11
Eines der Boote, das Harry ausgeliehen hatte, war ein ausnehmend schöner Doppelzweier mit Holzrumpf, der Gail Cromwell gehörte, der Witwe des berühmten Skullers Sy Cromwell, der 1977 an Krebs gestorben war. Gails Boot war das schönste von allen auf dem Anhänger … Der Cromwell-Doppelzweier hatte – zumindest nach Gails Auffassung – immer noch Chancen, eine olympische Goldmedaille zu gewinnen.
Brad Alan Lewis, Assault on Lake Casitas
»Lamm.« Ian schwenkte die Papiertüte unter Tavies Nase. »Schafbaby. Määh. Da lacht das Vegetarierherz.« Die Tüte war voll mit Dönerkebab vom Imbiss gegenüber dem Polizeirevier, und der Duft von gebratenem Lammfleisch breitete sich im Pausenraum der Feuerwache aus.
»Wenn du nicht aufpasst, stehen sie gleich alle auf der Matte.« Sie deutete mit dem Kopf zur Fahrzeughalle, wo der Brandmeister gerade mit der Mannschaft eine Übung abhielt. Ian, der heute Abend zusammen mit ihr im Notarzt-Einsatzwagen eingeteilt war – dem Rapid Response Vehicle oder RRV, wie es offiziell hieß –, neckte sie gerne wegen ihrer vegetarischen Lebensweise.
Als die Mannschaft gegessen hatte, waren sie gerade zu einer älteren Dame gerufen worden, die gestürzt war. Deshalb hatte Ian sich erboten, für sie beide etwas vom Imbiss zu holen.
Das gab ihm wieder eine Gelegenheit, sie aufzuziehen, denn er wusste ganz genau, dass Tavie beim Duft von gebratenem Fleisch noch immer das Wasser im Mund zusammenlief, obwohl sie sich schon seit ihrer Teenagerzeit vegetarisch ernährte.
Sie vermutete, dass diese Reaktion vielleicht genetisch bedingt war, schon vor Urzeiten in die DNS ihrer nordischen Ahnen eingeschrieben, für die als Jäger und Sammler der Geruch von Fleisch, das über dem Feuer briet, den Unterschied zwischen Überleben und Verhungern bedeutet hatte.
»Hast du mir Hummus mitgebracht? Und Falafel?«, fragte sie.
»Selbstverständlich, stets zu Diensten.« Ian holte eine zweite Tüte hinter dem Rücken hervor und stellte sie auf den Tisch. Dann zog er sich einen der harten Plastikstühle heraus, setzte sich und öffnete seine Tüte.
»Ian, du bist wirklich eine rühmliche Ausnahme unter deinen Geschlechtsgenossen.« Tavie spähte in ihre Tüte und schnupperte. Eine warme Pita-Tasche umhüllte knusprige Falafel-Kugeln, eine großzügige Portion Hummus und einen Klacks leuchtend grüne Koriander-Chili-Sauce, garniert mit Salatblättern, Gurkenscheiben und Tomatenstücken. Das Ganze war nahezu unmöglich zu essen, ohne sich zu bekleckern, aber es duftete himmlisch. Es hatte durchaus auch seine Vorzüge, ein Veggie zu sein.
Sie machte Anstalten, die Tüte auf den Tisch zu legen, rümpfte aber angewidert die Nase, als sie die braunen Flecken und unidentifizierbaren Krümel sah, mit denen die Tischplatte übersät war. »Was haben die denn hier gegessen? Und wer hat saubergemacht?«
»Chili con Carne, glaub ich«, antwortete Ian, den Mund voll Kebab. »Und der Neue hatte Küchendienst.«
Tavie riss ein Blatt von der Küchenrolle ab, die neben der Spüle stand, und wischte eine Stelle auf dem Tisch sauber, gerade groß genug, um ihre Tüte ablegen zu können. »Also, dieser Bonzo oder Bozo oder wie er heißt, der kriegt es aber mit mir zu tun, sobald der Chef mit ihm fertig ist. Das ist ja ekelhaft.«
»Er heißt Brad, Tav.« Ian fischte noch ein paar Fleischstückchen aus den Tiefen seiner Tüte. »Und er scheint ein ganz netter Bursche zu sein.«
»Na klar. Er erinnert mich an meinen Ex. Sehr nett.« Sie warf einen finsteren Blick in Richtung Fahrzeughalle.
Ian grinste. »Du bist heute in Lästerlaune.«
»Und du bist ein totaler Softie«, erwiderte sie, doch sie lächelte, als sie sich an den Tisch setzte. Sie arbeitete gerne mit Ian zusammen. Er war ein guter Sanitäter, er lernte fleißig, um sich beruflich weiterzubilden, und er hatte kein Problem damit, dass sie die höhere Qualifikation besaß.
In ihrem Job hatten sie mit allem Möglichen zu tun, von kranken und verwirrten Senioren über schwere Verkehrsunfälle, Herzinfarkte und Schlaganfälle bis hin zu dem einen oder anderen durchgeknallten Verschwörungstheoretiker.
Ian war sowohl entschlussfreudig als auch geduldig und damit auf beide Extreme des Jobs gut vorbereitet. Er hatte eine Frau und zwei entzückende Kinder, und Tavie fand, dass er mit seiner vernünftigen, kompetenten Art eine gute Ergänzung des SAR-Teams sein könnte.
Andererseits durfte sie nicht vergessen, dass sie auch geglaubt hatte, Kieran wäre eine gute Ergänzung für das Team, und das hatte ja wohl nicht so optimal funktioniert.
Ihre gute Laune verflog, ebenso wie ihr Appetit. Immer wieder sah sie Kierans Gesicht vor sich, als sie ihm gestern Abend heftige Vorwürfe gemacht hatte. Die Verzweiflung hatte ihm im Gesicht gestanden, als er sich von ihr abgewandt hatte, und sie hätte alles getan, um ihre Worte zurücknehmen zu können.
Sie hatte eine schlaflose Nacht verbracht, hatte hin und her überlegt, ob sie ihn anrufen sollte, um sich zu vergewissern, dass er okay war, und war schließlich am Morgen vollkommen übernächtigt zum Dienst gegangen. Den ganzen Tag über war immer so viel los gewesen, dass sie keine Gelegenheit gehabt hatte, ihn anzurufen, bis jetzt – wenn sie denn gewusst hätte, was sie sagen sollte.
»Iss auf«, drängte Ian und beäugte die Falafel, die sie nicht angerührt hatte. »Sonst ess ich’s dir noch weg. Mir schmecken die Dinger nämlich auch.«
»Finger weg«, sagte Tavie, doch ihr Ton verriet, dass sie mit den Gedanken nicht bei der Sache war. Sie griff nach der Tüte, legte sie aber gleich wieder hin. Plötzlich musste sie gegen das Bedürfnis ankämpfen, sich jemandem anzuvertrauen, auch wenn ihr klar war, dass sie keine Details über die Suchaktion oder das, was danach passiert war, preisgeben durfte. »Sag mal, Ian, wenn du einem Freund etwas Gemeines an den Kopf geworfen hättest – eigentlich nur die Wahrheit, aber trotzdem gemein –, wie würdest du dich entschuldigen?«
»Ich würde ihm einen ausgeben.«
Sie verdrehte die Augen. »Na ja, das ist in dem Fall vielleicht nicht gerade die ideale Lösung, angesichts der Tatsache, dass ich ihn unter anderem wegen seiner Trinkerei zusammengestaucht habe.«
Ian wurde neugierig. »Vor dem Magoos, stimmt’s? Dieser verrückte Kerl, der Boote repariert?«
»Was – Woher hast du –« O verdammt! Sie hätte es sich denken können, dass jedes Wort, das sie sagte, mitgehört würde, und dass es sich binnen Stunden in der ganzen Stadt herumsprechen würde. »Er ist nicht verrückt«, protestierte sie. »Er war als Sanitätssoldat im Irak.«
»Scheiße.« Ians sonst so heitere Miene wurde schlagartig ernst. »Posttraumatische Belastungsstörung?«
»Ich glaube, ja. Und eine Kopfverletzung. Aber er redet nie darüber.« Sie zögerte und fuhr dann mit spürbarem Unbehagen fort: »Ich habe ein paar – na ja, Nachforschungen über ihn angestellt, ehe ich ihn gefragt habe, ob er beim Such- und Rettungsdienst mitmachen wolle.« Sie schämte sich, es zu gestehen, auch wenn sie berechtigte Gründe für ihre Schnüffelei gehabt hatte. »Er hat seine gesamte Einheit verloren, als sie in eine Sprengfalle geraten sind.«
»Der arme Kerl.« Ian schüttelte den Kopf. »Was hat er denn Schlimmes getan, dass er diesen Anschiss von dir verdient hat? Ich habe gehört, ihr wärt gestern zu einer Vermisstensuche gerufen worden.«
Natürlich hatte er das gehört. »Hör mal, Ian, ich hätte dir das eigentlich gar nicht erzählen –«
Der Feueralarm übertönte ihre Worte.
»Hättest du mal besser deine Falafel aufgegessen«, sagte Ian, während er sich den letzten Bissen Kebab in den Mund stopfte. »Kann man schlecht in der Mikrowelle aufwärmen – da wird der Salat ganz welk –«
»Schsch!« Tavie hob die Hand. Die Stimme des Einsatzkoordinators wurde vom Dröhnen der Motoren in der Fahrzeughalle fast übertönt, doch zwischen den Rufen der Crew, die bereits ihre Ausrüstung fertig machte, hatte sie zwei Worte ausmachen können: Feuer und Insel. O Gott, doch hoffentlich nicht – Aus ihrem Funkgerät tönte das Rufsignal für den Notarztwagen.
»RRV bitte – möglicherweise Verletzte«, sagte der Einsatzkoordinator. »Scheint eine Explosion gegeben zu haben – ein Hausbrand auf der Insel gegenüber von Mill Meadows.«
Tavie sprintete zum Wagen.
Sie bog mit dem Volvo schon auf die Straße, ehe das Löschfahrzeug die Halle verlassen hatte, und jagte den Motor hoch, dass die Reifen kreischten und Ian, den als Beifahrer sonst so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte, sich mit einer Hand am Armaturenbrett festhielt, während er mit der anderen hektisch nach dem Sicherheitsgurt griff. Mit Blaulicht und Sirenengeheul schossen sie die West Street hinunter und weiter über den Marktplatz. Tavie hörte, wie hinter ihnen das Löschfahrzeug ebenfalls die Sirene einschaltete, und bald sahen sie auch das flackernde Blaulicht im Rückspiegel des Volvo.
»Los, Beeilung, verdammt noch mal«, flüsterte sie, eine Ermahnung, die an sie selbst ebenso wie an die Mannschaft hinter ihr gerichtet schien.
»Was ist denn in dich gefahren, Tav?«, stieß Ian mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Willst du uns alle umbringen?«
»Ich fürchte –« Mehr brachte sie nicht heraus. »Lass mich nur machen. Das Löschfahrzeug muss den Umweg über den Parkplatz vom Rudermuseum nehmen, aber so kommen wir näher heran.« An der Thames Side fuhr sie über die rote Ampel und bog so scharf ab, dass sie fast die Ecke des Angel mitgenommen hätten. Am Ende der Straße lenkte sie den Wagen geradewegs durch die Lücke zwischen den Pollern hindurch auf den gepflasterten Fußweg, der zwischen dem Fluss und den Mill Meadows verlief. Falls hier nach Einbruch der Dunkelheit noch irgendwelche Spaziergänger unterwegs waren, würden sie verdammt noch mal aufpassen müssen.
Zur Rechten flogen im Scheinwerferlicht Parkbänke und Abfalleimer vorüber, während sich zur Linken parallel zum Weg das dunkle Band des Flusses dahinzog. Ein Rascheln und Kratzen war zu hören, als Weidenzweige das Dach des Volvo streiften. Jenseits der Wasserfläche funkelten vereinzelte Lichter in den Fenstern der Häuser und Cottages auf der Insel.
Und dann, nachdem sie eine weitere Weide passiert hatten, sah sie es.
Chaos. Absolutes Chaos. Direkt vor ihnen loderte ein Flammenmeer, und Funken flogen in den Himmel auf. Es sah aus, als ob der Fluss selbst brannte.
Aber es war nicht der Fluss, es war Kierans Bootsschuppen. Tief im Innersten hatte sie es schon geahnt, und jetzt war sie sich sicher. Sie erkannte die Flussbiegung wieder, die Cottages, die sich links an seinen Schuppen anschlossen.
Dunkle Schatten bewegten sich vor dem grellorangefarbenen Hintergrund. Als sie nach ihrer Einschätzung die Stelle am Ufer erreicht hatten, die dem Schuppen direkt gegenüberlag, lenkte sie den Wagen aufs Gras und sprang hinaus, ihre Tasche in der Hand. In der Stille, die auf das Sirenengeheul des Volvo folgte, konnte sie jenseits des Flusses Rufe vernehmen, doch das Sirenengeräusch des Löschzugs war noch weit weg.
Ian ging um den Wagen herum und blieb neben ihr stehen. »Ach du Scheiße. Wie sollen wir da rüberkommen?« Ein paar Meter weiter flussabwärts war ein Hausboot festgemacht, doch es war dunkel, und offenbar war niemand an Bord. »Und die Kollegen werden ihre liebe Mühe haben, vom Museum hierherzugelangen«, fügte Ian hinzu. Vom Löschfahrzeug war noch nichts zu sehen.
Eine der dunklen Gestalten hatte sie entdeckt und begann aufgeregt zu winken. »He!«, rief der Mann. »Können Sie uns helfen? Wo bleibt denn die Feuerwehr?«
»Ist im Anmarsch. Wir sind die Sanitäter«, rief Tavie zurück. »Kommen Sie mit dem Boot rüber. Gegen das Feuer können Sie sowieso nichts ausrichten, solange der Löschzug nicht hier ist.« Sie konnte ein kleines Ruderboot sehen, es war noch am Anleger festgemacht.
Sie sah, wie der Mann einen Moment zögerte, dann band er das Boot los, sprang hinein und ruderte rasch zu ihnen herüber, wobei er das Boot sehr routiniert handhabte.
»Ich weiß nicht, was passiert ist«, sagte er, als er bei ihnen anlangte und das Boot ans Ufer manövrierte. »Ich wohne nebenan. Meine Frau und ich haben gerade ferngesehen. Plötzlich gab es einen gewaltigen Knall, und dann brach hier die Hölle los.«
Boote waren nicht Tavies Stärke. Vorsichtig stieg sie hinein, gefolgt von Ian, der sich etwas sicherer bewegte, und dann stieß der Mann das Boot ab.
»Haben Sie – ist Kieran – gibt es Verletzte?«, fragte Tavie. Man hatte ihr schon den Spitznamen die Eisprinzessin gegeben, weil sie normalerweise am Einsatzort die Ruhe selbst war, aber jetzt schlug ihr Herz so heftig, dass es ihren Brustkorb zu sprengen schien. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Kieran sich genau so gefühlt haben musste, als sie nach Rebecca Meredith suchten – und seine schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Vor Angst krampfte sich ihr Magen zusammen.
»Du kennst den, der da wohnt?« Im flackernden Licht sah sie die Bestürzung in Ians Zügen. »Sag bloß, das ist der Typ –«
Sie antwortete nicht, sondern wandte sich an den Ruderer. »Bitte – wie heißen Sie?«
»John.«
»John, ist jemand verletzt?«
»Ich weiß es nicht. Wir konnten nicht nahe genug heran.« Ein lautes Krachen war zu hören, und noch mehr Funken schossen in die Höhe. »Mist«, stieß John hervor und zog die Ruder mit vermehrter Kraft durchs Wasser, sodass der Bug des kleinen Boots sich hob. »Meine Frau – wir müssen die Leute von der Insel wegbringen. Wo bleibt denn die verdammte Feuerwehr?«
Als Tavie sich umschaute, sah sie blaue Lichter, die sich langsam dem Ufer näherten. »Sie kommen. Sie müssen durch den Park fahren.«
»Wenn sie nicht bald hier sind, ist nichts mehr übrig.«
Tavie konnte die Hitze spüren, als sie sich dem Anleger näherten. Sobald das Boot anstieß, kletterte sie hinaus und hätte fast das Gleichgewicht verloren. Jetzt konnte sie eine Frau sehen, die vor der Tür des benachbarten Cottage stand.
»John!«, rief die Frau. »Kommt die Feuerwehr? Es kann jeden Moment alles in die Luft –«
»Aus dem Weg, Janet!« John machte das Boot an einem Poller fest und stieg an Land, gefolgt von Ian und beide rannten Tavie hinterher. Er winkte die Frau zu der offenen Fläche rechts von ihrem Cottage.
Tavie blickte sich um. Das Löschfahrzeug hielt jetzt parallel zum Flussufer. Bald würden sie zu pumpen beginnen.
»Gehen Sie, alle beide«, rief sie dem Paar zu. Dann verschwendete sie keinen Gedanken mehr an sie und lief auf die Flammen zu.
»Tav, bist du wahnsinnig?«
Sie hörte Ians Worte, doch sie schienen nichts mit ihr zu tun zu haben.
Jetzt war sie so nahe, dass die Hitze ihr das Gesicht versengte. Es waren nur wenige Meter vom Anleger bis zum Schuppen. Da entdeckte sie eine dunkle Silhouette, und das schrille Winseln eines Hundes drang durch das Prasseln des Feuers.
»Finn! Finn!«
Der Hund bellte, kam aber nicht auf sie zu. Als sie noch ein paar Schritte weiterging und ihr Gesicht mit dem Arm abschirmte, sah sie, warum. Er wollte seinen Herrn nicht allein lassen.
Kieran lag auf dem Bauch, die Beine gespreizt, die Arme unter dem Körper, als ob er gefallen wäre, ohne zu versuchen, den Sturz abzufangen.
Tavie spulte jetzt automatisch ab, was sie in der Ausbildung gelernt hatte. Sie zog die Taschenlampe aus dem Gürtel und lief die letzten paar Schritte. Hinter ihr murmelte Ian: »Du bist verrückt, du bist vollkommen verrückt«, doch er folgte ihr auf dem Fuß.
Sie kniete sich hin und ließ den Strahl der Taschenlampe über Kierans hingestreckten Körper streichen. Finn winselte und versuchte ihr Gesicht zu lecken. »Es ist okay, Junge, es ist alles okay«, sagte sie. »Schön ruhig. Sitz! Braver Junge.« Der Hund setzte sich, doch er zitterte vor Stress. Im Lampenschein blitzte das Weiße in seinen Augen auf.
Tavie legte eine Hand auf Kierans Schulter und war erleichtert, als er mit einer schwachen Bewegung reagierte. Er stöhnte.
»Kieran, ich bin’s. Kannst du dich umdrehen? Kannst du dich bewegen?«
Er stöhnte wieder und wälzte sich zu ihr herum. »Ich musste – Ich musste Finn –«
»Nicht reden.« Sie leuchtete sein Gesicht an, und für einen entsetzlichen Moment glaubte sie, eine Hälfte sei schwarz verkohlt. Dann spürte sie die Feuchtigkeit, sah das Schimmern des Bluts auf der Hand, die sie auf seine Schulter gelegt hatte.
»Mein Kopf.« Er griff sich an den Schädel. »Da ist etwas heruntergekommen –«
»Wir müssen dich hier wegbringen. Kannst du aufstehen?« Sie schob einen Arm unter seine Schulter, während Ian ihn auf der anderen Seite fasste.
Sie hoben ihn auf die Füße, doch plötzlich wand er sich von ihnen los. »Das Boot –«
»Deinem Boot ist nichts passiert –«
»Nein, das Boot. Das Skiff, das ich baue –« Er wankte auf einen langen, schmalen Gegenstand zu, der mit einer Plane verhüllt war. »Es darf nicht verbrennen. Ihr Boot –«
Über das Wasser hallten Rufe und das Tuckern einer Dieselpumpe. Tavie erkannte die Stimme des Brandmeisters. »Räumen Sie das Gelände, räumen Sie das Gelände!«, rief er. Die Wucht des Wasserstrahls aus dem großen Rohr könnte sie ernsthaft verletzen – ganz zu schweigen davon, was passieren würde, wenn der Schuppen in die Luft flog, ehe sie das Feuer unter Kontrolle hatten. Schaudernd dachte sie an die Lösungsmittel, die Kieran bei seinen Bootsreparaturen verwendete.
»Komm, Kieran.« Sie und Ian packten ihn wieder und hoben ihn halb hoch, um ihn fortzuschleifen. So setzten sie schwankend einen Fuß vor den anderen wie eine menschliche Raupe. Finn lief ein paar Schritte voraus, blickte sich um und jaulte. »Wir müssen Finn hier wegbringen, okay? Du schaffst das schon.«
Kieran drehte sich zu ihr um. Sein Gesicht war halb mit Blut verschmiert, doch zum ersten Mal sah sie an seinen Augen, dass er sie erkannt hatte. Erleichterung erfasste sie.
»Tavie?«, sagte er. »Tavie, jemand hat einen Molotowcocktail durch mein Fenster geworfen.« Er klang mehr verblüfft als erzürnt. »Irgend so ein Schwein hat versucht, mich in die Luft zu jagen.«
Gemma saß am Küchentisch vor ihrem vergessenen Tee, und der Kopf schwirrte ihr vor Entsetzen über das, was sie soeben erfahren hatte. Hatte sie sich die Kälte in Angus Craigs Augen nur eingebildet, als er an jenem Abend Toby und ihre Mutter erblickt hatte? Sie glaubte es nicht. Wie knapp war sie dem Unvorstellbaren entgangen?
Kincaid saß ihr gegenüber, seine Miene starr vor Zorn. »Ich hätte ihn umgebracht. Ich hätte ihn umgebracht, wenn er dich auch nur angerührt hätte.«
Sein Ton ließ sie unwillkürlich erzittern. So hatte sie ihn erst ganz wenige Male erlebt, so eiskalt und unversöhnlich. Und dann hatten sie es mit Mördern zu tun gehabt.
»Du hast mich damals ja noch nicht gekannt«, sagte sie.
»Das hätte keine Rolle gespielt, wenn ich es herausgefunden hätte.«
Hätte sie es ihm erzählt?, fragte sie sich.
Und was hätte sie damals getan, wenn Angus Craig sie tatsächlich vergewaltigt und ihr dann mit dem Verlust ihres Jobs gedroht hätte? Sie hatte ein Kind durchbringen müssen, und das ohne jegliche Unterstützung von ihrem zahlungsunwilligen Exmann. Und ihre Arbeit war ihr ungeheuer wichtig gewesen – ihr sehnlichster Wunsch war es, sich zu beweisen und bei der Met voranzukommen.
Aber alles, was Peter Gaskill zu Rebecca Meredith gesagt hatte, hätte auch für Gemma gegolten. Sie war gesehen worden, wie sie mit Craig das Lokal verließ. Hätte er behauptet, der Sex sei einvernehmlich gewesen und sie habe es sich erst hinterher anders überlegt, sie hätte nicht das Gegenteil beweisen können.
Und wenn es wirklich zu einem Prozess gekommen wäre, was äußerst unwahrscheinlich war, dann hätten Craigs Anwälte ihren Ruf gründlichst zerstört. Zu oft schon hatte sie erlebt, was Strafverteidiger Frauen antun konnten, die eine Vergewaltigung zur Anzeige gebracht hatten. Selbst Blutergüsse und Risse im Vaginalbereich konnten damit erklärt werden, dass die Frau es eben etwas härter mochte. Und wenn eine solche Vorstellung sich erst einmal in den Köpfen festgesetzt hatte, spielte die Wahrheit keine Rolle mehr.
Nach einem solchen Vorfall hätte die Met sie zwar nicht unbedingt entlassen können, dennoch wäre sie auf jeden Fall stigmatisiert gewesen.
Rebecca Meredith hatte einen höheren Rang und mehr Einfluss gehabt, aber selbst das hatte ihr nicht geholfen.
Kincaids eindringliche Stimme brachte sie in die Gegenwart zurück. »Gemma, bist du sicher, dass er dich nicht –«
»Nein, nein, er hat mich gar nicht angerührt. Aber – ich frage mich – Was, wenn Rebeccas Ex wusste, was passiert war? Oder wenn er es irgendwie herausgefunden hatte? Hätte er dann nicht ähnlich empfunden wie du?«
»Vielleicht. Er schien sehr um sie besorgt.« Kincaid schüttelte den Kopf. »Aber dann wäre es doch Craig gewesen, den er umgebracht hätte, nicht seine Exfrau.«
»Und wenn er eifersüchtig war?«
»Eifersüchtig genug, um sie zu töten, weil sie vergewaltigt worden war?« Er verzog das Gesicht. »Möglich, aber es klingt pervers. Und so schätze ich Freddie Atterton nicht ein.«
»Du magst ihn, nicht wahr? Diesen Atterton?«
Kincaid zuckte mit den Achseln. »Kann schon sein«, erwiderte er. »Aber vor allem gefällt mir die Vorstellung ganz und gar nicht, dass er als nützlicher Sündenbock für die schmutzige Wäsche des Yard herhalten soll. Unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils, das gilt auch hier. Ich würde dagegen ohne Zögern auf Craig wetten.«
Gemma stand auf, nahm die beiden Tassen und spülte sie aus. Dann stellte sie das Wasser ab und drehte sich wieder zu ihm um. »Craig, ja. Das leuchtet mir ein. Was ich nicht verstehe, ist: Warum jetzt? Rebecca Meredith hatte Peter Gaskill den Vorfall doch schon vor einem Jahr gemeldet.«
»Sie hatte vielleicht erfahren, dass Craig mit allen Ehren in den Ruhestand verabschiedet worden war und dass sie ihm sogar noch einen Orden hinterhergeworfen hatten«, sagte Kincaid, während er seinen Stuhl zurückschob und Geordies Ohren kraulte. »Sie hatte sich ihrem Vorgesetzten anvertraut, und er hatte ihr Vertrauen missbraucht. Sie muss vor Wut außer sich gewesen sein. Es wundert mich, dass sie Gaskill nicht umgebracht hat.«
Mit tropfenden Händen kehrte Gemma an den Tisch zurück und setzte sich. »Ja, aber so wütend sie auch gewesen sein mag, sie war doch nach wie vor völlig machtlos. Warum sollte Craig sie ermorden?«
Kincaid gab dem Hund noch einen letzten Klaps und starrte an Gemma vorbei ins Leere. »Es sei denn … Es sei denn, sie hatte noch andere Karten in der Hand oder neue. Vielleicht hatte sie eine Möglichkeit gefunden zu beweisen, dass es doch kein einvernehmlicher Sex gewesen war. Oder … Sehen wir uns doch mal den zeitlichen Ablauf an …« Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, wie es seine Angewohnheit war, wenn er nachdachte, und verpasste sich damit eine Igelfrisur.
»Wenn er es vor mehr als vier Jahren auf dich abgesehen hatte und Meredith vor einem Jahr vergewaltigt wurde«, fuhr er fort, »was hat Craig dann in den Jahren dazwischen gemacht? Und in den Jahren zuvor?« Kincaid sah sie an, sein Blick war jetzt konzentriert. »Wenn das seine Vorgehensweise ist, dann würde ich mein Leben darauf verwetten, dass er ein Wiederholungstäter ist. Du und Rebecca könnt nicht die Einzigen gewesen sein, bei denen er es versucht hat.« Er beugte sich über den Tisch und ergriff ihre Finger so fest, dass sie zusammenzuckte. »Was hättest du getan, Gem?«
Sie dachte gründlich darüber nach, sosehr es ihr auch zuwider war. »Ich hätte niemanden gehabt, an den ich mich hätte wenden können, nicht einmal jemanden, von dem ich annahm, dass ich ihm vertrauen könnte, wie Rebecca Peter Gaskill vertraut hat. Und wie sie hätte ich gewusst, dass es das Ende meiner Karriere bedeuten würde, mit der Sache an die Öffentlichkeit zu gehen, ganz gleich, wie es ausginge. Aber ich hätte mir gewünscht, etwas in der Hand zu haben – irgendetwas, was mir eines Tages die Macht geben würde, ihm … zu schaden.«
Sie dachte an andere Frauen, Polizistinnen mit Ehemännern oder Kindern, die hart an ihrer Karriere arbeiteten oder einfach nur auf das Gehalt angewiesen waren, um die Miete zu bezahlen. »Was ist, wenn einige der anderen – und ich glaube, du hast recht, wir müssen davon ausgehen, dass es noch andere gibt –, was ist, wenn diese Frauen eine Vergewaltigung angezeigt haben, dabei aber angegeben haben, der Täter sei unbekannt? So hätten sie erreicht, dass es eine Akte gibt und dass eine DNS-Probe aufbewahrt wurde, die irgendwann gegen ihn verwendet werden könnte.«
Und wenn es so war, hatten diese Frauen anschließend geschwiegen? Monate-, wenn nicht jahrelang? Und musste eine solche Lüge nicht ihr ganzes Leben zerstören wie ein schleichendes Gift?
Da kam Gemma plötzlich eine Idee. »Ich könnte Melody fragen«, sagte sie. »Sie arbeitet beim Projekt Sapphire. Wir könnten uns die Akten vornehmen. Ungelöste Fälle. Es müsste ein Täterprofil geben, und es müsste mehr enthalten als nur die Tatsache, dass er sich Polizeibeamtinnen als Opfer aussucht.« Gemma rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, während sie die Sache durchdachte. »Wenn eine Frau in einem solchen Fall lügt, wird sie wahrscheinlich in allen anderen Punkten ihrer Aussage die Wahrheit sagen. Das ist nur natürlich – man wählt immer den einfachsten Weg. Also müsste es Übereinstimmungen in den Berichten geben, die man finden kann, wenn man weiß, wonach man suchen muss.«
Kincaid nickte. »Vielleicht findest du etwas heraus. Wäre Melody denn bereit, die Sache vertraulich zu behandeln? Das ist ausnahmsweise ein Fall, wo es mir lieber wäre, wir würden den normalen Dienstweg umgehen.« Seine Formulierung verriet ihr, dass er seine Meinungsverschiedenheit mit Denis Childs nicht so schnell ad acta zu legen bereit war.
»Aber wir setzen hier einen wichtigen Punkt voraus«, fuhr er fort, »nämlich, dass Craig es nur auf Polizistinnen abgesehen hat. Wenn er auch außerhalb seines Reviers wildern geht, dann haben wir es mit der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen zu tun.«
»O Gott.« Gemma dachte an andere Frauen, an andere beschädigte, ruinierte Existenzen. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein. Das glaube ich nicht. Er muss auf seine Opfer Druck ausüben können. Und der Job verschafft ihm diese Macht. Darauf wird er es immer wieder anlegen.«
Sie schloss die Augen und versuchte sich an Details jenes Abends im Pub zu erinnern, der mehr als vier lange Jahre zurücklag. Ihre Kolleginnen hatten sie damit aufgezogen, dass sie seit kurzem wieder offiziell Single war. Craig hätte das sehr wohl mitbekommen können. Und mit ein paar harmlosen Fragen hätte er herausfinden können, dass sie kürzlich befördert worden war und ihre Karriere sehr ehrgeizig verfolgte. Nur Toby hatte offenbar niemand erwähnt.
Ihr kam ein Gedanke. »Bei Rebecca Meredith ist er ein ziemliches Risiko eingegangen, nicht wahr? Und ich meine nicht nur die räumliche Nähe. Sie war DCI, und er konnte nicht damit rechnen, dass sie sich durch seine Drohungen so leicht würde einschüchtern lassen. Ich war gerade mal zum Sergeant befördert worden, als er es bei mir versuchte. Vielleicht war er sich bei Rebecca seiner Sache schon allzu sicher.«
»Oder er wollte austesten, wie weit er gehen konnte«, meinte Kincaid. »Er brauchte das erhöhte Risiko, das war es, was ihn reizte. Und wenn er ein Kumpel von Gaskill war, dann muss er geglaubt haben, er hätte nichts zu bef…« Sein Handy klingelte. »Verdammt.« Er fischte es aus seiner Jeanstasche und warf einen Blick aufs Display. »Es ist Singla, der DI aus Henley. Ich muss den Anruf annehmen.«
Sie beobachtete seine Miene, während er der blechernen Stimme lauschte, die aus dem Lautsprecher des Handys drang. Die Falte zwischen seinen Brauen grub sich tiefer ein. Er schielte nach der Küchenuhr und sah dann wieder Gemma an. Schließlich nickte er, obwohl der Anrufer das gar nicht sehen konnte. »In Ordnung. Ich bin schon unterwegs«, sagte er. Doch nachdem er das Gespräch beendet hatte, blieb er sitzen und starrte Gemma beunruhigt an.
»Was ist passiert?«, fragte sie. »Haben sie Atterton festgenommen?«
»Nein, mit ihm ist alles in Ordnung, soviel ich weiß. Aber wenn ich das richtig verstanden habe, hat jemand einen Mordanschlag auf ein Mitglied des Such- und Rettungsteams verübt.«