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Jedes Jahr bildete sich bei der jeweiligen Crew für das Boat Race und vielleicht sogar beim gesamten Team, aus dem sie rekrutiert wurde, ein ganz eigener, unverwechselbarer Stil und Charakter heraus. In manchen Jahren betraf dies die ganze Mannschaft, in anderen dominierten wiederum ein, zwei starke Persönlichkeiten …

Daniel Topolski, Boat Race: The Oxford Revival

Das Gesicht der Frau, die auf der Bahre im Leichenschauhaus unter dem sorgfältig drapierten Laken lag, hatte keine Ähnlichkeit mit Becca.

Gewiss, es waren ihre Züge – die gerade Nase, an der Wurzel leicht gesprenkelt mit Sommersprossen vom vielen Rudern in praller Sonne; die dunklen, ebenmäßigen Augenbrauen; das winzige schwarze Muttermal nahe dem rechten Ohr; das etwas kantige Kinn.

Doch Freddie hatte Beccas Gesicht nie in Ruhe oder entspannt gesehen. Sie war immer in Bewegung – selbst im Schlaf war ihre Stirn gerunzelt, als ob sie mit einem kniffligen Problem beschäftigt wäre oder eine Trainingseinheit wiederholte, und ihre Lippen und Augenlider zuckten lebhaft, wenn sie träumte.

Irgendjemand hatte sich die Mühe gemacht, ihr Haar zu kämmen, und es fiel in sanften Wellen herab, die sie im Leben nie geduldet hätte. Freddie ballte die Hand zur Faust, kämpfte gegen den Impuls an, es glattzustreichen oder die dunklen Fächer ihrer Wimpern zu berühren, die im harten Licht der Deckenstrahler Schatten auf ihre Wangen warfen.

Er nickte dem Aufseher des Leichenschauhauses zu. »Das ist sie. Das ist Becca.«

»Sie meinen Rebecca Meredith, Sir?«, sagte der junge Mann. Freddie fühlte sich plötzlich enorm abgelenkt von dem Ring in der Nase seines Gegenübers.

Er sah weg. »Ja. Ja, das ist sie.«

»Mein herzliches Beileid, Sir.« Es klang nach reiner Routine. »Wenn Sie dann bitte hier unterschreiben würden?« Der junge Mann drückte Freddie ein Klemmbrett in die Hand, so beiläufig wie ein Postbote, der sich die Zustellung eines Pakets quittieren lässt.

Und das war alles.

Als Freddie auf den Parkplatz des Leichenschauhauses hinaustrat, kam ihm die frische Luft vergleichsweise warm vor. Ross Abbott erwartete ihn schon. Er hatte den Motor seines nagelneuen weißen BMW laufen lassen, wie um der ganzen Welt zu demonstrieren, dass er sich keine Gedanken um die Benzinpreise machen musste. Becca hätte sich wahnsinnig darüber aufgeregt, aber Freddie war das protzige Gehabe seines Freundes im Moment ziemlich egal. Dankbar ließ er sich in den weichen Ledersitz sinken.

»Alles in Ordnung, Mann?«, fragte Ross.

Freddie brachte ein Nicken zustande. Ross Abbott hatte ihn gleich nach dem Mittagessen in seiner Wohnung im Malthouse abgeholt und war mit ihm zum Leichenschauhaus in Reading gefahren. Freddie hatte ihn gebeten, draußen zu warten – er wollte keine Zeugen, falls er zusammenbrechen sollte –, doch letzten Endes hatte er sich merkwürdig unbeteiligt gefühlt, als ob es ein anderer wäre, dem all dies widerfuhr.

»Wo willst du jetzt hin?«, fragte Ross und holte ihn damit jäh in die Gegenwart zurück.

»Etwas trinken gehen.«

»In Henley? Im Magoos?«

»Nein, fürs Magoos ist es noch zu früh. Die machen erst um vier auf.« Außerdem fand Freddie den Gedanken an die ausgelassene Atmosphäre in der Bar in der Hart Street unerträglich. Er kannte zu viele der Leute, die dort regelmäßig nach der Arbeit hereinschneiten, und das Letzte, was er in diesem Moment gebrauchen konnte, waren neugierige Fragen oder Beileidsbekundungen.

»Hotel du Vin?«, schlug Ross vor. »Da hast du’s dann nicht allzu weit bis nach Hause«, fügte er hinzu – sein Versuch, die Situation durch Humor aufzulockern.

»Ja, okay.« Das Hotel du Vin war direkt gegenüber von Freddies Wohnung und gehörte wie das Malthouse zum Komplex der alten Brakspear-Brauerei. Die Hotelbar war recht ruhig, und wenngleich am späteren Abend auch des Öfteren der eine oder andere Einheimische vorbeischaute, würde man um diese Zeit am Nachmittag allenfalls ein paar Geschäftsreisende antreffen.

Während der Fahrt zurück nach Henley schilderte Ross ihm detailliert die vielen Extras seines Wagens. Das war vielleicht ein wenig unsensibel, aber wenigstens musste Freddie nicht reden, und dafür war er dankbar.

In der Hotelbar war es so ruhig, wie Freddie gehofft hatte. Ein paar Männer in Poloshirts und Sportsakkos saßen auf den Ledersofas und konferierten über irgendwelchen Papieren, doch sie blickten nicht auf, als sie eintraten. Das Mädchen hinter dem Tresen war neu, was Freddie mit Erleichterung registrierte. Sie nahm ihre Bestellungen mit eher beiläufigem Interesse auf.

»Einen Hendrick’s«, sagte Ross und schenkte ihr das Lächeln, das Freddie noch von Oxford her kannte – da hatte Ross es bei jedem Mädchen ausprobiert. »Doppelt. On the rocks, mit einer Gurkenscheibe.«

Einen Moment lang war Freddie versucht, Ross daran zu erinnern, dass er noch fahren musste, doch dann fiel ihm wieder ein, dass es Zeiten gegeben hatte, als er selbst sich bedenkenlos nach einem doppelten Gin ans Steuer gesetzt hätte. Und es ging ihn auch nichts an. Er zuckte mit den Achseln. »Für mich auch.«

Ross gab der Bedienung seine Kreditkarte, doch kurz darauf kam sie zurück und sagte mit gedämpfter Stimme: »Es tut mir leid, Sir, aber Ihre Karte wurde nicht akzeptiert.«

»Verdammte Bank.« Ross brauste sofort auf und lief rot an – so kannte Freddie ihn noch von früher. »Diese Volltrottel sind doch zu blöd, um aus dem Bus zu gucken!«

»Lass mich doch zahlen«, sagte Freddie, dem es für seinen Freund peinlich war. Er griff nach seiner Brieftasche. »Das ist doch das Mindeste, was ich –«

»Nein, nein.« Ross hatte bereits eine andere Karte gezückt. »Kein Problem. Es ist nur diese eine Karte. Bei denen stürzen offenbar alle naselang die Computer ab oder was weiß ich.«

Die zweite Karte schien in Ordnung zu sein, denn die Bedienung kam mit ihren Drinks zurück und servierte sie mit einem flüchtigen Lächeln.

Ross hob sein Glas. »Also, cheers ist wohl nicht ganz so passend, was, alter Knabe?«

»Dann eben salute«, erwiderte Freddie und tat es ihm gleich. Der erste Schluck Gin floss durch seine Kehle wie Feuer, und mit dem Geruch der Gurke kamen die Erinnerungen an Sommer-Regatten, an zu viele Gins und Cocktails, getrunken in irgendwelchen Partyzelten. Er sah Becca, ihr Gesicht gerötet und strahlend nach dem Sieg in einer Regatta, und Ross, wie er eine Flasche Champagner schüttelte, damit es ordentlich schäumte. Sein Kopf drehte sich. War es Henley, woran er sich erinnerte, oder Oxford?

Er sah Ross an. »Das waren noch Zeiten damals, was?«

»Da sagst du was.« Ross trank seinen Gin in einem Zug halb aus und schnitt eine Grimasse. »Aber dass man während des Trainings keinen Alkohol trinken durfte, das hat echt genervt.«

»Dir war es schon immer lieber, wenn du auch ohne Anstrengung ans Ziel kamst, stimmt’s?«, sagte Freddie. Er entsann sich, dass Ross sich immer mit irgendwelchen Entschuldigungen ums Training gedrückt hatte, und als sie ihn dann in die Isis gesetzt hatten, wie das Ersatzboot genannt wurde, hatte er vor Wut gekocht. Doch das Glück war ihm hold gewesen, denn just am Tag des Rennens hatte eine heftige Magen-Darm-Grippe sein Pendant im Blue Boat aufs Lager gestreckt, und Ross hatte seinen Platz eingenommen.

Dann aber hatte Fortuna sich launisch gezeigt. Am Tag der Regatta schien sich alles gegen sie verschworen zu haben. Das Wetter war scheußlich, und die Crew hatte ihren Rhythmus verloren. Das Boot kam einfach nicht von der Stelle, und je mehr sie sich mühten, desto schlimmer wurde es. Sie wären fast gesunken und wurden um Längen geschlagen. Nach der demütigenden Niederlage waren sie im Ziel unter höllischen Schmerzen zusammengebrochen, und hinterher hatte niemand laut gesagt, was alle dachten: Ross Abbott hatte seine Leistung nicht gebracht.

Aber Ross hatte sich von dem katastrophalen Rennen seine Karriereaussichten nicht verderben lassen, und er hatte aus seinem »Blue« weidlich Vorteil geschlagen. Zwar vergaben die Universitäten diese begehrte Auszeichnung auch in anderen Sportarten, doch ein Blue im Rudern war immer noch am prestigeträchtigsten. Und wenn man erst einmal einen Platz im Blue Boat ergattert hatte, spielte es keine Rolle, ob man gewann oder verlor, solange man nicht vor der Biegung bei Fulham absoff.

Freddie nahm noch einen Schluck von seinem Gin und musterte seinen Freund. Ross war nicht so groß wie die meisten anderen Ruderer; ein Defizit, das er durch den Aufbau von Muskelmasse wettzumachen versucht hatte. Er war ein guter Gewichtheber gewesen, und das hatte seine Kraft, wenn auch nicht seine Gewandtheit gesteigert.

Jetzt waren seine Schultern unter dem leichten Sportsakko immer noch breit, doch er wirkte fülliger und hatte einen kleinen Bauch. Ein paar Gin zu viel, dachte Freddie und hob sein Glas. »Trainierst du noch?«, fragte er.

Ross grinste selbstzufrieden. »Hab einen neuen Kraftraum zu Hause. Das Haus ist übrigens auch neu – in Barnes.«

»Barnes? Nicht schlecht, Mann. Scheint ja gut zu laufen bei dir.«

»Es geht aufwärts, ja«, erwiderte Ross, indem er sich vorbeugte und Freddie verschwörerisch zuzwinkerte. »Ich hab da einen Deal in der Mache –« Er schüttelte den Kopf und grinste. »Der haut dich glatt von den Socken.«

Viele »Blues« wurden nach dem Studium Investmentbanker, ganz gleich, worin sie ihren Abschluss gemacht hatten; so auch Ross – und er war damit offenbar erfolgreicher gewesen als Freddie mit seinen Gewerbeimmobilien.

Freddie ließ den Blick über die anderen Gäste schweifen. Wie Ross trugen sie teure Klamotten und tranken exquisite Drinks, während sie halblaut ihre wichtigen Gespräche führten. Fette Bonzen. Alles fette Bonzen. War er auch Gefahr gelaufen, einer zu werden? War das der wahre Grund, weshalb Becca ihn verlassen hatte?

Freddie merkte, dass seine Gedanken abschweiften. Der Gin stieg ihm zu Kopf, aber er zwang sich zur Konzentration. Schließlich hatte Ross heute keine Mühen gescheut, um ihm beizustehen. »Hör zu, Ross, ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du das alles für mich tust. Du bist ein echter Freund.«

»Unsinn.« Ross klopfte ihm verlegen auf die Schulter. »Das ist doch das Mindeste – hätte jeder andere auch getan. Sag nur Bescheid, wenn du noch irgendwas brauchst. Und das gilt auch für Chris – sie wäre heute mitgekommen, aber wegen der Arbeit und den Kindern –«

»Geht es Chris gut? Und den Jungs?«

Ross senkte wieder die Stimme. »Bei Chris steht vielleicht eine Beförderung an. Alles noch streng geheim, aber es ist ihr offenbar gelungen, die richtigen Leute zu beeindrucken.«

Für einen Moment glaubte Freddie Beccas leicht gehässige Stimme zu hören: Und das qualifiziert sie als gute Polizistin? Er schüttelte den Kopf und fragte sich, ob er jetzt vollkommen übergeschnappt war, während er sich auf Ross’ Worte zu konzentrieren versuchte.

»– und die Jungs, na ja, offiziell ist es noch nicht, aber die Chancen stehen recht gut für –« Er blickte sich um, und diesmal flüsterte er so, als handelte es sich um ein Staatsgeheimnis – »Eton.«

»Eton?«, echote Freddie, und die plötzliche Verbitterung, die er empfand, überraschte ihn selbst. »Wow. Dann treten sie also nicht in die Fußstapfen des Herrn Papa. Bedford ist wohl nicht gut genug für die jungen Abbott-Sprösslinge?«

»Darum geht’s nicht, Mann, das weißt du genau.« Ross klang gekränkt. »Es geht darum, dass du das Beste für die Kinder rausholen musst. Damit später mal was aus ihnen wird.«

»Schon klar.« Freddie rang sich ein Lächeln ab. Kinder. Er hatte Kinder gewollt, Becca nicht. Und jetzt war das Thema für alle Zeiten erledigt.

Eine Woge der Erschöpfung überkam ihn; plötzlich wollte er nur noch nach Hause und allein sein.

Ross leerte die letzten Tropfen aus seinem Glas, und ehe Freddie protestieren konnte, gab er der Bedienung ein Zeichen und bestellte noch einmal das Gleiche für sie beide. Dann wandte er sich zu Freddie um. »Wegen heute – es tut mir wirklich so leid, Mann. War es schlimm, vorhin im Leichenschauhaus? War sie – war sie verstümmelt oder so?«

»Nein, sie war unversehrt«, antwortete Freddie, dem die plötzliche Aufwallung von feindseligen Gefühlen gegenüber seinem alten Freund schon wieder leidtat. »Man konnte eigentlich gar nichts sehen. Sie sah einfach nur –« Seine Kehle schnürte sich zusammen, und er konnte das Wort nicht über die Lippen bringen. Tot – sie hatte tot ausgesehen.

»Hat die Polizei mit dir gesprochen? Haben sie schon eine Ahnung, was passiert ist?«

»Gesprochen haben sie mit mir, das schon. Aber niemand hat mir irgendetwas gesagt. Sie haben einen Superintendent vom Dezernat Schwerverbrechen hinzugezogen. Scotland Yard.«

Ross stieß einen leisen Pfiff aus. »Junge, Junge. Die fahren ja schweres Geschütz auf. Und haben sie dich auch gefragt, wo du warst?«

Der Alkohol vom Abend zuvor hatte Kierans Gleichgewichtsstörungen verstärkt, wie er es bereits geahnt hatte. Nach der Suche war es ihm gelungen, den anderen Teammitgliedern aus dem Weg zu gehen. Doch kaum war er allein, begann das Bild von Beccas Leiche ihn zu verfolgen, dort im Gestrüpp unterhalb des Wehrs, das Bild ihrer Haare, die sich in der Strömung wiegten wie Farnwedel.

Und so war er ins Pub gegangen, wo Tavie ihn gefunden hatte. Danach war er nach Hause gewankt und hatte sich auf das Feldbett im Bootsschuppen fallen lassen. Eine Zeitlang hatte er in einem Dämmerzustand dagelegen, berauscht vom Cider, und immer und immer wieder Beccas weißes Gesicht gesehen, das mit offenen, beschwörenden Augen zu ihm aufstarrte.

Aber dann schlug der Alptraum um, und er merkte plötzlich, dass Teile ihres Körpers fehlten, abgerissen von der Wucht einer Explosion, und Beccas Gesicht verwandelte sich in die Gesichter der Männer aus seiner Einheit, deren Schreie ihm in den Ohren gellten.

Dann war es Tavie – Tavie, die ihn anbrüllte, die ihm Befehle erteilte, die er nicht verstehen und nicht befolgen konnte.

Schweißgebadet erwachte er, nur um festzustellen, dass die Wirklichkeit genauso furchtbar war wie sein Alptraum. Becca. Becca war tot. Und Tavie, seine beste Freundin – seine einzige wirkliche Freundin – war für ihn verloren.

Beim ersten Schein der Morgendämmerung gab er den Gedanken an Schlaf auf und kochte sich Kaffee, so stark, wie er ihn nur ertragen konnte. Dann ging er hinaus, mit der Tasse in der Hand und Finn an seiner Seite, und sah zu, wie es über dem Fluss allmählich hell wurde. Graues Wasser verschmolz mit grauem Himmel, dann tauchten die ersten Umrisse der Baumkronen am anderen Ufer auf, und später, als der Nebel sich endlich verzog, die immer noch grünen Zweige der Weiden, die am Ufer ins Wasser hingen.

Am Ufer … Kieran zog konzentriert die Stirn in Falten, und dann flackerte es wieder auf – das Bild, das ihm keine Ruhe gelassen hatte, seit sie das Filippi gefunden hatten.

Er hatte am Ufer jemanden gesehen. Nicht dort, wo sie das Boot geborgen hatten, sondern ein gutes Stück flussaufwärts, auf der anderen Seite von Temple Island. Ein Angler, so hatte er vermutet, der dort im Schatten gestanden hatte, als Kieran am Sonntagabend seine Runde gelaufen war.

Und am Montag war er wieder dort gewesen.

Kieran hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, seine Joggingrunde so zu legen, dass er Becca bei ihrem abendlichen Rudertraining antraf. Doch am Montag hatte sie sich wohl verspätet, und er musste schon wieder oberhalb der Henley Bridge angelangt sein, als sie aufgebrochen war.

O Gott – wenn er nur ein paar Minuten später losgelaufen wäre oder unterwegs ein bisschen getrödelt hätte, hätte er sie dann retten können? Und der Angler – was, wenn dieser Angler ihr aufgelauert hatte? Sie wäre direkt an ihm vorbeigekommen, nachdem sie Temple Island umrundet hatte und zum Leander zurückgerudert war, und sie würde sich dicht am Buckinghamshire-Ufer gehalten haben, wo der Wind und die Strömung das Flussaufwärtsrudern erleichterten.

War sie tatsächlich dort gekentert – oder zum Kentern gebracht oder aus dem Boot gezogen worden –, dann war das Ende von Benham’s Wood, wo sie das Filippi gefunden hatten, die erste Stelle, wo das flussabwärts treibende Boot sich am Ufer verhakt haben könnte. Und Becca – Becca wäre von der Strömung mitgerissen worden, bis ihre Leiche in dem Strudel unterhalb des Wehrs hängen geblieben war.

Kieran stand auf, entschlossen, die Stelle näher zu untersuchen, wo er den Mann gesehen hatte, sobald es richtig hell war. Aber da drehte sich plötzlich alles um ihn und kippte zur Seite, und als er wieder zu sich kam, lag er im weichen Gras am Flussufer.

Stöhnend murmelte er: »Diese gottverdammten Schwindelanfälle.« Was war denn das für ein Leben, wo es einen jederzeit ohne Vorwarnung umhauen konnte wie einen Baum, den man fällt?

Lange Zeit lag er da und sah den wirbelnden, schwankenden Himmel heller werden. Endlich glitt er in einen leichten Schlaf hinüber. Finn weckte ihn; winselnd stupste er ihn mit der Schnauze an.

»Tut mir leid, Junge«, krächzte Kieran mit trockener Kehle. »Bin echt zu nichts zu gebrauchen, was?«

Prüfend bewegte er seinen Kopf ein paar Millimeter. So weit, so gut. Der kurze Schlaf hatte wie gewöhnlich das Schwindelgefühl gelindert. Nach einer Weile war er in der Lage, aufzustehen und in den Schuppen zu wanken, und er schaffte es noch, Finn etwas Futter in seinen Napf zu schütten, ehe er sich auf dem Feldbett ausstreckte. Er schlief wieder ein, fester diesmal, und als er am späten Nachmittag erwachte, fühlte er sich sicher genug auf den Beinen, um sich nach Henley hineinwagen zu können.

Von der Buckinghamshire-Seite war es nicht ganz einfach, auf den Uferpfad zu gelangen. Er hätte mit dem Land Rover bis zu der Stelle fahren können, wo der Fußweg von der Marlow Road abzweigte, aber bei der Häufigkeit und Heftigkeit seiner Schwindelanfälle wagte er es nicht, sich ans Steuer zu setzen. Nachdem er die wenigen Meter bis zum Festland gerudert war, machte er sich daher zu Fuß auf den Weg, wobei er sich gelegentlich auf Finns starkem Rücken abstützte. Die ganze Zeit hoffte und fürchtete er zugleich, Tavie zu begegnen.

Einige der Leute, die ihm entgegenkamen, musterten ihn mit den angewiderten Blicken, die normalerweise Betrunkenen vorbehalten waren, doch es war ihm egal. Er wollte nur wissen, ob er sich richtig erinnerte oder ob der Mann zwischen den Bäumen ein Hirngespinst gewesen war.

Die Sonne, teilweise verdeckt von den Wolken, die von Westen aufzogen, stand schon tief, als er die Abzweigung zum Phyllis Court passierte und auf den Fußweg abbog. Finn beobachtete aufmerksam die Wiese beim Trainingsgelände des FC Henley – von früheren Spaziergängen wusste er, dass es dort Kaninchen gab –, doch er blieb dicht bei Fuß.

Der Weg schien kein Ende zu nehmen, und Kieran war erleichtert, als er endlich am Ende des letzten Felds anlangte. Aber weiter waren er und Finn noch nie gekommen, und als ihm bewusst wurde, was vor ihm lag, verließ ihn fast der Mut. Hier schlängelte sich ein Nebenarm der Themse in die Ausläufer eines sumpfigen Wäldchens hinein, und nur ein schmaler Holzsteg führte über das Wasser. Weit und breit konnte Kieran keinen anderen Weg entdecken, also hielt er sich am Geländer fest, während er hinüberging, und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Genauso verfuhr er beim nächsten, noch schmaleren Steg.

Je weiter er vordrang, zwischen herabhängenden Zweigen hindurch, die sich in seinen Haaren verfingen, desto schwerer war der Weg zu erkennen; er wand sich tiefer und tiefer in den Wald, bis er sich ganz zu verlieren drohte.

Und dann folgte Kieran noch einer letzten Biegung, und er war dort. Er erkannte die Stelle sofort wieder.

Eine kleine, kreisförmige Lichtung lag zwischen dem Pfad und dem Fluss, gesäumt von Bäumen und dichtem Gestrüpp. An einem Baum hing ein Schild mit der Aufschrift Angeln nur mit Angelschein. Das Gras auf der Lichtung sah weich und sumpfig aus und war selbst jetzt, Ende Oktober, noch saftig grün. Am Rand war eine matschige Stelle zu sehen, und dort glaubte Kieran einen deutlichen Fußabdruck zu erkennen.

Aus Furcht, Spuren zu vernichten, wagte er es nicht, näher heranzugehen, doch er hatte den Eindruck, dass die Ufervegetation zertrampelt aussah. Als er durch eine Lücke zwischen den Bäumen nach Norden blickte, konnte er gerade eben den weißen Schimmer des Pavillons an der Spitze von Temple Island ausmachen. War dies also der Ort, wo Becca gestorben war?

Das Blut schoss ihm in den Kopf. Er kauerte sich nieder, den Arm um Finns Schultern gelegt, und kämpfte gegen den Schwindel an, zwang sich zum Atmen. Und dann spürte er plötzlich dieses Kribbeln im Nacken.

Er kannte das Gefühl. Er hatte es im Irak gehabt, wenn seine Einheit von feindlichen Truppen beobachtet wurde. Auch jetzt beobachtete ihn jemand. Finn stellte die Ohren auf, doch er knurrte nicht, und Kieran konnte nicht sagen, ob der Hund etwas registriert hatte oder nur die Signale seines Herrn deutete.

Dann winselte Finn und stieß ihn an, sodass Kieran das Gleichgewicht verlor. »Okay, okay«, flüsterte er, als er sich wieder gefangen hatte. Vorsichtig stand er auf und blickte sich um, suchte den Pfad in beiden Richtungen ab und dann den dichten Wald hinter ihnen.

Nichts.

Er spürte einen Tropfen auf seiner Wange, dann noch einen. Der Regen, der sich schon den ganzen Tag angekündigt hatte, zog heran, und das Licht schwand rapide. Wenn er sich jetzt nicht auf den Rückweg machte, würde er bei miserablen Sichtverhältnissen über Stege und Wiesen stolpern müssen, und er hatte keine Taschenlampe mitgenommen.

Noch einmal sah er sich auf der Lichtung um. Er war sich jetzt sicher, dass er sich den Mann, den er dort gesehen hatte, nicht eingebildet hatte. Aber er war nur ein kaputter, verrückter Irakveteran, der gestern seinen ohnehin nur schwachen Anspruch auf Glaubwürdigkeit restlos verwirkt hatte. Wer würde ihm seine Geschichte abnehmen?

Als sie im Yard angekommen waren, hatte Kincaid erfahren, dass sein Vorgesetzter beim Mittagessen war und anschließend an einer Planungskonferenz in Lambeth teilnehmen würde.

Kincaid war kurz versucht gewesen, nach Shepherd’s Bush zurückzufahren und noch einmal mit Gaskill zu sprechen, doch er wollte das Vertrauen von Rebecca Meredith’ Mitarbeiterin nicht missbrauchen. Und so zog er sich, nachdem er und Cullen sich in der Kantine noch rasch ein Sandwich einverleibt hatten, in sein Büro zurück und stellte seine eigenen Recherchen zu Angus Craig an. Was er herausfand, gefiel ihm gar nicht.

Alle Beamten im gehobenen Dienst der Met wechselten mehr oder weniger regelmäßig zwischen den Abteilungen und übernahmen dabei unterschiedliche Aufgabenbereiche. Aber Craig schien ungewöhnlich häufig versetzt worden zu sein, und ab einem gewissen Punkt war er zwar immer noch weiter befördert worden, jedoch, wie es aussah, auf Posten mit immer weniger Verantwortung.

Stirnrunzelnd lehnte Kincaid sich vom Computer zurück und rief Superintendent Mark Lamb an. Lamb war Gemmas Vorgesetzter in Notting Hill, aber er war auch ein alter Freund, und Kincaid konnte sich darauf verlassen, dass Lamb ihm ehrlich seine Meinung sagen würde.

»Craig?«, meinte Lamb, nachdem Kincaid ohne Umschweife zur Sache gekommen war. »Nun ja, unter uns gesagt, der Mann ist nicht ganz sauber. Ich habe in verschiedenen Komitees mit ihm zusammengearbeitet. Das ist einer, dem man besser nicht in die Quere kommt. Er macht gerne seinen Einfluss geltend und nicht immer zum Besten seiner Kollegen.«

»Gab es Probleme speziell mit weiblichen Untergebenen?«

»Es gab Gerüchte«, antwortete Lamb widerstrebend. »Ich will ja nicht aus dem Nähkästchen plaudern, und mir ist auch nie etwas Konkretes zu Ohren gekommen. Aber ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Kolleginnen ihm nach Möglichkeit immer aus dem Weg gegangen sind.«

»Ich nehme an, du sprichst nicht von den üblichen altmodischen Vorurteilen gegen Frauen im Dienst?«

»Ich glaube, es war mehr als das. Warte mal.« Lamb wechselte halblaut ein paar Worte mit jemandem im Hintergrund. »Hör zu, ich muss jetzt los. Aber richte Gemma aus, dass wir uns schon darauf freuen, sie nächste Woche wieder bei uns zu haben.«

»Mach ich«, sagte Kincaid und legte auf.

Es klopfte an seiner Bürotür, und Cullen trat ein. »Ich habe mit Henley telefoniert«, sagte er, während er auf dem Besucherstuhl Platz nahm. »Und ich habe Freddie Atterton einen Opferschutzbeamten zur Seite gestellt, allerdings hatte Atterton die offizielle Identifizierung schon vorgenommen, ehe ich dafür sorgen konnte, dass der Kollege ihn begleitet.

Außerdem habe ich mit der Pressestelle gesprochen und das Übliche gesagt – tiefstes Mitgefühl, eine unserer besten Beamtinnen, setzen alles daran, eine Erklärung für den tragischen Tod von DCI Meredith zu finden, und so weiter und so fort. Aber sie wollen, dass Sie morgen früh in vollem Ornat in Henley erscheinen, für einen Fünf-Minuten-Auftritt vor den Kameras.«

Kincaid nickte. Er gab nicht gerne Interviews, aber es war ein notwendiger und bisweilen nützlicher Teil einer Ermittlung. Nur gut, dass er heute Abend nach Hause konnte, um seine Garderobe zu wechseln. »Irgendetwas Neues von der Spurensicherung?«

Cullen schüttelte den Kopf und sagte: »Noch nicht. Was hat es denn nun mit diesem Angus Craig auf sich, Chef?«

»Ich fürchte, dass wir der Sache nicht weiter nachgehen können, bevor ich mit dem Chief geredet habe.« Er sah auf seine Uhr. Es war fast fünf. Langsam verlor er die Geduld, aber er würde nicht nach Hause gehen, ohne den Chief Superintendent gesprochen zu haben. »Ich bleibe noch ein bisschen, Doug, aber machen Sie ruhig Feierabend. Ich nehme an, Sie sind schwer mit Packen beschäftigt. Wann ziehen Sie denn nun um?«

Cullen grinste. »Dieses Wochenende. Nur gut, dass ich nicht allzu viel Zeug habe.«

»Dann nutzen Sie es am besten aus, dass im Moment nicht so viel los ist. Morgen brechen wir dann in aller Frühe nach Henley auf.«

Nachdem Cullen gegangen war, sortierte Kincaid Papiere und behielt dabei immer die Uhr im Auge. Er war schon im Begriff, hinüberzugehen und an Childs’ Tür zu klopfen, als dessen Sekretärin anrief und ihn herbestellte.

Kincaid betrat das Büro des Chief Superintendent und hielt sich nicht lange mit Förmlichkeiten auf. Als Childs ihn einlud, auf seinem gewohnten Stuhl Platz zu nehmen, schüttelte er den Kopf.

»Ich werde Ihre Zeit nicht lange in Anspruch nehmen, Sir.«

Childs’ ohnehin schon durchdringender Blick wurde noch bohrender. »Was ist los, Duncan? Gibt es neue Entwicklungen?«

Kincaid arbeitete seit sechs Jahren unter Denis Childs, und fast so lange redeten sie sich bereits mit Vornamen an. Er betrachtete Childs nicht nur als persönlichen Freund, sie waren auch durch das Haus in Notting Hill miteinander verbunden, das Kincaid und Gemma von Denis’ Schwester gemietet hatten. Im Augenblick jedoch war ihm nicht nach Vertraulichkeit zumute.

»Sir, ist Ihnen bekannt, ob es eine irgendwie geartete Verbindung zwischen Deputy Assistant Commissioner Angus Craig und Rebecca Meredith gab?«

Childs sah ihn verblüfft an. »Hat Peter Gaskill Ihnen das gesagt?«

Childs war ein beleibter Mann, doch im vergangenen Jahr hatte er sich bemüht, abzunehmen, und nun schien seine Haut an seinem Körper herabzuhängen, als sei sie ihm eine Nummer zu groß. Die fleischigen Falten, die sich dadurch um Childs’ dunkle, mandelförmige Augen gebildet hatten, machten es nicht eben leichter, seine Miene zu deuten, doch aus seiner Reaktion schloss Kincaid, dass er etwas gewusst hatte.

Er umging eine Antwort, mit der er Sergeant Patterson in die Sache hineingezogen hätte, und sagte stattdessen: »Was ich gerne wüsste, ist, warum Sie es mir nicht gesagt haben. Wenn es eine Beziehung zwischen Rebecca Meredith und Deputy Assistant Commissioner Craig gab, scheint mir die Tatsache, dass Craig nur eine Meile vom Fundort von Meredith’ Leiche entfernt wohnt, durchaus relevant. Das ist doch ein bemerkenswerter Zufall, finden Sie nicht?«

»Der Sarkasmus steht Ihnen gar nicht, Duncan. Und Sie schießen doch nur ins Blaue, hab ich recht?« Childs musterte ihn forschend. »Sie wissen in Wirklichkeit gar nichts.« Dann seufzte er und faltete die massigen Hände auf seinem großen, glänzenden und tadellos aufgeräumten Schreibtisch. »Aber ich kenne Sie gut genug, um zu wissen, dass Sie jetzt nicht mehr von dieser Sache ablassen werden.«

»Von welcher Sache genau?«

»Einer Sache, von der ich gehofft hatte, dass sie nicht zum Problem werden würde. Eine Angelegenheit, die mit sehr viel Feingefühl behandelt werden muss. Ich würde nicht sagen, dass DCI Meredith eine Beziehung mit Craig hatte. Aber sie hatte gewisse … Anschuldigungen erhoben, was Craigs Verhalten ihr gegenüber betrifft. Ich bin sicher, dass sie nichts mit ihrem Tod zu tun haben, aber sollten sie an die Öffentlichkeit dringen, könnte es für die Met sehr unerfreulich werden.«

»Unerfreulich?« Kincaid dachte an den Anblick von Rebecca Meredith’ Leiche. »Ich kann mir kaum etwas Unerfreulicheres vorstellen als den mutmaßlichen Mord an einer unserer leitenden Beamtinnen. Ich finde, Sie sollten mir lieber ganz genau sagen, was hier läuft, Denis. Was sind das für Anschuldigungen, von denen Sie sprechen?«

Childs schob seinen Sessel zurück und sagte: »Mensch, Duncan, nun setzen Sie sich doch hin. Ich kriege ja Kopfweh, wenn ich immer so zu Ihnen aufschauen muss.«

Widerstrebend zog Kincaid den Besucherstuhl aus Stahl und Leder heran und setzte sich auf die Kante.

Childs verzog die Lippen, als hätte er einen unangenehmen Geschmack im Mund. »Vor einem Jahr erzählte DCI Meredith Peter Gaskill, dass Angus Craig ihr nach irgendeiner Veranstaltung – ich glaube, es handelte sich um eine Abschiedsfeier – angeboten habe, sie nach Hause zu fahren. Er sagte, ihr Cottage liege auf seinem Weg, und als sie dort ankamen, bat er sie, kurz hereinkommen zu dürfen. Und dort … verging er sich dann an ihr.«

Kincaid hatte noch nie erlebt, dass sein Chef ins Stocken gekommen war, weil er nicht die richtigen Worte fand. »Verging sich – das ist Pressejargon. Was genau hat Rebecca Meredith gesagt?«

»Sie sagte« – Childs schwenkte seinen Stuhl ein Stück herum, sodass er zum Fenster blickte und Kincaid nicht direkt ansehen musste – »sie sagte, er habe sie vergewaltigt. Und dann – so behauptete sie jedenfalls – sagte er ihr, falls sie ihn anzeigen sollte, würde sie ihren Job verlieren. Sie ließ eine DNS-Probe nehmen und ging dann zu Gaskill.«

»Und was«, fragte Kincaid, »hat Superintendent Gaskill unternommen?«

Childs schwenkte wieder zu ihm herum; seine Miene war gequält. »Peter Gaskill gab ihr die einzig vernünftige Antwort: Sollte sie ihre Anschuldigungen publik machen, sagte er, dann würde die ganze Affäre in einen verbalen Schlagabtausch abgleiten, in dem Aussage gegen Aussage stünde. Sie könnte nicht beweisen, dass der Sex nicht einvernehmlich war und sie es sich erst hinterher anders überlegt hatte. Es würde nur den Ruf der Met schädigen und ihre Karriere ruinieren. Kein männlicher Beamter würde mehr etwas mit ihrem Team zu tun haben wollen.

Er versprach ihr, dass man Craig dazu auffordern würde, schnell und ohne Aufhebens in den Ruhestand zu wechseln, sodass keine weiteren Kolleginnen gefährdet würden, und dass die Met Craig einen Verweis erteilen würde.«

Kincaid starrte ihn nur an. »Das ist nicht Ihr Ernst.«

Der sonst so unerschütterliche Childs fixierte ihn durchdringend und erwiderte scharf: »Hätten Sie eine bessere Lösung parat gehabt, Duncan? Die Met hat in den letzten Jahren schon genug negative Publicity gehabt – das wissen Sie genau. Leitende Beamte haben gegen ihre Kollegen Anschuldigungen wegen Rassismus, sexueller Diskriminierung und Inkompetenz erhoben. Rebecca Meredith’ Geschichte hätte katastrophale Auswirkungen gehabt. Und sie hätte ihre Karriere ruiniert, ohne dass sie irgendetwas erreicht hätte.«

Kincaid verschlug es fast den Atem. »Aber jetzt ist sie tot, da muss sich doch wohl niemand mehr Gedanken um ihre Karriere machen, oder? Und was ist mit anderen Polizeibeamtinnen? Oder anderen Frauen überhaupt?«

»Sie gehen davon aus, dass Meredith’ Anschuldigungen der Wahrheit entsprachen. Das können wir aber nicht wissen. Craig hat natürlich alles abgestritten.«

»Natürlich.« Kincaid stand auf, als könnte er durch die Bewegung seinen Zornesausbruch eindämmen. »Warum sollte Meredith so etwas erfinden? Das wäre doch beruflicher Selbstmord gewesen.

Und im Übrigen ist Craig nicht sofort in den Ruhestand getreten – ich habe das heute Nachmittag recherchiert. Er hat erst vor zwei Wochen den Dienst quittiert. Und er wird immer noch in beratender Funktion geführt. Ach ja, und zufällig hat er auch noch eine Ehrung erhalten. Schöner Verweis, wirklich.

Rebecca Meredith muss vor Wut außer sich gewesen sein, als sie davon erfuhr. Und sie muss sich von ihren Vorgesetzten furchtbar verraten gefühlt haben.«

Eine tiefe Falte grub sich in Childs’ breite Stirn. Er rückte den Mont Blanc auf seiner ledernen Schreibunterlage gerade, ehe er Kincaid in die Augen sah. »Nun bleiben Sie mal auf dem Teppich, Duncan. Es steckt noch ein bisschen mehr dahinter. Rebecca Meredith hat, wie Sie sicherlich noch feststellen werden, sich selbst und anderen das Leben ziemlich schwer gemacht. Und sie hatte durchaus ihre eigenen Interessen im Blick. Sie wollte rudern, und sie wollte dafür bei vollem Gehalt vom Dienst freigestellt werden.«

»Das glaube ich nicht«, entgegnete Kincaid und starrte Childs verblüfft an. »Wollen Sie mir sagen, dass Rebecca Meredith die Met erpresst hat?«

»Ich sage nur, dass ihr ein Angebot unterbreitet wurde und dass sie es in Betracht gezogen hat.«

»Ein Angebot.« War Rebecca Meredith das Rudern wirklich so enorm wichtig gewesen? Oder hatte sie nur eine gewisse Wiedergutmachung gewollt für das, was Craig ihr angetan hatte? »Und wenn sie das Angebot abgelehnt hätte?«

»Dann hätten wir alle uns mit den Konsequenzen auseinandersetzen müssen.« Childs seufzte schwer.

Kincaid wandte sich ab und trat ans Fenster. Ohne seinen Chef anzusehen, sagte er: »Warum genau waren Sie so entschlossen, mir den Fall zu übertragen?«

»Weil Sie mein bester Mann sind. Weil ich glaubte, Sie könnten den Dingen auf den Grund gehen. Und weil ich glaubte, auf Ihre Diskretion zählen zu können.«

Es war inzwischen völlig dunkel, und es hatte zu regnen begonnen. Die Lichter von Victoria und dahinter die von Westminster schimmerten trüb durch die Nacht. Kincaid starrte aus dem Fenster und bemühte sich, trotz des Zorns, der in ihm aufstieg, sachlich zu bleiben.

»Angus Craig hatte sowohl ein Motiv für den Mord an Rebecca Meredith als auch, aufgrund der räumlichen Nähe, die Gelegenheit dazu. Hatten Sie erwartet, dass ich das ignorieren würde?«

»Ich hatte erwartet, dass Sie Ihren Job professionell und gründlich erledigen würden. Und das tue ich immer noch. Und ich erwarte, dass Sie keine unbewiesenen Anschuldigungen gegen einen anderen Polizeibeamten erheben.

Und nun«, fügte Childs hinzu, während er seine immer noch beträchtliche Leibesfülle aus dem Sessel hievte, »habe ich leider familiäre Verpflichtungen. Dianes Schwester ist für vierzehn Tage zu Besuch. Verdammt lästig.« Er ging zur Tür, drehte sich aber noch einmal um, als er dort ankam. »Ach, und Duncan – ich erwarte, dass Sie mich auf dem Laufenden halten.«

Kincaid war entlassen.

»›O Maus, weißt du, wie man aus diesem Teich herauskommt? Denn ich bin es leid, hier herumzuschwimmen –‹«, las Kincaid ein paar Stunden später vor und gab sich dabei große Mühe, wie Alice zu klingen.

»Nein.« Charlotte schob ihre Hand unter seine und blätterte zurück. »Lies noch mal die andere Stelle vor!«

»Du meinst die Stelle mit dem kleinen Mädchen, das von den Zehen bis zur Nase zugedeckt war?« Er saß am Kopfende ihres kleinen weißen Betts, das Buch auf dem Schoß, und sie war zur Seite gerutscht, um ihm Platz zu machen.

Nach seinem Gespräch mit Denis Childs im Yard war er sofort nach Hause gefahren und hatte dort das übliche abendliche Chaos angetroffen.

»Was machst du denn hier?«, hatte Gemma gefragt, als es ihm endlich gelungen war, ihr einen Kuss zu geben, nachdem er zuerst von den Hunden und den kleineren Kindern stürmisch begrüßt worden war. »Ich dachte, du wärst noch mal für mindestens eine Nacht in Henley.«

»Hast du schon wieder ein Rendezvous mit dem Milchmann?«, frotzelte er.

Aber Gemma hatte seine Miene gesehen. Sie runzelte die Stirn und fragte: »Was ist passiert? Ist –«

Er schüttelte den Kopf, als Toby dazwischenplapperte: »Wer ist denn der Milchmann? Wir haben doch gar keinen Milchmann.«

»Vergiss es«, sagte Kincaid. »Und unterbrich deine Mutter nicht.«

Toby ließ sich nicht beirren. »Kit macht Chinapfanne. Ich darf das Gemüse schnippeln. Willst du mithelfen?«

»Dir helfen, deine Finger abzuschneiden? Na klar doch.« Und so hatte er sich vom Strom des Familienlebens mitreißen lassen, während er seine Gedanken zu sortieren versuchte.

An diesem Abend war er an der Reihe, Charlotte vorzulesen, während Gemma Toby badete. Charlotte selbst hatte das Buch ausgesucht – es war Kits alte Alice-Ausgabe, die sie im Bücherregal im Wohnzimmer entdeckt hatte. Kincaid hatte ein wenig skeptisch geschaut, als er es gesehen hatte. »Ist sie nicht noch ein bisschen zu klein für Alice?«, hatte er Gemma gefragt.

Gemma hatte nur mit den Achseln gezuckt. »Sie findet das jedenfalls nicht. Im Moment will sie gar nichts anderes hören. Und mir gefällt’s ganz gut.«

»Hast du es denn als Kind nicht gelesen?«, fragte er überrascht. Aber Gemma kam aus einer Familie, in der nicht viel gelesen wurde, und die Kinderbücher bedeuteten für sie eine spannende Entdeckungsreise.

Jetzt gluckste Charlotte, als er die Bettdecke bis an ihre Nasenspitze hochzog, doch dann strampelte sie sich prompt wieder frei und tippte mit dem Finger auf das Buch. »Nein. Die ›Trink-mich‹-Stelle.«

Gehorsam blätterte er zu der Seite zurück und begann: »›Was für ein ulkiges Gefühl‹, sagte Alice. ›Anscheinend schiebe ich mich jetzt zusammen wie ein Fernrohr.‹

Und so war es in der Tat: Sie war höchstens noch eine Spanne groß, und ihre Miene hellte sich auf, als ihr einfiel, dass sie jetzt durch die kleine Tür passte, um in den herrlichen Garten zu gelangen. Vorher aber wartete sie noch eine Weile ab, ob sie nicht noch weiter am Schrumpfen war; dieser Gedanke beunruhigte sie etwas, ›denn es könnte ja passieren‹, sagte sich Alice, ›dass ich am Ende völlig ausgehe wie eine Kerze. Wie ich dann wohl aussähe?‹«

»Pffft«, unterbrach Kincaid die Lektüre und blies eine imaginäre Kerze aus.

»Das hast du dazugemacht«, sagte Charlotte. »Das gilt nicht, sich einfach Sachen ausdenken.«

»Der Mann, der die Geschichte geschrieben hat, Lewis Carroll, hat sich das alles ausgedacht. Das ganze Buch.«

Charlottes Augen wurden ganz groß, und dann schüttelte sie den Kopf. »Auch Alice?«

»Ja, auch Alice.«

»Nein«, erwiderte Charlotte voller Überzeugung. »Das ist ja Quatsch. Es ist doch die Geschichte von Alice. Meinst du, es hat Alice Spaß gemacht, kleiner zu werden?«

Kincaid dachte über die Frage nach. »Ich weiß es nicht. Würde es dir Spaß machen?«

Charlotte schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will größer werden.«

Die Antwort versetzte Kincaid einen Stich, doch er sagte nur: »Dann solltest du jetzt die Augen zumachen und schlafen, denn je eher es morgen ist, desto kürzer ist die Zeit bis zu deinem Geburtstag.«

»Wirklich?«

»Wirklich.«

»Also gut.« Charlotte machte die Augen fest zu, doch einen Moment später riss sie sie wieder auf. »Bleibst du hier, bis ich ganz fest schlafe?«

»Ja. Versprochen.«

»Schaust du später noch mal nach mir?«

»Ja. Und jetzt kuschel dich schön zusammen und träum süß.« Er zog die Decke wieder hoch, und diesmal legte Charlotte ihre Hand auf seine und hielt sie unter ihrem Kinn fest.

Es dauerte nicht lange, da zuckten ihre Lider und schlossen sich, und zu seinem Erstaunen spürte er, wie ihre Hand sich bereits entspannte; bald darauf erkannte er an ihren tiefen, regelmäßigen Atemzügen, dass sie eingeschlafen war.

Er betrachtete ihre Hand, die auf der seinen lag, und dachte sich, dass er noch nie so etwas Wunderschönes gesehen hatte. Ihre winzigen, hellbraunen Finger waren leicht gekrümmt, ihre Nägel wie rosa Perlen. Es kam ihm wie ein Wunder vor, dass dieses Kind so unvermutet in sein Leben getreten war und dass sie begonnen hatte, ihn ins Herz zu schließen. Und er wollte alles daransetzen, ihr stets der Vater zu sein, den sie verdiente.

Ganz behutsam berührte er mit den Lippen ihre Wange und zog seine Hand unter ihrer heraus.

Als er aufblickte, sah er, dass Gemma in der Tür stand und sie beide beobachtete. Sie lächelte. »Du wirkst ja wahre Wunder.«

»Nicht ich, Alice.« Er stand auf. »Und Toby?«

»Liest gerade etwas nicht ganz so Anspruchsvolles. Fluch der Karibik als Comic.«

»Na, solange es nicht der Daily Mirror ist.«

»Jedenfalls noch nicht.« Sie musterte ihn. »Komm doch mit runter in die Küche. Ich wollte gerade Teewasser aufsetzen, und dann kannst du mir erzählen, was heute passiert ist.«

Wenig später saßen sie in der Küche. Die Hunde hatten es sich zu ihren Füßen bequem gemacht, und zwischen ihnen auf dem Tisch thronte Gemmas kostbare Clarice-Cliff-Teekanne. Doch sie tranken den Tee aus angestoßenen Henkelbechern – Schätzen, die sie beim samstäglichen Bummel über den Portobello-Markt erstanden hatten. Kincaid hatte nach Toby und Kit geschaut, und als er mit den Hunden hinausgegangen war, hatte er festgestellt, dass es noch immer leicht regnete und dass es kälter geworden war. Doch in der Küche strahlte der dunkelblaue Aga-Herd eine wohlige Wärme aus.

Nachdem Kincaid seine Gedanken geordnet hatte, berichtete er Gemma, was er an diesem Vormittag über Rebecca Meredith’ Tod erfahren hatte. Anschließend gab er ihr – ein wenig zögerlicher – eine Zusammenfassung seiner Unterredung mit Denis Childs. »Ich will diesen Fall nicht übernehmen«, sagte er, nachdem er geendet hatte.

»Du würdest die Leitung der Ermittlungen abgeben?« Gemma schien geschockt. »Aber das kannst du nicht machen.«

»Ich sollte eigentlich in Elternurlaub gehen, falls du das vergessen hattest.«

Sie seufzte. »Nein, natürlich nicht. Und ich wünsche mir genauso sehr wie du, dass du mit dieser Geschichte nichts mehr zu tun hast. Aber einen solchen Fall abzugeben – du weißt, was das für deine Karriere bedeuten würde.«

»Wäre es dir lieber, dass ich die Richtung meiner Ermittlungen … korrigiere« – seine Lippen zuckten –, »um einen leitenden Beamten der Met zu schützen?«

»Nein, aber –« Gemma erwiderte seinen Blick mit jenem grundehrlichen Ausdruck, den er so liebte. »Was ist mit Rebecca Meredith? Willst du nicht wissen, wer sie ermordet hat? Verdient sie nicht eine Antwort auf diese Frage, ungeachtet der Konsequenzen?«

»Dir ist doch wohl klar, wie ernst diese Konsequenzen sein könnten, wenn sich herausstellen sollte, dass Craig sie getötet hat? Und was für uns auf dem Spiel steht?« Seine Geste schloss das ganze Haus ein, mit den Kindern, die oben friedlich in ihren Betten schliefen.

Gemma verteilte den Rest Tee aus der Kanne und goss dann die letzten Tropfen Milch aus dem kleinen Clarice-Cliff-Kännchen dazu. Nach einer Weile sagte sie: »So viel Vertrauen habe ich aber schon in Denis Childs. Dieser leitende Beamte – was sagtest du noch mal, wie er heißt – Craig?«

»Angus Craig. Ein typischer schottischer Name, der mir unter anderen Umständen bestimmt sympathisch wäre, aber –« Er brach ab, als er merkte, dass Gemma ihm nicht zuhörte. »Was –«

»Strohblond? Nicht sehr groß, ein bisschen kräftig?« Ihre Stimme war eine Oktave nach oben geschnellt.

»Ich bin ihm erst ein paar Mal begegnet, aber die Beschreibung passt. Wieso –«

»O Gott.« Gemmas Augen waren geweitet. »Rebecca Meredith hat gesagt, er hätte angeboten, sie mitzunehmen, und dann gefragt, ob er kurz ihre Toilette benutzen dürfte?«

»Ja. Gemma, was –«

Sie unterbrach ihn, und die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. »Es war kurz nachdem ich meine Sergeants-Prüfung bestanden hatte, ein oder zwei Monate, bevor ich in deine Abteilung versetzt wurde. Ich bin zu einer Party in einem Pub in Victoria gegangen. Den Anlass habe ich vergessen – kann gut sein, dass es die Abschiedsfeier von irgendwem war –, jedenfalls hatten ein paar meiner neuen Kollegen beim Yard mich überredet hinzugehen.

Es war eigentlich ein ganz netter Abend, aber als die Gesellschaft sich dann auflöste, regnete es in Strömen. Ich war nicht mit dem Auto gekommen, weil ich etwas trinken wollte, und während sich alle verabschiedeten, erwähnte jemand, dass die Central Line nach Leyton nicht fuhr.« Gemma zögerte. »Er bot mir an, mich mitzunehmen.«

»Du meinst Craig?«

»Genau der – ich bin mir absolut sicher. Er war sehr … beflissen. Höflich auf eine etwas väterliche Art. Und dann auch noch ein Deputy Assistant Commissioner … Ich fühlte mich wohl geschmeichelt.« Sie schluckte und drehte ihren Teebecher auf dem Kiefernholztisch um neunzig Grad. »Also habe ich das Angebot angenommen. Auf der Fahrt haben wir Smalltalk gemacht, über irgendwelche belanglosen Themen. Filme, glaube ich. Als wir dann in Leyton ankamen, fragte er, ob er kurz mit hereinkommen dürfe. Er sagte, er sei zwar nicht über der Promillegrenze, aber er habe ein oder zwei Bier getrunken, und schließlich sei er auch einen kleinen Umweg gefahren, um mich nach Hause zu bringen.

Also sagte ich ja, selbstverständlich, obwohl mir ganz schlecht wurde, wenn ich an den Zustand der Wohnung dachte, und ich bat ihn herein.«

Kincaid rutschte nervös auf seinem Stuhl herum und schreckte Geordie auf, ihren Cockerspaniel, der auf Kincaids Füßen geschlafen hatte. Geordie gab ein verstimmtes »Wuff« von sich und legte sich wieder hin. »Sprich weiter«, sagte Kincaid mit gepresster Stimme, ohne den Blick von Gemmas Gesicht zu wenden. Die Richtung, die ihre Geschichte nahm, behagte ihm ganz und gar nicht.

»Ich hatte ihm nichts über meine persönliche Situation erzählt – warum sollte ich auch, einem Vorgesetzten gegenüber, den ich gar nicht kannte? Ich fühlte mich ohnehin nicht wohl in meiner Rolle als frisch geschiedene alleinerziehende Mutter, und ich hoffte, dass es meinen Karriereaussichten nicht schaden würde.« Sie streifte ihn mit einem Blick und sah dann weg. »Deswegen nahm er wohl an, dass ich allein lebte.

Aber an diesem Abend war meine Mutter gekommen, um auf Toby aufzupassen, und natürlich hatte Toby einen fürchterlichen Schreianfall bekommen, als sie versuchte, ihn ins Bett zu bringen. Und als Craig dann in die Wohnung kam und meine Mutter sah, wie sie mit einem rotgesichtigen, tränenüberströmten kleinen Jungen an der Schulter im Wohnzimmer auf und ab ging, machte er auf dem Absatz kehrt, murmelte noch rasch ›gute Nacht‹ und stürmte hinaus.

Ich fand sein Verhalten schon merkwürdig, dachte mir aber, es sei ihm vielleicht peinlich, dass er gefragt hatte, ob er die Toilette benutzen dürfe, oder dass er Angst gehabt hatte, in eine dreckige Windel zu treten, wenn er nicht gleich kehrtmachte.« Sie zuckte mit den Achseln. »Und dann habe ich die ganze Sache vergessen. Ich bin ihm danach nie mehr begegnet. Aber –«

»Aber was?«, fragte Kincaid, und ihn fröstelte. Er wusste, dass ihr das gleiche Szenario durch den Kopf ging wie ihm.

»Was, wenn meine Mutter an dem Abend nicht in der Wohnung gewesen wäre? Was – wenn Angus Craig mit mir das Gleiche vorhatte, was er Rebecca Meredith angetan hat?«

Als Kieran endlich beim Bootsschuppen anlangte, war es schon längst dunkel. Er war völlig durchnässt und zitterte am ganzen Leib, und er fühlte sich benommen, als ob sein Gehirn keine Verbindung mit seinem Körper hätte. In seinen Ohren hatte jenes Pfeifen eingesetzt, das oft eine Verschlimmerung seiner Gleichgewichtsprobleme ankündigte.

Er schaltete das Licht ein, rubbelte Finns nasses Fell mit einem Handtuch ab und gab ihm dann sein Trockenfutter. Aber bei dem Gedanken, sich selbst etwas zu essen zu machen, wurde seine unterschwellige Übelkeit sofort wieder stärker.

Wann hatte er zuletzt etwas gegessen? War es der Energieriegel gewesen, gestern vor der Suche? Kein Wunder, dass er sich ein bisschen wacklig auf den Beinen fühlte.

Er sank auf das Feldbett, während Bilder vor seinem inneren Auge vorüberzogen wie flimmernde alte Wochenschaufilme. Er wusste, dass er wenigstens trockene Sachen anziehen sollte, aber selbst diese simple Tätigkeit schien ihn zu überfordern.

Und er wusste, dass er jemandem erzählen sollte, was er gesehen hatte – aber wem?

Er glaubte nicht, dass Tavie überhaupt mit ihm reden, geschweige denn ihn bis zum Ende anhören würde. Der Polizist von Scotland Yard? Er hatte wie ein Mann gewirkt, der zuhören konnte, aber Kieran wusste nicht, wie er ihn kontaktieren sollte. Und er konnte sich nicht vorstellen, einem Beamten der hiesigen Polizei alles auseinanderzusetzen, selbst wenn er es schaffen sollte, sich aufs Revier zu schleppen.

Sein Kopf drehte sich, und er hielt sich an der Bettkante fest, darauf gefasst, dass der Schwindel jeden Moment mit voller Wucht einsetzte. Als das nicht geschah, atmete er erleichtert auf. Finn hatte sein Futter bis auf den letzten Krümel verputzt und kam herüber, um sich zu Kierans Füßen auf den Boden zu legen. Mit dem Kopf auf den Vorderpfoten beobachtete er aufmerksam das Gesicht seines Herrn.

Kieran wartete und zählte lautlos. Die Sekunden verstrichen. Allmählich glaubte er, dass er diesmal verschont bleiben könnte – oder dass er wenigstens in der Lage sein würde, sich zu waschen und umzuziehen, ein Sandwich zu essen und einen Schluck Kaffee zu trinken. Und dann könnte er sich vielleicht überlegen, was er wegen dieses Mannes am Ufer unternehmen würde.

Vorsichtig erhob er sich vom Bett, als er plötzlich draußen vor dem Schuppen ein leises Plätschern durch das zum Lüften geöffnete Fenster vernahm. Finn stellte gespannt die Ohren auf. Er legte den Kopf schief und ließ ein tiefes, kehliges Knurren vernehmen, während sein Fell sich sträubte.

Und dann flog alles in die Luft.