12

An tiefer liegenden Stellen sammeln sich Gerüche ähnlich wie Wasser. Wie beim Looping kann ein solcher Geruchspool eine Anzeige hervorrufen, die der Hund wegen wechselnder Winde nicht zur Quelle zurückverfolgen kann. Solche Anzeigen müssen sowohl in der Karte des Hundeführers als auch in der Grundkarte vermerkt werden.

American Rescue Dog Association,

Search and Rescue Dogs: Training the K-9 Hero

Tavie und Ian schafften es, Kieran bis zum Vorgarten des Cottage nebenan zu schleppen, ehe der Löschtrupp seinen Wasserstrahl auf den brennenden Schuppen richtete. Doch dann weigerte sich Kieran, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Er sank auf die Erde, den Arm um Finn geschlungen; Blut und Tränen strömten ihm übers Gesicht, als er zusah, wie die Flammen sich in schwarzen Rauch verwandelten.

Tavie sah Ian fragend an.

»Ich denke, wir sind weit genug weg«, sagte er. Auf dem Fluss waren jetzt hier und da Lichter zu sehen – weitere Anwohner waren in Booten herbeigekommen, und manche halfen, die Feuerwehrleute überzusetzen. »Sie werden die Flammen bald erstickt haben.«

John und seine Frau, eine freundliche Dame in mittleren Jahren, waren in ihren eigenen Vorgarten zurückgekehrt. »Können wir irgendwie helfen? Besteht jetzt keine Explosionsgefahr mehr?«, fragte die Frau Tavie. »Übrigens, ich heiße Janet.« Dann wandte sie sich Kieran zu. »Kieran, es tut mir so leid. Wenn wir irgendetwas tun können …«

Kieran gab einen Laut von sich, der wie ein Wimmern klang.

»Wie wär’s mit einem Handtuch und Wasser?«, sagte Tavie energisch. »Und Sie, John, könnten Sie die Boote dirigieren?« Beide machten sich rasch an ihre Aufgaben.

»So.« Tavie wandte sich zu Kieran. »Jetzt schaue ich mir mal deinen Kopf an.«

»Lass doch«, murmelte Kieran, doch sein Protest war nur schwach. Sein Blick war starr auf das Feuer gerichtet.

Tavie öffnete ihre Tasche, um das Verbandszeug auszupacken, und nutzte die Gelegenheit, um leise zu Ian zu sagen: »Funk den Brandmeister an. Sag ihm, was Kieran von dem Molotowcocktail erzählt hat. Sie müssen die Schaulustigen auf Abstand halten und so schnell wie möglich die Polizei verständigen.«

Als Janet mit Handtüchern und einer Schüssel Wasser zurückkam, dankte Tavie ihr und bedeutete ihr, sie allein zu lassen. Kieran zuckte heftig, als sie sein Gesicht abzutupfen begann.

»Halt still, verdammt noch mal.« Sie leuchtete die Wunde mit der Taschenlampe an, doch als sie das Blut abgewischt hatte, seufzte sie erleichtert auf. Es war eine Schnittwunde, die sich von seiner Stirn bis in die Kopfhaut hineinzog – sie sah übel aus, war aber nicht tief. Die Blutung hatte auch schon fast aufgehört.

»Du musst genäht werden. Wir bringen dich auf dem schnellsten Weg in die Notaufnahme.«

Kieran machte Anstalten, den Kopf zu schütteln, und zuckte erneut zusammen. »Verbind’s einfach nur, Tavie. Das ist gar nichts. Und ich hab auch keine Gehirnerschütterung.«

»Ach, nein? Das werden wir gleich sehen.« Mit ihrer kleinen Taschenlampe untersuchte sie seine Pupillen und stellte fest, dass sie normal reagierten – ein gutes Zeichen. Doch als sie sah, dass seine Augen wiederholt leicht zur Seite zuckten, lehnte sie sich besorgt zurück. »Kieran, du hast einen Nystagmus. Hast du getrunken?« Sie hatte keine Alkoholfahne gerochen, doch die Überprüfung auf solche unwillkürlichen Augenbewegungen war ein simpler Nüchternheitstest, den sowohl Sanitäter als auch die Polizei häufig anwendeten.

»Nein. Es ist Vertigo«, antwortete er zögerlich. »Chronischer Schwindel. Da war diese Bombe, drüben im Irak …«

»O verdammt, Kieran.« Das erklärte das Augenzucken, und zugleich wurden auch einige andere Dinge in eine neue Perspektive gerückt, die für sie bisher keinen Sinn ergeben hatten. »Warum zum Teufel hast du mir das nicht gesagt?«

Er sah sie an und dann wieder das fast gelöschte Feuer. »Hättest du mich ins Team aufgenommen, wenn ich’s dir gesagt hätte?«

Sie wollte nicht zugeben, dass er recht hatte. »Und was hättest du gemacht, wenn du mitten im Sucheinsatz der Länge nach auf die Nase gefallen wärst?«

»Dir erzählt, ich wäre gestolpert.« Er deutete ein schwaches Lächeln an. »Und es ist nicht immer so schlimm.« Seine Stimme bekam einen flehenden Ton. »Wirklich. Es war nur das Gewitter und dann die letzten Tage – und der Schlag auf den Kopf.«

»Du musst ins Krankenhaus, keine Diskussion.«

»Nein. Tavie, bitte.« Er legte ihr die Hand auf den Arm, und ihr kam der Gedanke, dass er sie nur sehr selten absichtlich berührte. »Ich bleibe hier. John kann mir einen Schlafsack leihen. Ich will in der Nähe des Schuppens bleiben.«

»Red keinen Unsinn.«

»Dann schlaf ich eben im Land Rover, auf dem Museumsparkplatz. Das hab ich schon oft gemacht.«

»Kieran –«

»Ich bin bei Bewusstsein. Du kannst mich nicht zwingen.«

Das konnte sie in der Tat nicht. Und als sie sich klarmachte, welche Assoziationen Krankenhäuser für ihn haben mussten nach seinem Irak-Erlebnis, begann sie sofort über alternative Lösungen nachzudenken.

»Dann kommst du eben mit zu mir«, sagte sie. »Du und Finn. Ich kann euch bei mir unterbringen, bis du wieder auf dem Damm bist. Und ein bisschen auf dich aufpassen.«

Ein uniformierter Polizist – nach seinen Streifen ein Sergeant – tauchte aus der Dunkelheit auf. »Ist das der Besitzer des Schuppens?«, fragte er und starrte Kieran an. Als dieser bejahte, fuhr der Sergeant fort: »Was ist das für eine Geschichte mit diesem Molotowcocktail? Der Nachbar sagt, Sie reparieren da drin Boote. Sind Sie auch sicher, dass Sie nicht unachtsam waren und aus Versehen irgendwelche Lösungsmittel in Brand gesteckt haben, hm?«

All die Ängste, die Anspannung und der Stress verdichteten sich in Tavie plötzlich zu einer Woge des Zorns, eiskalt und klar. Sie stand auf, sah dem Sergeant direkt in die Augen und tippte ihm mit dem Finger auf die Brust. »Wagen Sie es nicht, in diesem Ton mit meinem Patienten zu reden. Detective Inspector Singla ist bereits über diesen Anschlag informiert. Und übrigens: Dieser Mann war gestern mit dem SAR-Team im Einsatz, und wenn er sagt, es war ein Molotowcocktail, dann war es einer. Er hätte heute Abend sterben können.«

Finn war die ganze Zeit nicht von Kierans Seite gewichen, doch jetzt stand er auf und ließ einen tiefen, kehligen Laut vernehmen, fast schon ein Knurren.

Der Sergeant beäugte ihn ängstlich und wich einen Schritt zurück. »Singla, sagten Sie? Den kenne ich nicht.«

»Sie werden ihn schon noch kennenlernen. Thames Valley CID. Und er schien mir nicht der Typ zu sein, der viel Geduld mit Dummköpfen hat.«

»Also, jetzt hören Sie mal zu, das ist noch lange kein Grund.«

Finn knurrte wieder, diesmal ein wenig lauter.

Der Sergeant wich noch einen Schritt zurück und schien zu dem Schluss zu kommen, dass es klüger wäre, nachzugeben. »Also gut. DI Singla. Ich werde gleich mal bei der Leitstelle nachfragen.«

Mit ein paar Metern Sicherheitsabstand zu Tavie und dem Hund besann er sich jedoch gleich wieder auf seine angekratzte Autorität. »Hören Sie, ganz egal, ob es Brandstiftung oder ein Unfall war, das hier ist ein Tatort, und Sie« – er sah Kieran an – »dürfen das Gelände nicht betreten. Oder irgendetwas von dort entfernen. Und Sie müssen uns einen festen Wohnsitz nennen, Mr. –«

»Connolly«, sagte Tavie.

»Gut, Mr. Connolly«, sagte der Sergeant. »In Kürze wird jemand kommen, um Sie zu vernehmen. Und ich rate Ihnen, diesen Hund unter Kontrolle zu halten.«

»Finn, ganz ruhig«, sagte Kieran.

»Mr. Connolly wird bei mir wohnen. Mit seinem Hund.« Tavie gab dem Sergeant ihre Adresse.

Kieran ließ den Kopf in die Hände sinken.

Tavie betrachtete Kieran, wie er da in der Mitte ihres Wohnzimmers stand, und sie fragte sich, was um alles in der Welt sie mit ihm anfangen sollte.

Er überragte sie nicht nur, er ließ den kleinen Raum noch kleiner wirken. Und er schwankte leicht wie ein großer Baum, der kurz davor ist, umzustürzen.

»Setz dich«, forderte sie ihn auf, als redete sie mit einem der Hunde, und deutete auf den größten Sessel.

Er folgte ihr, wenn auch mit etwas unsicheren Bewegungen, und jetzt, da sie auf ihn hinunterschauen konnte, war ihr schon ein wenig wohler. Ihr wurde bewusst, dass sie bisher die meiste Zeit mit Kieran im Freien verbracht hatte, wo es nicht so auffiel, dass er gut einen Kopf größer war als sie.

Und dann, während sie sich in ihrem Wohnzimmer umsah, dessen Enge sie plötzlich als bedrückend empfand, kam ihr der Gedanke, dass die einzigen Männer, die je ihr Haus betreten hatten, ihre Kollegen von der Feuerwehr und vom Rettungsdienst waren, die ihr beim Umzug geholfen hatten.

Das Häuschen war ihre Rebellion gegen das Leben gewesen, das sie mit ihrem Exmann Beatty geführt hatte. Sie hatte bei ihren Eltern gewohnt, bis sie Beatty geheiratet hatte und in seine Eigentumswohnung in Leeds gezogen war. Ein Jahr darauf hatten sie beide Arbeit in Oxfordshire bekommen, und die Doppelhaushälfte in dem Neubaugebiet am Stadtrand von Reading hatte sie offenbar ohne ihr bewusstes Zutun ganz vereinnahmt.

Acht lange Jahre später war ihre Ehe rettungslos zerrüttet, und das Spießerleben hatte für sie beide seinen Reiz verloren. Beatty hatte herausgefunden, dass er in Wirklichkeit eine Frau wollte, die sich unterordnete und einen starken Mann brauchte, und er hatte auch mühelos eine rothaarige Krankenschwester gefunden, die ins Schema passte.

Und Tavie hatte herausgefunden, was sie wirklich wollte, nämlich verdammt noch mal ihre eigenen Entscheidungen treffen zu können, und dazu hatte gehört, dass sie sich beim Kauf ihres Hauses von niemandem hatte reinreden lassen.

So war sie also zu dem Puppenhäuschen gekommen – und sie hatte es von Anfang an geliebt. Sie liebte ihr Single-Dasein, ihre Hündin, ihren Beruf und ihre Arbeit beim Such- und Rettungsdienst. Trotzdem gab es bisweilen Zeiten, wo das Haus ihr ein bisschen leer vorkam – aber dass es urplötzlich von einem hünenhaften Mann mit blutigem Schädel und übler Laune mitsamt seinem ebenso hünenhaften Hund in Beschlag genommen würde, war nicht ganz die Lösung, die ihr vorgeschwebt hatte.

Die Hunde hatten endlich ihr ausgiebiges Begrüßungsritual mit viel Schnuppern und Schwanzwedeln beendet und setzten sich ebenfalls.

»Okay«, sagte sie, während sie sich ein wenig hektisch im Zimmer umsah, »jetzt legst du erst mal die Füße hoch.« Ihr Blick fiel auf die kleine Truhe, in der sie die Bettdecken aufbewahrte. Sie zog sie heran und legte ein Kissen obendrauf. »So, bitte sehr.«

»Ich bin doch kein Krüppel. Ich hab bloß eine leichte Kopfverletzung.« Kieran starrte sie finster an, doch der Effekt wurde ein wenig konterkariert durch den dicken Mullverband, der seine Augenbraue an einer Seite hochzog und ihm unfreiwillig einen fragenden Gesichtsausdruck verpasste.

Er hatte immer schon etwas Verwegenes an sich gehabt, mit seiner blassen Haut, den tiefblauen Augen und den schwarzen, wirren Haaren. Vielleicht würde ihm eine Narbe ganz gut stehen. Diese hier würde wenigstens sichtbar sein.

Kritisch blickte sie auf ihr kleines Sofa. »Ich schlafe hier«, sagte sie. »Du kannst das Bett haben. Es ist ein Doppelbett, also denke ich, dass deine Füße nicht unten rausgucken werden.« Das Bett gehörte zu den wenigen Dingen, die sie nach der Scheidung behalten hatte.

Kieran lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloss die Augen. Sein Gesicht wirkte eingefallen, wenn seine Züge entspannt waren, und als er sprach, war seine Stimme matt vor Erschöpfung. »Tavie, ich schlafe nicht in deinem Bett. Ich bin dir wirklich dankbar für alles, was du für mich tust. Ehrlich.« Mit der Fingerspitze betastete er ganz vorsichtig den Verband an seiner Stirn und zuckte zusammen. »Aber das ist zu viel. Ich werde auf dem Boden schlafen. Und sobald sie mich lassen, gehe ich zurück in den Schuppen. Ich kann mir ein neues Feldbett kaufen, wenn es sein muss.«

Tavie dachte an die Flammen und an die Schäden, die das Löschwasser vermutlich verursacht hatte, und schüttelte den Kopf. »Kieran, es ist vielleicht gar nichts mehr –«

»Ich muss selbst nachsehen.« Er setzte sich auf, mit neuem Nachdruck in der Stimme. »Es ist alles, was ich habe. Was immer noch übrig ist.«

Tavie sank auf die Sofakante nieder. Sofort kam Tosh gelaufen, legte den Kopf auf Tavies Knie und sah zu ihr auf, wobei sie ihre dunklen Schäferhundbrauen zu einem V verzog. Auch sie schien durch die Veränderung aus ihrer Alltagsroutine gebracht. Tavie streichelte das weiche Fell auf ihrem Kopf. »Das Boot – das unter der Plane –, du hast gesagt, du hättest es für sie gebaut. Meintest du Rebecca Meredith?«

»Ich wollte schon immer ein Skiff aus Holz bauen, seit ich als Junge mit dem Rudern angefangen habe«, sagte er schon etwas ruhiger. »Mein Vater war Möbelschreiner, deshalb verstehe ich etwas von Holz. Es war – Sie schien mir – Ich dachte, mein Boot könnte ihr zur Olympiateilnahme verhelfen.

Es war verrückt, ein albernes Hirngespinst.« Er schüttelte den Kopf. »Selbst wenn sie es gewollt hätte – kein olympisches Komitee hätte sie in einem Holzboot an den Start gehen lassen. Sie hätte sich das beste GFK-Rennruderboot aussuchen können, das für Geld zu haben ist.«

»Hätte sie es schaffen können?«, fragte Tavie. »Die Olympiateilnahme? War sie – war sie wirklich so gut?«

Kieran rieb sich das stopplige Kinn und blinzelte mehrmals. »Ich habe nie einen Menschen so rudern sehen. Für sie war es wie Atmen. Einfach perfekt. Aber zum Gewinnen braucht es mehr als diese Gabe. Es braucht Besessenheit, und die hatte sie auch.«

»Und du …« Tavie atmete tief durch. Sie wusste, dass sie sich auf verbotenes Gelände wagte, aber sie musste ihn fragen. »Wo war bei dieser Besessenheit noch Platz für dich?«

Kierans Lächeln war flüchtig und selbstironisch. »Ich … kam ihr gelegen.«

»Wie habt ihr – ich meine …« Tavie merkte, dass sie rot wurde. »Ich weiß, es geht mich nichts an, aber wie habt ihr beide euch eigentlich –«

Aber er schien beinahe erleichtert, darüber reden zu können. »Es war letzten Sommer. Ich habe sie immer rudern gesehen, wenn ich abends auf dem Fluss war. Und dann hatte sie eines Tages Probleme mit einem ihrer Ausleger. Ich habe angehalten, um ihr zu helfen. So sind wir ins Gespräch gekommen.«

Finn hatte seine Versuche aufgegeben, Tosh für eine Partie Tauziehen zu begeistern, und machte es sich zu Kierans Füßen bequem. Kieran legte die Hand auf Finns Kopf, ein Spiegelbild von Tavie und Tosh, und einen Moment lang fragte sie sich, ob sie beide ohne ihre Hunde überhaupt komplett wären. Wer war Kieran gewesen, wenn er mit Rebecca Meredith zusammen war, ohne Finn als Schutzschild?

Er fuhr fort, langsamer jetzt, da die Erinnerung ihn einholte. »Danach schienen wir irgendwie immer zur gleichen Zeit mit unseren Skiffs rauszufahren. Wir sind kleinere Strecken zusammen gerudert, aber ich konnte nicht ganz mit ihr mithalten, trotz meines Größenvorteils. Und wir haben geredet.

Dann, eines Abends, bin ich nicht rausgefahren. Ich hatte … einen schlechten Tag. Sie wusste, wo ich wohne – wir waren schon dutzende Male flussaufwärts an meinem Schuppen vorbeigerudert. Also ist sie gekommen, um zu sehen, ob es mir gut ging.«

Das Schweigen dehnte sich so lange aus, dass es peinlich wurde. »Und danach, da ging es dir gut«, sagte Tavie leichthin, obwohl es ihr die Kehle zusammenschnürte.

Kieran zuckte mit den Achseln und sah sie wieder mit diesem halb spöttischen Lächeln an. »Ich wusste immer, dass ich nur eine Ablenkung für sie war. Ich weiß nur nicht genau, wovon.«

»Gestern …« Tavie überlegte, wie sie es formulieren sollte, und fuhr dann stockend fort: »Gestern hast du gesagt, sie sei zu gut gewesen, als dass sie an einem so ruhigen Abend hätte verunglücken können. Und dann, heute Abend – der Bootsschuppen. Du sagst, es war ein Molotowcocktail. Warum? Warum sollte jemand dir das antun, es sei denn, es hat etwas zu tun mit …« Sie hatte plötzlich ein Problem mit dem Namen, obwohl sie noch gestern so unbekümmert den Hunden das Kommando gegeben hatte: Sucht Rebecca. Gestern war Rebecca Meredith für sie nicht mehr als das gewesen – ein Name. »Mit ihr«, beendete sie den Satz.

Seine Miene wurde so abweisend, als wäre ein Gitter heruntergelassen worden. »Ich weiß es nicht.«

»Kieran –«

Er sah sie an und schüttelte den Kopf, während er sich mühsam aufrichtete. »Ich sollte jetzt gehen, Tavie. Es ist nicht – Ich will nicht, dass – Wer immer heute Abend diese Flasche geworfen hat, könnte jederzeit wiederkommen.«

Zu früh gefreut, dachte Kincaid. Anstatt die Nacht mit Gemma im eigenen Bett verbringen zu dürfen, konnte er seine Tasche gleich wieder ins Auto werfen. Er fuhr direkt nach Henley, ohne zuvor Cullen abzuholen.

Als Kincaid ihn von unterwegs anrief, erklärte Doug sich sofort bereit, den Zug zu nehmen. Kincaid bat ihn jedoch, bis zum Morgen zu warten. »Lassen Sie mich mit diesem Kieran reden – vielleicht erfahre ich ja von ihm etwas Neues. Ich habe Singla gesagt, dass ich ihn als Erster vernehmen will.«

»Gestern hatte ich den Eindruck, dass er ein bisschen neben der Kappe ist, dieser Kieran.« Der Empfang war schlecht, und Dougs Stimme wurde immer wieder durch Knacken und Rauschen unterbrochen. »Man hätte meinen können, dieses Boot wäre der Heilige Gral, so ein Theater hat er darum gemacht. Vielleicht hat er ja Becca Meredith umgebracht und dann versucht, sich selbst in die Luft zu jagen.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er seinen Hund bei lebendigem Leib hätte verbrennen lassen«, wandte Kincaid ein. Er hatte schon Selbstmörder erlebt, die zuvor ihre Hunde erschossen hatten, aber nicht so etwas. Doch wenn die Beziehung zwischen Mann und Hund so eng war, wie es den Anschein hatte, dann wäre es denkbar, dass Kieran den Hund betäubt und das Ganze als eine Art rituelle Verbrennung inszeniert hatte.

Allerdings hielt er es für viel wahrscheinlicher, dass tatsächlich jemand einen Molotowcocktail durch Kieran Connollys Fenster geworfen hatte. »Und wir wissen auch nicht, warum Connolly Rebecca Meredith hätte ermorden sollen«, fuhr er fort.

»Er ist Ruderer«, sagte Doug. »Er hätte gewusst, wie er ihr Boot zum Kentern bringen konnte.«

»Das schon.« Kincaid fuhr den Remenham Hill hinunter und sah vor sich schon die Lichter von Henley. »Aber was hilft es uns, wenn wir ihm die Gelegenheit nachweisen können, aber das Motiv fehlt? Ich bin jetzt gleich da. Ich rufe Sie an, sobald ich mehr weiß.« Er legte auf, und kurz darauf hatte er bereits das Stadtzentrum hinter sich gelassen. Er überprüfte noch einmal die Adresse, die Singla ihm gegeben hatte, und parkte den Wagen in der West Street, nicht weit von der Feuerwache.

Warmes Licht schien in den Bleiglasfenstern des kleinen Reihenhauses. Als er an der Tür klingelte, wurden die gedämpften Stimmen drinnen im Haus sofort von mehrstimmigem Gebell übertönt.

»Tosh, Finn, ruhig!«, befahl eine Frauenstimme. Kincaid erkannte sie wieder – es war die Leiterin des Suchteams, die er gestern kennengelernt hatte. Das Bellen verstummte, und die Tür ging auf.

»Superintendent Kincaid, nicht wahr?« Tavie Larssen sah ihn überrascht an. »Ich hatte mit DI Singla gerechnet.« Als Kincaid sie gestern gesehen hatte, war sie mit der dunklen SAR-Uniform bekleidet gewesen. Heute trug sie ihr Sanitäter-Outfit, das ebenfalls schwarz war. Die strenge, dunkle Kleidung stand ihr, dachte er; sie verlieh ihrer zierlichen Gestalt und ihren feinen Zügen eine gewisse Autorität.

»Er hat mich geschickt. Darf ich reinkommen?«

»Oh – natürlich.« Sie trat zurück und packte dabei einen schwarzen Labrador Retriever am Halsband. Connollys Hund – wie hieß er noch gleich? »Sie müssen entschuldigen, Finn ist nicht als Wohnungshund erzogen«, sagte Tavie und beantwortete damit seine unausgesprochene Frage.

Sie öffnete eine Dose, die auf einem Tischchen nahe der Tür stand, sah dem Labrador in die Augen und sagte: »Sitz!« Der Hund ließ sich sofort aufs Hinterteil plumpsen, und gleich darauf kam die Schäferhündin herbei und setzte sich neben ihn. Dann schnappten die beiden sich die Hundekuchen, die Tavie aus der Dose gefischt hatte, mit einem solchen Eifer, dass Kincaid um die Finger der Frau fürchtete. »Brave Hunde«, sagte sie. »Und jetzt macht schön Platz.«

Was sie auch taten.

Nachdem er nicht mehr von den Hunden abgelenkt war, konnte Kincaid sich auf Kieran Connolly konzentrieren, der in der anderen Ecke saß. Seine Stirn war verbunden, sein Gesicht mit Ruß und Blut verschmiert, das braune T-Shirt und die ebenfalls braune Cargohose wiesen dunklere Flecken auf. Er machte Anstalten aufzustehen, doch Kincaid winkte ab. »Bleiben Sie ruhig sitzen.«

»Bitte.« Tavie bedeutete Kincaid, auf dem Sofa Platz zu nehmen. »Ich mache uns erst mal Tee, ja?«, fragte sie ein wenig unsicher.

»Das wäre fantastisch.«

»Gut.« Sie lächelte ihn an und streifte dann Connolly mit einem leicht missbilligenden Blick, ehe sie nach nebenan in die Küche ging.

Durch die offene Tür konnte Kincaid einen cremefarbenen Emailherd sehen und auf zwei tiefen, hoch angebrachten Regalbrettern einen antiken Spiegel sowie einige hübsche Porzellanteller. In der Mitte der Küche stand auf einem schlichten Holztisch eine Vase mit einem Arrangement von buntem Herbstlaub und Beeren.

Tavie füllte einen alten Kessel mit Wasser, setzte ihn auf den Herd und begann, Becher auf ein Tablett zu stellen.

Kincaid wandte seine Aufmerksamkeit dem Wohnzimmer zu und fand es ebenso gemütlich und ansprechend wie die Küche. Er sah einen in hellen Blau- und Grüntönen gestrichenen Holzsessel, geschmückt mit einem roten Überwurf, und auf dem Boden daneben einen Stapel Bücher. Auf einem kleinen Tisch stand ein Globus, und auf breiten Borden, ähnlich denen in der Küche, waren ein paar ungerahmte Ölgemälde platziert. Der Boden war mit Sisalteppichen bedeckt, und in einem eisernen Kamin mit Kacheleinfassung brannte ein Gasfeuer. Tosh, die Schäferhündin, hatte es sich auf einer Häkeldecke mit Blumenmuster vor dem Kamin bequem gemacht, neben einem Weidenkorb, der von Hundespielzeug überquoll.

Es war eindeutig das Haus einer Singlefrau, dachte Kincaid, und es erinnerte ihn an die winzige Garagenwohnung, in der Gemma gelebt hatte, bevor sie zusammen in das Haus in Notting Hill gezogen waren.

Kieran saß da, in den kleinen Polstersessel gequetscht, und wirkte irgendwie fehl am Platz wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen – und genauso unglücklich. Finn hatte sich zu Füßen seines Herrn hingelegt.

Kincaid setzte sich vorsichtig auf das Sofa – er schien plötzlich selbst nicht so recht zu wissen, wo er mit seinen langen Beinen hinsollte. »Wie geht es Ihnen?«, fragte er Connolly, der darauf mit den Achseln zuckte.

»Ich werd’s überleben.« Er hob die Hand, als wollte er seine Wunde berühren, und ließ sie dann wieder sinken. »Tavie sagt, ich werde aussehen wie Harry Potter.«

»Das wäre vielleicht gar nicht so schlecht«, meinte Kincaid lächelnd, um die Situation etwas aufzulockern. »Können Sie mir sagen, was heute Abend passiert ist?«

Tavie kam ins Zimmer zurück, in der Hand ein Tablett mit einer Teekanne und Bechern mit blau-weißem Dekor in Form von Herzen und Sternen. Für diese ernsthafte Frau ein ziemlich verspielter Zug, dachte Kincaid.

»Ich hatte – Ich hatte mich ein bisschen hingelegt«, sagte Connolly. Der Blick, den er Tavie dabei zuwarf, verriet Kincaid, dass er hier irgendetwas nicht mitbekam. »Auf das Feldbett in meinem Schuppen. Ich repariere Boote, und ich schlafe auch in der Werkstatt. Es gibt nur das eine Zimmer.«

Kincaid ließ sich von Tavie einen Becher geben, nickte auf die Frage nach Milch und schüttelte bei Zucker den Kopf. Sie schenkte Kieran ein, ohne zu fragen – schwarz mit zwei Löffeln Zucker –, und setzte sich auf die Kante des bunt gestrichenen Sessels. »Fahren Sie fort«, forderte Kincaid Kieran auf.

»Ich hörte einen Knall. Und dann schlugen auch schon Flammen hoch. Im ersten Moment dachte ich –« Kieran umfasste seinen Becher mit beiden Händen. Der Tee schwappte fast über, so sehr zitterte er. »Es war wie im Irak –« Er hielt den Becher an die Lippen und nahm einen kleinen Schluck, was ihn ein wenig zu beruhigen schien. »Aber dann sah ich die brennende Flasche. Oder das, was davon übrig war. Es war eine Weinflasche – das konnte ich erkennen, weil das Stück mit dem Etikett heil geblieben war. Genau wie der Hals, in dem der brennende Lappen steckte.

Finn bellte wie verrückt und stieß mich an. Ich wusste, dass wir rausmussten. Wir kamen bis zur Tür. Und dann hörte ich plötzlich dieses Zischen und spürte einen Sog. Ich wusste, was es war – das Entweichen der Luft kurz vor einer Explosion. Ich habe Finn am Halsband gepackt und mich draußen auf den Rasen geworfen.«

Kieran schloss einen Moment die Augen, dann trank er den Rest aus seinem Teebecher, als sei er plötzlich furchtbar durstig. »Und das Nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, wie Tavie mich aufforderte aufzustehen.«

»So was in der Art«, bestätigte sie trocken, doch sie war blass im Gesicht. »Ich dachte wirklich, du wärst tot.« Sie schenkte Kieran nach und fuhr fort: »Nur gut, dass deine Nachbarn sofort den Rettungsdienst angerufen haben. Aber trotzdem musst du einige Minuten lang weg gewesen sein. Das war ein ziemlicher Schlag. Du musst dich röntgen lassen –«

Er bedachte sie mit einem Blick, der mehr als deutlich machte, dass sie ihn in diesem Punkt nicht würde umstimmen können. »Mir fehlt nichts. Bin nur noch ein bisschen wacklig auf den Beinen.«

Kincaid hielt Tavie seinen Becher hin, um sich auch nachschenken zu lassen, obwohl ihm nach der Kanne, die er zu Hause mit Gemma getrunken hatte, der Tee schon fast zu den Ohren herauskam. »Mr. Connolly, fällt Ihnen irgendein Grund ein, warum jemand Ihnen das angetan haben könnte?«

»Es – Es ist verrückt. Sie werden denken, ich spinne.«

»Nein, das werde ich nicht.« Kincaid beugte sich vor und setzte seinen Becher auf dem Knie ab. »Warum erzählen Sie es mir nicht einfach?«

Kieran blickte auf, sah Kincaid in die Augen und schien ihn zu taxieren. Was immer er da sah, es schien den Ausschlag zu Kincaids Gunsten zu geben. »Ich habe etwas gesehen. Am Montagabend, kurz bevor Becca auf den Fluss hinausgerudert ist. Und auch am Sonntag, um die gleiche Zeit.«

»Was soll das heißen, du hast etwas gesehen?«, fragte Tavie. »Davon hast du mir gar nichts gesagt.«

»Ich bin ja nicht dazu gekommen.« Er sah wieder Kincaid an. »Ich war laufen. Seit die Tage wieder kürzer sind, rudere ich morgens, und abends laufe ich. Sie wissen noch, wo wir das Filippi gefunden haben?«

Kincaid nickte. »Und Sie waren sehr aufgebracht. Sie sagten, Rebecca Meredith wäre niemals an einem so ruhigen Abend gekentert. Dazu sei sie eine zu gute Ruderin gewesen.«

»Niemand hat mir geglaubt.« Kierans Miene war finster.

»Doch, wir haben Ihnen geglaubt«, versicherte Kincaid ihm. »Und ich glaube Ihnen jetzt auch. War es dort, wo Sie etwas gesehen haben? Wo wir das Boot gefunden haben?«

»Nein. Aber da ist sie auch nicht ins Wasser gefallen.«

Kincaid rutschte ein Stück vor, und sein Puls ging schneller. »Woher wissen Sie das?«

»Weil ich weiß, wo sie reingefallen ist

»Was?«, rief Tavie. »Kieran, was redest du –«

Die Schäferhündin, die bisher friedlich am Kamin gelegen hatte, hob den Kopf und kommentierte den alarmierten Ton ihrer Herrin mit Gebell.

»Okay, okay.« Kincaid hob die Hand wie ein Verkehrspolizist. »Jetzt wollen wir mal alle ganz ruhig bleiben. Mr. Connolly, wie wär’s, wenn Sie noch mal ein Stück zurückgehen und ganz von vorne anfangen?«

Kieran rutschte in seinem Sessel hin und her und warf Tavie wieder einen nervösen Blick zu. »Also, ich weiß ja, dass das so klingt, als wäre ich ein Stalker oder so was, aber so war es nicht. Als ich Becca letzten Sommer kennengelernt habe, da bin ich immer abends gerudert – das hab ich Tavie erzählt. Aber in letzter Zeit bin ich immer mit meinem Skiff raus, sobald es morgens hell wurde. Und abends bin ich dann auf dem Uferpfad gelaufen, wenn ich wusste, dass Becca gerade ruderte. Das war praktisch, weil wir uns dann anschließend … treffen konnten.«

Tavie rückte auf der Stuhlkante vor. Als Kincaid zu ihr hinsah, drückte ihr fein geschnittenes Gesicht Missbilligung aus. Und, dachte Kincaid, möglicherweise Gekränktheit.

»Manchmal bin ich zu ihrem Cottage gegangen, nachdem sie das Skiff zum Leander zurückgebracht hatte.« Kierans Ton war herausfordernd, als hätte ihre wortlose Reaktion ihn gereizt. Dann seufzte er. »Aber die meiste Zeit wollte ich ihr einfach nur beim Rudern zusehen. Es war … wunderschön … Das können Sie sich nicht vorstellen.«

»Ich wünschte, ich hätte sie sehen können«, sagte Kincaid, und das stimmte auch.

Kieran nickte. »Ich war nie auch nur annähernd so gut, aber ich konnte erkennen, wenn sie Fehler machte, wenn sie sich falsche Bewegungsmuster angewöhnte. Ich war wohl so was wie ein inoffizieller Trainer. Aber … an diesem letzten Wochenende, da war sie … anders.« Er stockte, und seine Miene drückte wieder Unbehagen aus.

»Würden Sie gerne mit mir allein sprechen?«, fragte Kincaid, der sich fragte, ob Tavie vielleicht das Problem war.

Kieran zögerte einen Moment und sagte dann: »Nein. Nein, ich möchte, dass Tavie bleibt. Es ist bloß, dass … die Sache zwischen Becca und mir … Wenn ich versuche, es zu erklären, hört es sich … irgendwie komisch an. Aber so kam es uns nicht vor. Was wir zusammen gemacht haben, war eine Sache nur zwischen uns beiden.«

»Okay. Das verstehe ich«, versicherte Kincaid ihm. »Also, was war denn ungewöhnlich am letzten Wochenende?«

»Am Freitagabend habe ich sie nicht auf dem Fluss gesehen. Und am Samstagmorgen auch nicht, obwohl das normalerweise ihr Haupttrainingstag war. Also bin ich zum Cottage gegangen. Nur um zu schauen, ob mit ihr alles in Ordnung ist, verstehen Sie – ob sie nicht krank ist oder so. Der Nissan stand nicht in der Einfahrt. Ich dachte, sie wäre nicht zu Hause, und war ganz überrascht, als sie herauskam.«

Die Ecke von Kierans Verband verrutschte leicht nach unten, als er die Stirn runzelte. »Aber sie war – ich weiß nicht recht – angespannt. Mit den Gedanken woanders. Nicht« – er verzog den Mund – »erfreut, mich zu sehen. Sie sagte, sie sei am Abend zuvor mit dem Zug nach Hause gefahren, was sie noch nie getan hatte – nicht ein Mal, seit ich sie kannte.

Und als ich ihr dann anbot, sie nach London zu fahren, damit sie das Auto holen konnte, hat sie mich … ziemlich abblitzen lassen. Sie sagte, sie hätte zu tun.«

»Hat sie gesagt, was?«

»Nein. Ich bin einfach gegangen. Was hätte ich denn sonst tun sollen?« Kieran zuckte mit den Achseln. »Am Sonntagabend habe ich sie gesehen, da ist sie wieder gerudert, aber sie hat nicht mit mir gesprochen. Ich dachte – Ich dachte, ich hätte vielleicht irgendetwas falsch gemacht, sie irgendwie verärgert, aber ich konnte mir nicht vorstellen, womit. Und am Montag muss ich dann mit meinem Lauf ein bisschen früh dran gewesen sein, oder sie ist später als sonst vom Leander losgerudert, jedenfalls habe ich sie verpasst.«

Der Kummer verzerrte seine Züge. »Wäre ich bloß dort gewesen –« Er rieb sich mit der Hand über den Mund. »Ich hätte ihn vielleicht aufhalten können.«

»Wen aufhalten? Sie sagten, Sie hätten etwas gesehen. Wollen Sie etwa sagen, Sie haben jemanden gesehen?«

Kieran nickte. »Ich dachte, es wäre ein Angler. Am Buckinghamshire-Ufer, zwischen Temple Island und der letzten Wiese. Der Wald ist dort sehr dicht, aber es gibt da eine kleine grasbewachsene Lichtung zwischen dem Weg und dem Ufer. Er war am Sonntag dort, als Becca ruderte, und dann wieder am Montag um die gleiche Zeit. Als ich später darüber nachdachte, wurde mir bewusst, dass er gar nicht geangelt hatte, obwohl er Angelzeug dabeihatte. Es sah eher so aus, als ob er … wartete.

Also bin ich heute Nachmittag hingegangen, um nachzusehen. Da war ein Fußabdruck im Schlamm, und die Erde am Ufer sah aufgewühlt aus, als hätte ein Kampf stattgefunden. Becca muss an dieser Stelle dicht am Ufer gerudert sein, weil es flussaufwärts ging, und so spät, wie sie dran war, muss es fast völlig dunkel gewesen sein … Sie hätte ihn erst gesehen, als er direkt vor ihr war.«

»Wie tief ist der Fluss dort?«, fragte Kincaid.

»Nicht sehr tief. So nah am Ufer vielleicht einen halben bis einen Meter.«

»Dann glauben Sie also, dieser … Angler könnte durchs Wasser gewatet sein, um ihr Boot zum Kentern zu bringen?«

»Dazu müsste er gewusst haben, wie das geht.«

»Ah.« Kincaid lehnte sich auf dem Sofa zurück, plötzlich niedergedrückt vom Gedanken an Rebecca Meredith’ Schicksal. Kierans Geschichte klang plausibel, wenn man sie mit dem kombinierte, was sie bereits in Erfahrung gebracht hatten. »Ich kann mir vorstellen, dass es so war. Wir haben nämlich Spuren gefunden, sowohl an der Leiche als auch am Boot. Wie es aussieht, wurde sie mit ihrem eigenen Ruder unter Wasser gehalten.«

»O Gott.« Kierans Gesicht wurde fast so weiß wie der Mullverband auf seiner Stirn. »Ich dachte – Ich dachte schon, ich hätte Wahnvorstellungen.« Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Warum? Warum sollte ihr jemand das antun?«

»Ich hatte gehofft, Sie könnten mir das sagen.«

Kieran schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Becca war – sie konnte ziemlich schroff sein, wissen Sie? Sie musste in ihrem Job manchmal unangenehme Entscheidungen treffen, und Ruderer können hart sein, wenn es darauf ankommt. Aber sie hätte nie einen Menschen bewusst verletzt.«

»Was ist mit ihrer Konkurrenz? Kann es sein, dass jemand sie so unbedingt ausschalten wollte?«

»O nein.« Kieran klang entsetzt. »Nicht die Mädels vom Leander. Ich kenne sie – die sind echt in Ordnung. Ich habe ihre Boote repariert. Und außerdem glaube ich nicht, dass irgendjemand wirklich wusste, welche Bedeutung die Olympiateilnahme für Becca hatte und wie gut sie war. Das ist ein Grund, weshalb sie abends gerudert ist, und samstags hat sie sich immer flussabwärts gehalten, abseits der normalen Trainingsstrecke der Mannschaft. Sie wollte nicht, dass die Leute ihre Zeit stoppten.«

»Milo Jachym wusste Bescheid.«

»Sie haben mit Milo gesprochen?« Kieran wirkte überrascht, doch dann nickte er, während er darüber nachdachte. »Ja, Milo wusste Bescheid. Aber er hat sie ja auch trainiert, und sie waren befreundet. Er ist in Ordnung.«

Kincaid behielt sich sein Urteil vor. Milo machte durchaus einen sympathischen Eindruck, und sowohl seine Trauer um Becca als auch seine Sorge um Freddie hatten echt gewirkt. Aber wie oft würde Milo noch die Chance haben, eines seiner Frauenteams zu einer Olympiateilnahme zu führen? Hinzu kam, dass Rebecca Meredith keinen Argwohn geschöpft hätte, wenn er ihr vom Ufer aus zugerufen hätte – und er wusste ja wohl, wie man ein Ruderboot zum Kentern brachte.

Tavie, die die ganze Zeit auf der Kante ihres Stuhls gehockt und sich sichtlich beherrscht hatte, um Kieran nicht zu unterbrechen, stand auf und ging zu ihrem Esstisch. Dort durchwühlte sie einen Stapel Papiere und sagte dabei: »Kieran, diese Stelle, von der du sprichst – die ist flussaufwärts von Temple Island, nicht wahr?«

»Ja, es ist –«

Tavie hielt ein Blatt hoch. »Ich weiß genau, wo es ist. Das Team, das diesen Sektor abgesucht hat, es waren Rafe und Andrea, hatte dort eine schwache Anzeige registriert. Es steht im Protokoll.«

»Was meinen Sie mit ›schwache Anzeige‹?«, fragte Kincaid.

»Die Hunde haben Interesse bekundet, schienen aber verwirrt und sind weitergelaufen. Wir protokollieren jedes Anzeigeverhalten – manchmal ergibt sich daraus ein Muster, das uns hilft, einen Vermissten zu finden. Aber das hier war ein isoliertes Vorkommnis.«

Kincaid runzelte die Stirn. »Könnten die Hunde Rebeccas Geruch dort aufgenommen haben, obwohl sie gar nicht an Land gegangen ist?«

»Möglich ist es. Und er – der Angler, den Kieran gesehen hat – könnte den Geruch an seinen Kleidern oder seiner Ausrüstung gehabt haben.«

»Sie haben Beccas Geruch von dem Filippi aufgenommen«, sagte Kieran, »und das lag im Wasser.«

»Stimmt.« Kincaid erinnerte sich daran, wie oft er Geordie, ihren Cockerspaniel, im Park hatte herumrennen sehen, mit fliegenden Ohren, die Nase dicht über dem Boden, und wie er ihn bisweilen um diese vielfältige Sinnenwelt beneidete, die jenseits seiner Wahrnehmung lag. »Kann ich mir Kopien von Ihrem Protokoll und Ihren Karten machen? Ich lasse Ihnen die Originale so schnell wie möglich wiederbringen.«

Als Tavie nickte, wandte er sich wieder zu Kieran. »Sie haben diesen Angler vom anderen Ufer aus gesehen. Würden Sie ihn wiedererkennen?«

»Es war an beiden Tagen schon fast dunkel, und er trug eine Mütze, sodass sein Gesicht im Schatten war. Das Einzige, was ich beschwören könnte, ist, dass es ein Mann war.«

»Nicht vielleicht eine große Frau?«

Kieran dachte einen Moment nach. »Nein. Die Figur passte nicht zu einer Frau. Zu breite Schultern. Und etwas an der Art, wie er dastand … mit gespreizten Beinen.«

»Okay, gehen wir einmal davon aus. Aber es bleibt noch eine andere große Frage. Wenn wir annehmen, dass es derselbe Mann war, der den Anschlag auf Sie verübt hat, woher wusste er dann, wer Sie sind und wo Sie wohnen? Kann es sein, dass er Sie erkannt hat und fürchtete, Sie hätten ihn ebenfalls erkannt?«

»Ich – ich weiß es nicht. Ich laufe fast jeden Tag, und ich denke, die Leute hier in der Gegend wissen, wer ich bin, aber – da ist noch etwas anderes. Heute Nachmittag, als ich die kleine Lichtung entdeckte, da hätte ich schwören können, dass jemand mich beobachtete. Wie Blicke, die sich einem zwischen die Schulterblätter bohren – Sie kennen vielleicht das Gefühl.«

»Sie glauben, er hat Sie dort gesehen?«

»Ich dachte, ich hätte mir das alles nur eingebildet. Aber es kann schon sein.« Ein leichter Schauder ließ Kierans Körper erzittern. Finn hob den Kopf, und Kieran streichelte seinen Hund, als wollte er sich und ihn damit beruhigen.

»Hätte er Ihnen heute folgen können?«, fragte Kincaid.

»Ich glaube, ich hätte es gesehen, wenn hinter mir jemand die Wiese überquert hätte, selbst in der Dämmerung.« Kieran hielt inne und überlegte. »Aber er dürfte gewusst haben, dass der Fußweg die Marlow Road kreuzt. Wenn er eine Abkürzung zurück zur Straße gegangen und dort in ein Auto gestiegen ist, könnte er mich gesehen haben, als ich nach Henley zurückging …«

»Sie und Finn kann man nicht so leicht übersehen«, pflichtete Kincaid ihm bei. »Was ist mit dem Feuer heute Abend – haben Sie da irgendetwas gehört oder gesehen?«

Kierans Augen weiteten sich. »Das hatte ich ganz vergessen«, sagte er. »Da war so ein Plätschern. Finn hat es, glaube ich, auch gehört. Es könnte ein Ruder gewesen sein.«

»Sie denken also, dass der Brandstifter mit dem Boot gekommen ist?«

»Es ist schließlich eine Insel. Und wenn er ein Stück weiter flussaufwärts oder flussabwärts an Land gegangen ist, muss er wohl durch die Nachbargärten gegangen sein, um auf mein Grundstück zu gelangen, und hinterher auf demselben Weg zurück. Die Grundstücke sind sehr klein, und er wäre ein hohes Risiko eingegangen, gesehen zu werden.« Kierans Miene wurde hart. »Deshalb vermute ich, dass er den verdammten Molli einfach auf gut Glück vom Boot aus geworfen hat. Dieser Mistkerl.«

Kincaid dachte an die zahllosen Boote, die zu beiden Seiten der Henley Bridge festgemacht hatten, und er stöhnte innerlich auf. Es wäre für den Täter ein Leichtes gewesen, ein Boot von einem der verschiedenen Bootsverleihe zu entwenden. Die Uniformierten würden ihre liebe Mühe haben, die Spur eines vorübergehend vermissten Bootes nachzuverfolgen.

Er stand auf. Es gab jetzt einiges in die Wege zu leiten. »Das Team von der Brandermittlung wird sich Ihren Schuppen vornehmen, sobald es hell wird, Mr. Connolly. Wir werden sehen, was sie herausfinden. Inzwischen halte ich es auf jeden Fall für das Beste, wenn Sie hierbleiben.

Ms. Larssen, ich werde einen uniformierten Beamten mit der Karte und dem Protokoll vorbeischicken. Ich will, dass die Stelle von einem Posten bewacht wird, bis wir morgen früh die Spurensicherung hinschicken können.«

Kieran hievte sich ein wenig schwankend aus dem Sessel hoch. Beide Hunde sprangen ebenfalls auf und hechelten leise in Erwartung neuer Aktivitäten.

»Danke«, sagte Kieran schlicht.

»Ich sollte Ihnen danken. Ihnen beiden.« Mit einem flüchtigen Lächeln bezog er Tavie ein, um sich dann wieder an Kieran zu wenden. »Aber etwas verstehe ich nicht. Warum haben Sie uns nicht gestern, als wir das Filippi fanden, schon gesagt, dass Sie ein Verhältnis mit Rebecca Meredith hatten?«

»Ich – Ich habe – Mein einziger Gedanke war wahrscheinlich, zu tun, was sie gewollt hätte. Und sie wollte nicht, dass irgendjemand von uns erfuhr.«

»Warum nicht? Sie waren doch beide erwachsen und ungebunden.«

»Ich dachte immer, es läge daran, dass sie sich mit mir geschämt hat.« Kieran sah an seinen mit Blut und Ruß verschmierten Kleidern hinunter. »Selbst zu den besten Zeiten bin ich nicht gerade jemand, den man bei Firmenfeiern vorstellen oder zum Weihnachtsessen mit Freunden mitnehmen kann.«

»Hätte ihr Exmann ein Problem mit Ihrer Beziehung gehabt?«

Kieran überlegte. »Das glaube ich nicht. Ich hatte zumindest den Eindruck, dass sie ein freundschaftliches Verhältnis hatten. Aber einmal, als wir uns gestritten haben – soweit man mit Becca überhaupt streiten konnte, weil sie immer sofort dichtgemacht hat –, da hat sie gesagt, es dürfte niemand mitbekommen, dass sie eine … eine Beziehung mit irgendwem hat.«

Aus der Art, wie Kieran errötete und zu Tavie schielte, schloss Kincaid, dass dies vermutlich nicht die genauen Worte waren, die Becca benutzt hatte. »Warum nicht?«, fragte er.

»Sie sagte, sie könne nicht riskieren, dass es gegen sie verwendet würde.«