden sie von DI Singla unterbrochen, der sein Telefonat beendet hatte und sie grimmig anstarrte.
»Wir ermitteln hier in einem verdächtigen Todesfall, falls Ihnen das entgangen sein sollte. Und im Augenblick scheinen wir auf der Stelle zu treten. Das Team, das die Anwohner zwischen dem Leander-Club und Remenham befragen sollte, hat nichts herausgefunden. Ebenso wenig wie die Kollegen, die die Hausboote am Buckinghamshire-Ufer zwischen Henley und Greenlands abgeklappert haben.«
»Kein allzu überraschendes Resultat«, meinte Kincaid. »Aber –« Sein Handy vibrierte. Ein rascher Blick aufs Display verriet ihm, dass der Anrufer Rashid Kaleem war, also entschuldigte er sich und nahm den Anruf an. »Rashid? Was gibt’s Neues?«
»Nichts hundertprozentig Wasserdichtes«, antwortete Kaleem in dem gestochen präzisen Oxbridge-Akzent, der immer ein wenig im Widerspruch zu seiner betont unkonventionellen Erscheinung zu stehen schien. Für Kincaid war dieser Akzent eine kleine, aber verständliche Eitelkeit eines Mannes, der in einer von Bangladeschis bewohnten Sozialsiedlung in Bethnal Green aufgewachsen war. »Aber«, fuhr Kaleem fort, »die Sache gefällt mir nicht. Manche der Kopfverletzungen scheinen ihr vor ihrem Tod zugefügt worden zu sein. Sie war eindeutig noch am Leben, als sie über Bord gegangen ist – ihre Lunge war voll Wasser. Und zwar Flusswasser, um das gleich klarzustellen. Sie wurde nicht in der Badewanne ertränkt.«
»Also kein Sekundentod beim Rudern?«, fragte Kincaid und sah dabei Cullen an.
»Nein. Und bei den meisten Sportlern, die an plötzlichem Herzversagen sterben, stellt sich hinterher heraus, dass sie an einem unerkannten genetischen Defekt litten. Rebecca Meredith war kerngesund.«
Kincaid kannte Kaleem gut genug, um zu wissen, dass das noch nicht alles war. »Sowohl das Ertrinken als auch die Kopfverletzungen könnten die Folgen eines Bootsunfalls sein. Wo ist der Haken?«
»Partikel von rosa Farbe unter ihren Fingernägeln. Ihre Nägel waren kurz geschnitten und gepflegt, deshalb halte ich es für unwahrscheinlich, dass sie sich als Heimwerkerin betätigt und sich hinterher nicht gründlich genug die Hände gewaschen hat. Und ich habe leichte Blutergüsse an den Fingerknöcheln festgestellt, mit kleinen Splittern unter der Haut, bei denen es sich um die gleiche Farbe handeln könnte. Das Boot war nicht zufällig in so einem leuchtenden, ins Pfirsichfarbene spielenden Schweinchenrosa gestrichen? Ich habe Proben ans Labor geschickt, vielleicht können die sie ja zuordnen.«
»Ich kann es mir schon denken«, sagte Kincaid. »Sie haben gerade eine sehr gute Beschreibung von Leander-Pink geliefert.«
Kincaid beendete das Gespräch und gab dem Team eine Zusammenfassung von Kaleems Befunden. An Cullen gewandt, sagte er: »Doug, Sie sind doch Ruderer. Sie hatte rosa Farbe unter den Fingernägeln und Blutergüsse an den Knöcheln. Wie könnte das Ihrer Meinung nach abgelaufen sein?«
Cullen wurde ein wenig blass. »Nun ja, ich könnte mir vorstellen, dass jemand ihr Boot umgekippt hat. Wenn ihr Skull sich gelockert hatte … oder wenn jemand es aus der Dolle herausgezogen hat, dann dürfte es nicht allzu schwierig gewesen sein, vor allem, wenn sie überrascht wurde. Und als sie dann versuchte, das Boot aufzurichten, könnte der Täter es mit dem Ruder niedergehalten haben.«
»Und bei dem Versuch, wieder hochzukommen«, fuhr Kincaid fort, »streckte sie die Hände aus und versuchte nach dem Ruder zu greifen. Und da schlug ihr diese Person, wer immer es war, damit auf die Knöchel.«
»Warum hat sie nicht einfach die Füße aus den Schuhen gezogen und ist unter dem Boot herausgeschwommen?«, fragte Bell.
»Wenn sie einen Schlag auf den Kopf bekommen hat, war sie vielleicht benommen. Und infolge des Schocks hat sie möglicherweise sofort Wasser eingeatmet.«
»Diese hypothetische Person, die das Boot umgekippt hat«, warf Singla ein. »Das sind doch alles nur Mutmaßungen, Superintendent.«
»Diese Mutmaßungen müssen uns vorläufig als Ausgangspunkt genügen, Inspector.« Kincaids Ton war ernst, sein lockeres Geplänkel mit Bean und Bell von vorhin schien vergessen. »Ich glaube, wir haben jetzt eine Mordermittlung am Hals.«
Er rief Denis Childs an und setzte ihn über die jüngsten Entwicklungen in Kenntnis.
Am anderen Ende war es einen Moment lang still, dann vernahm Kincaid ganz deutlich einen Seufzer. »Dann haben wir wohl keine Wahl«, sagte Childs, offenbar alles andere als glücklich über diese Wendung der Dinge. »Aber ich möchte, dass Sie die Ermittlungen leiten. Ich werde mich auf dem Dienstweg mit Thames Valley in Verbindung setzen. Und Sie werden mehr Personal brauchen. Ich besorge Ihnen noch ein paar Mitarbeiter für die Datenerfassung. Was ist mit dem Team dort in Henley?«
»Das ist für den Moment völlig ausreichend. Aber, Sir –«
»Haben Sie Spuren des Exmanns am Tatort gefunden?«
»Nein, Sir«, antwortete Kincaid ungewohnt förmlich. »Da war nichts. Und ich denke, wir sollten nicht vergessen, dass Rebecca Meredith’ Leben in den letzten vierzehn Jahren nicht nur aus ihrem Exmann und ihrem Rudersport bestanden hat. Sie war Polizeibeamtin, und offenbar eine gute, wenn sie es bis zur DCI gebracht hat. Ich werde ihrer Dienststelle einen Besuch abstatten.«
Kincaid konzentrierte sich auf die Fahrzeuge, die sich von der Auffahrt kommend in den Verkehr auf der M4 Richtung London einfädelten, doch er spürte, wie Cullen ihn immer wieder fragend ansah. »Na los, raus mit der Sprache«, sagte er, nachdem er mit dem Astra auf die Überholspur gewechselt war.
»Was ist denn mit dem Chef los?«, fragte Cullen. »Sie haben vorhin ein bisschen – na ja, angefressen gewirkt.«
»Er hat sich total auf Freddie Atterton versteift. Ich finde lediglich, dass er da ein bisschen voreilig ist, das ist alles.«
»Hat er Ihnen die Statistik vorgehalten?«
»Noch nicht. Aber ich fürchte, auf die Idee wird er von selbst noch kommen.« Sie wussten alle, dass die Mehrzahl der Morde von Personen begangen wurden, die dem Opfer sehr nahestanden, und Kincaid war überrascht, dass Childs dieses Argument noch nicht ins Feld geführt hatte, da er doch so entschlossen schien, Freddie Atterton die Tat anzuhängen.
»Sie müssen zugeben«, sagte Doug nachdenklich, »dass die Einzelheiten, die wir heute Morgen erfahren haben, es nahelegen, dass der Täter ein Ruderer ist – oder zumindest etwas von Booten versteht. Und er muss Meredith’ Gewohnheiten gekannt haben. Freddie Atterton erfüllt beide Bedingungen.«
»Möglicherweise.« Kincaid wusste, dass Cullen in beiden Punkten recht hatte, und er fragte sich, ob er sich aus purem Eigensinn weigerte, Atterton an die Spitze der Verdächtigenliste zu setzen. Vielleicht. Aber er mochte es nicht, wenn man ihn drängte. Und er wusste auch, wie gefährlich es war, zu einem so frühen Zeitpunkt voreilige Schlüsse zu ziehen. Er würde es sich nicht gefallen lassen, dass andere seine Ermittlungen mit ihren Interessen und Vorstellungen beeinflussten.
Im CID-Büro des Reviers West London verstummten die Gespräche, als sie eintraten. Der diensthabende Sergeant hatte nach oben telefoniert, um sie anzukündigen, und wie in jeder Polizeidienststelle schienen sich auch hier Neuigkeiten wie durch Telepathie blitzartig zu verbreiten. Kincaid war sich sicher, dass inzwischen auch der letzte Beamte in der Abteilung wusste, wer sie waren und was der Grund ihres Kommens war.
Das Büro des Superintendent befand sich im hinteren Teil des Raums, vom allgemeinen Trubel abgeschottet durch eine gläserne Trennwand. Kincaid klopfte an die Tür und sah durch die halb offenen Jalousien, wie ein Mann von seinem Schreibtisch aufstand, um sie zu begrüßen.
Peter Gaskill empfing sie mit einem forschen Handschlag. »Superintendent. Sergeant. Nehmen Sie doch Platz.« Er war ein großer Mann mit feinem, sorgfältig frisiertem Haar und hoher Stirn, die ihm ein aristokratisches Aussehen verlieh. Bekleidet war er mit einem maßgeschneiderten marineblauen Blazer, mit dem er, wie Kincaid fand, hervorragend in den Leander-Club gepasst hätte.
»Üble Geschichte«, sagte Gaskill, während er auf seinen ledergepolsterten Chefsessel zurückkehrte. Im Sitzen schien er sogar noch größer, und Kincaid fragte sich, ob er den Sitz ganz nach oben gestellt hatte, um einschüchternder zu wirken. »Es ist immer furchtbar, einen Kollegen oder eine Kollegin zu verlieren, aber ein Mord …« Er schüttelte den Kopf. »Einfach entsetzlich. Sind Sie sich sicher?«
»Dann hat Chief Superintendent Childs Sie also angerufen?«, fragte Kincaid. Er hielt es nicht für nötig zu wiederholen, was Childs Gaskill bereits mitgeteilt hatte.
»Ja, unverzüglich. Er hat vollstes Vertrauen zu Ihnen, Superintendent.«
Kincaid stellten sich die Nackenhaare auf. Zuerst hatte Peter Gaskill sich von ihnen distanziert, indem er sie nicht mit Namen ansprach, und jetzt war sein Ton direkt herablassend. Wer war er denn, dass er glaubte, Kincaid hätte solche Komplimente nötig?
Doch er ignorierte die Bemerkung und lächelte, da er Gaskill nicht auch noch die Befriedigung gönnen wollte zu sehen, dass er ihn geärgert hatte. »Das weiß ich zu schätzen, Superintendent.« Wenn Gaskill erwartete, dass Kincaid ihn »Sir« nannte, konnte er lange warten – sie hatten beide den gleichen Dienstgrad. »Und ich wäre Ihnen dankbar für alles, was Sie mir über DCI Meredith erzählen können.«
»DCI Meredith war eine vorbildliche Beamtin. Sie genoss hohes Ansehen hier im Dezernat.«
»Aber war sie auch beliebt?«
»Beliebt?« Zum ersten Mal wirkte Gaskill verblüfft. »Spielt das wirklich eine Rolle, Superintendent? Hochrangige Polizeibeamte halten sich normalerweise nicht mit der Frage auf, ob sie sich beliebt machen.«
Jetzt war es Kincaid, der den Oberlehrer herauskehrte. »Das spielt bei jeder Mordermittlung eine Rolle, wie Ihnen sicherlich bewusst ist. Ich möchte wissen, wie Rebecca Meredith sich mit ihren Kolleginnen und Kollegen verstanden hat. Gab es in ihrer Abteilung irgendwelche internen Feindseligkeiten oder Rivalitäten?«
Jetzt starrte Gaskill ihn an. »Sie können doch nicht ernsthaft andeuten, dass Meredith’ Tod irgendetwas mit ihrer Arbeit hier im Dezernat zu tun haben könnte.«
»Ich weiß es nicht.« Kincaid zuckte mit den Achseln. »Ich weiß im Moment noch gar nichts, außer dass offenbar irgendjemand Rebecca Meredith’ Rennruderboot zum Kentern gebracht und sie so lange unter Wasser gehalten hat, bis sie ertrank.«
Einen Moment lang hörte man nur, wie Gaskill heftig einatmete. Kincaid, der mit dem Rücken zu der gläsernen Trennwand saß, konnte die neugierigen Blicke der Kollegen im CID-Büro spüren, und er hatte ein Gefühl, als ob ihm jemand ein Loch zwischen die Schulterblätter bohrte.
Cullen schob seine Brille hoch, während Gaskill Kincaids Blick auswich und damit die Spannung des Augenblicks löste. »Das ist entsetzlich, Superintendent«, sagte er. »Wirklich entsetzlich. Wenn Sie recht haben, muss diese Person dafür zur Rechenschaft gezogen werden.«
Da war es schon wieder. Die Worte schienen der Situation angemessen, doch darunter verbarg sich ein herablassender Unterton. Wenn Sie recht haben, hatte Gaskill gesagt.
»Hat sie an irgendetwas gearbeitet, womit sie jemandem einen Grund hätte liefern können, ihr nach dem Leben zu trachten?«, fragte Cullen. Es kam durchaus vor, dass Polizeibeamte Racheakten zum Opfer fielen, und es war eine Möglichkeit, die sie in Betracht ziehen mussten.
»Eine Serie von Messerstechereien unter Jugendlichen in einer Sozialsiedlung«, antwortete Gaskill in wegwerfendem Ton. »Diese Typen wissen wahrscheinlich gar nicht, wo Henley liegt, geschweige denn, wie sie dort hinkommen sollten oder wie man ein Ruderboot zum Kentern bringt.«
Aber so leicht ließ Cullen sich nicht abspeisen. »Was ist mit ihrem Rudertraining? Soviel ich weiß, hatte sie regelmäßig früher Dienstschluss gemacht. Hat das ihre Leistungen in irgendeiner Weise beeinträchtigt?«
»Becca hat mir versichert, dass sie weiterhin alle ihre anstehenden Fälle bewältigen könne.«
Kincaid bemerkte Cullens flüchtigen Blick, und er wusste, dass es seinem Partner ebenfalls aufgefallen war. Gaskill hatte sich verplappert und die vertrauliche Form von Rebecca Meredith’ Vornamen benutzt.
»Und ihre Kollegen hier im Dezernat?«, fragte Kincaid. »Waren die auch damit einverstanden?«
»Da müssten Sie sie schon selbst fragen, Superintendent. Ich bin davon ausgegangen, dass sie sich mit ihnen abgesprochen hatte.«
»Hatte sie das?« Kincaid setzte sich ein wenig bequemer hin und strich seine Bügelfalte glatt, ehe er fortfuhr. »Wussten Sie, dass DCI Meredith mit dem Gedanken spielte, sich ganz dem Training für die Olympischen Spiele zu widmen?«
Er registrierte das kurze Zögern in Gaskills Miene. Es war nur ein leichtes Zucken, und er hatte es gleich wieder unter Kontrolle, doch es war unverkennbar gewesen. Der Mann hatte überlegt, ob er lügen oder die Wahrheit sagen sollte. Warum?
Gaskill legte eine Hand an den ohnehin schon akkurat ausgerichteten Papierstapel auf seinem Schreibtisch. »Sie hat mit mir darüber gesprochen, ja; aber ich glaube nicht, dass sie schon zu einer endgültigen Entscheidung gelangt war. Sie hätte natürlich unsere volle Unterstützung gehabt, so leid es uns getan hätte, sie zu verlieren.« Er schien zu merken, dass seine Wortwahl etwas unglücklich war, denn er fügte hinzu: »Vorübergehend, meine ich natürlich.«
Er räusperte sich, womit er deutlich signalisierte, dass die Unterredung beendet war. »Nun, wenn Sie nichts dagegen haben, Superintendent, ich bin zum Lunch verabredet. Was DCI Meredith’ Team betrifft – Sergeant Patterson ist wegen einer Vernehmung außer Haus, aber DC Bisik wartet draußen darauf, mit Ihnen zu sprechen.«
Kincaid beschloss, den Rausschmiss gelassen hinzunehmen. Ehe er Superintendent Gaskill weiter zusetzte, wollte er noch mehr in Erfahrung bringen. Er stand auf und hielt Gaskill die Hand hin, sodass dieser nicht umhinkam, sie erneut zu schütteln. »Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«
Gaskill stand auf. »Sie werden mich auf dem Laufenden halten?«
»Selbstverständlich.«
»Sie finden DC Bisik an dem Schreibtisch zu Ihrer Rechten«, sagte Gaskill und deutete mit dem Kopf in die Richtung, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder seinen Papieren zuwandte. Kincaid hätte gewettet, dass er die oberste Seite bereits auswendig kannte.
Als sie das CID-Büro betraten und die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, flüsterte Cullen: »So ein Arschloch.«
»Das können Sie laut sagen«, murmelte Kincaid, während er sich nach dem Constable umblickte. Doch ein junger Mann hatte sich bereits von einem Schreibtisch rechts von ihnen erhoben und kam auf sie zu.
»Hallo, ich bin Bryan.« Er gab ihnen die Hand. »DC Bisik. Ist sie – Wir haben gehört – Ist die Chefin wirklich tot?« Er war untersetzt, mit kurz geschorenen dunklen Haaren, die sein blasses Gesicht betonten, und seine offensichtliche Bestürzung stand in auffallendem Kontrast zum unterkühlten Gebaren seines Vorgesetzten.
»Ja. Es tut mir leid«, sagte Kincaid.
»O Mann. Ich kann es nicht glauben. Sie war doch erst –« Bisik schluckte und wies dann auf den Flur hinaus, wo sie relativ ungestört wären. »Was ist passiert?«, fragte er, als sie ihm nach draußen gefolgt waren. »Können Sie mir das sagen? Die Gerüchteküche kocht hier schon über.«
»Sie wurde als vermisst gemeldet, nachdem sie am Montagabend hinausgerudert und nicht zurückgekehrt war. Ihre Leiche wurde gestern aus dem Fluss geborgen. Wir ermitteln wegen Mordes.«
»Oh, verstehe. Okay.« Bisik schien nicht recht zu wissen, was er sagen sollte. »Ich kann einfach nicht glauben, dass jemand so etwas – Ich meine, es war nicht gerade leicht mit ihr als Chefin, aber man konnte immer auf ihre Offenheit zählen.« Der Blick, den er in Richtung des hinteren Büros warf, sagte deutlicher als alle Worte: Anders als bei manchen anderen.
»War hier in der Arbeit alles in Ordnung?«, fragte Kincaid.
Bisik zögerte. »Na ja, es gab schon ein bisschen böses Blut, wissen Sie, weil sie wegen ihres Trainings immer früher Schluss gemacht hat. Sie hat uns immer in den Ohren gelegen wegen unserer Dienstzeitkonten, und wir – Kelly und ich – wir fanden Beccas Verhalten in der Hinsicht wirklich unter aller –« Seine Augen weiteten sich. »O Gott, hab ich das wirklich gesagt? Ich hätte nie geglaubt … Ich wollte doch nicht –«
»Es ist schon in Ordnung«, sprang Kincaid ihm bei. »Das ist der Schock. Sie wissen genauso gut wie wir, dass Tote sich nicht plötzlich in Heilige verwandeln. Und ich kann es Ihnen nicht verdenken, dass Sie ein bisschen angefressen waren.« Als Bisik sich daraufhin sichtlich entspannte, fuhr Kincaid fort: »Was ist mit DCI Meredith’ Privatleben? Wissen Sie, ob sie irgendwelche Probleme hatte?«
»Ich? Ganz bestimmt nicht.« Bisik schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass sie seit ein oder zwei Jahren geschieden war, aber um dieses Thema anzuschneiden, war mir mein Leben doch zu lieb.«
»Also war sie nicht so der gesprächige Typ?«
»›Sphinx‹ wäre noch gelinde ausgedrückt.« Bisik schaute plötzlich entsetzt drein. »Sie – jetzt hab ich’s schon wieder getan, nicht wahr?«
Kincaid klopfte ihm auf die Schulter. »Machen Sie sich keine Sorgen. Das ist vollkommen normal.« Er griff in seine Jackentasche. »Hier ist meine Karte, falls Sie noch mal mit uns reden wollen oder falls Ihnen noch etwas einfällt, was uns weiterhelfen könnte. Und – mein herzliches Beileid.« Er wandte sich ab, drehte sich aber nach ein paar Schritten wie beiläufig noch einmal um. »Sagen Sie mal, hat DCI Meredith sich eigentlich gut mit ihrem Chef verstanden?« Er deutete mit dem Kopf zum hinteren Büro.
Bisiks Miene wurde verschlossen. »Das kann ich nicht beurteilen, Sir.« Für einen so kräftigen Mann schlüpfte er erstaunlich behände durch die Tür des CID-Büros.
Als sie auf die Shepherd’s Bush Road traten, bemerkte Kincaid eine Frau, die auf der anderen Straßenseite an einem Grundstückszaun lehnte. Sie rauchte in hektischen, kurzen Zügen, und die Art, wie sie die Zigarette in der hohlen Hand hielt, hatte etwas betont Maskulines. Als sie die beiden sah, ließ sie die Kippe fallen, trat sie mit einem hochhackigen Schuh aus und blickte nach links und nach rechts, ehe sie die Straße überquerte und auf sie zukam.
Sie war blond und schlank, allerdings nicht so durchtrainiert wie Becca Meredith. Der Rock ihres grauen Kostüms spannte an ihrem Bauch, und die Jacke hing ihr lose um die schmalen Schultern.
Als sie näher kam, sah Kincaid, dass ihre kurzen Haare an den Wurzeln dunkel waren und dass sie ein gutes Stück älter war, als sie auf die Entfernung gewirkt hatte.
»Sie sind vom Yard«, sagte sie, und er glaubte aus ihrem Akzent eine Spur von Essex herauszuhören. »Mein Name ist Patterson. Kelly Patterson, Beccas Sergeant.« Ihre hellblauen Augen waren rot gerändert, ihre Nase gerötet, als hätte sie geweint.
»Kincaid«, bestätigte er mit einem Nicken. »Und das ist Sergeant Cullen.«
»Bryan sagt, jetzt sei es offiziell, das mit Becca. Eine Mordermittlung.«
»Das hat sich aber schnell herumgesprochen.«
Sie schenkte ihm ein schiefes Lächeln. »Bry ist ein Ass im Simsen. Wir nennen ihn den magischen Daumen. Sie –« Patterson presste einen Moment die Lippen aufeinander und fuhr dann fort: »Es hat Becca zum Wahnsinn getrieben. Und sie hat gesagt, ich wäre sogar noch schlimmer. Sie hat gedroht, unsere Handys in den Müll zu schmeißen.«
»Aber sie hat es nicht getan.«
»Nein. Obwohl ich es ihr durchaus zugetraut hätte, wenn sie entsprechend geladen war. Also –« Patterson fixierte ihn mit ihren wasserblauen Augen und sah dann Cullen an, wie um sich zu vergewissern, dass er auch aufmerksam zuhörte. »Ich weiß, man soll nicht schlecht über Tote reden und so weiter, aber ich sag’s trotzdem. Becca konnte ein richtiges Miststück sein.
Aber sie war ein ehrliches Miststück, und wenn sie einen kritisiert oder einem eine Anweisung erteilt hat, dann hatte es normalerweise einen guten Grund. Und noch etwas«, sagte sie und warf einen Blick zum Eingang des Reviers und dann hinauf zu den Fenstern, ehe sie fortfuhr. »Falls jemand fragt: Ich habe nie mit Ihnen gesprochen. Ich habe zwei Kinder im Alter von sechs und vier Jahren zu Hause, und ich halte mich lieber aus allem raus. Aber das hatte Becca nicht verdient. Und wenn Seine Eminenz da oben Ihnen nichts von Angus Craig erzählt hat, dann hat er verdammt noch mal gelogen.«
Als Kincaid versucht hatte, mehr aus Kelly Patterson herauszubekommen, hatte sie nur den Kopf geschüttelt und wie ihr Partner ganz schnell eine geschlossene Tür zwischen sich und die beiden gebracht.
»Angus Craig«, sagte Doug, als sie am Wagen ankamen. »Doch nicht etwa Deputy Assistant Commissioner Angus Craig?«
Kincaid startete den Motor, ließ ihn aber noch eine Weile im Leerlauf, während er nachdachte. »Ist vor kurzem in Pension gegangen, wenn ich mich recht erinnere.«
»Kennen Sie ihn?«
»Eigentlich nicht persönlich, obwohl ich ihm schon begegnet bin. Er hat bei einigen Schulungen, an denen ich teilgenommen habe, Vorträge gehalten, und bei der einen oder anderen Abschiedsfeier habe ich ein paar Worte mit ihm gewechselt. Er ist einer von diesen plumpvertraulichen Typen. Ein bisschen zu jovial. Und ein ziemlicher Wichtigtuer.« Kincaid blickte konzentriert in den Rückspiegel und reihte sich in den Verkehr ein. »Aber ich habe keinen blassen Schimmer, was er mit Rebecca Meredith zu tun haben könnte.«
Cullen hatte bereits sein Handy gezückt und tippte wild darauf ein. Nachdem Kincaid in die Holland Park Road eingebogen war, erstarrten Cullens Finger über den Tasten.
»Verdammt.« Er sah Kincaid an, und seine Augen waren geweitet. »Angus Craig wohnt in Hambleden.«