15
Hinter diesen Seiten findet sich eine Welt in Schwarzweiß. Es ist eine Welt, die den Blicken der Öffentlichkeit stets weitgehend verborgen geblieben ist, die aber dennoch über zwei Jahrhunderte hinweg den Nachwuchs für Industrie und Politik herangezogen hat – die Macher, die unsere fragile Gesellschaft gestaltet und bisweilen erschüttert haben. Hier trifft die Eleganz von Evelyn Waughs Wiedersehen mit Brideshead auf eine kaputte Fight-Club-Welt à la Chuck Palahniuk. Es ist eine schillernde Welt mit ihren eigenen Helden und Schurken, beherrscht von einem einzigen Ereignis: dem Boat Race.
Mark de Rond, The Last Amateurs: To Hell and Back with the Cambridge Boat Race Crew
»Angus Craig?« Kincaid starrte Atterton an. »Sie wollen uns auf den Arm nehmen, Mann. Das ist nicht witzig.«
»Was? Was habe ich denn gesagt?« Freddie sah von Kincaid zu Doug und runzelte die Stirn.
»Sie haben sich mit Angus Craig getroffen, Deputy Assistant Commissioner der Met im Ruhestand, der zufälligerweise in Hambleden wohnt. Ist es das, was Sie uns sagen wollen?«
»Wieso hätte ich mich nicht mit ihm treffen sollen?«, fragte Freddie, der allmählich panisch klang. »Wir sind an einem Abend letzte Woche ins Gespräch gekommen. Ich habe ihm von dem Projekt erzählt. Er sagte, er sei interessiert und wolle möglicherweise etwas investieren. Also haben wir uns für Dienstagmorgen zum Frühstück verabredet.«
»Wusste er, wer Sie sind? Dass Rebecca Meredith Ihre Exfrau ist?«
»Das weiß ich nicht. Ich glaube nicht.« Freddie runzelte die Stirn und versuchte sich zu erinnern. »Erwähnt habe ich es jedenfalls nicht.«
Kincaid schob die Hände in die Hosentaschen und ging wieder auf und ab. »Sie kannten ihn vorher nicht?«
»Nein. Wie ich schon sagte, wir sind einfach nur bei einem Drink ins Plaudern gekommen.«
»Wo? Im Leander?«
»Ach Gott, nein. Spätestens um zehn Uhr machen die dort dicht.« Als Freddie nicht weitersprach, blieb Kincaid stehen und warf ihm einen ungeduldigen Blick zu. »Okay, okay«, sagte Freddie. »Wenn Sie es unbedingt wissen wollen, es war der Strip-Club. Aber es ist nicht so, wie es sich anhört.« Er fuhr sich mit der Hand durch das ohnehin schon zerzauste Haar. »Ja, es gibt da Mädchen, aber nicht auf einer Bühne oder so. Es ist nur das einzige Lokal in Henley, das noch geöffnet hat, wenn die Pubs schließen, und deswegen treffen sich alle irgendwann dort. Es gibt Musik und eine nette Bar, und manchmal kommt man eben mit seinem Nebenmann an der Theke ins Gespräch.«
Kincaid erinnerte sich, dass Imogen Bell ihm von dem Lokal erzählt hatte und dass sich ihr Kollege DC Bean ein paar kritische Kommentare nicht hatte verkneifen können. Nun, im Augenblick war es ihm so ziemlich egal, was die Stadtväter – oder DC Bean – als moralisch verwerflich definierten. »Gut, Mr. Atterton, wenn Sie also Craig noch nicht kannten, können Sie sich dann erinnern, wer das Gespräch eröffnet hat?«
»Ich hatte ihn schon mal im Club gesehen. Und im Leander, aber da muss er wohl als Gast gewesen sein, denn ich glaube kaum, dass er Mitglied ist.« Freddie hielt inne und leckte sich die Lippen. »Könnte ich einen Schluck Wasser haben?«
Doug stand auf. »Ich hole es.«
Kincaid wartete, bis Doug ein Glas mit Leitungswasser gefüllt und ins Wohnzimmer gebracht hatte. Nachdem Freddie es halb ausgetrunken und auf dem Couchtisch abgestellt hatte, sagte Kincaid: »Fahren Sie fort. Sie hatten ihn also schon einmal gesehen, aber nicht mit ihm gesprochen. Das bedeutet aber doch, dass er Sie auch vom Sehen kannte.«
»Wahrscheinlich. Aber mit Becca war ich nicht zusammen im Leander, und sie war ganz bestimmt nie im Strip-Club. Ich verstehe das nicht. Was hat Becca mit Angus Craig zu tun?«
Kincaid überlegte, wie er die Frage beantworten sollte. Es schien offensichtlich, dass sie Freddie nichts von der Vergewaltigung erzählt hatte oder jedenfalls nichts über die näheren Umstände. Aber in Anbetracht dessen, was Kincaid inzwischen über Rebecca Meredith wusste, bezweifelte er, dass sie überhaupt irgendetwas gesagt hatte.
Und da man ihn davor gewarnt hatte, ihre Anschuldigungen Dritten gegenüber zu erwähnen, würde er sich für den Moment daran halten. »Ich weiß es nicht. Ich finde es einfach nur merkwürdig, dass Sie wenige Tage vor dem Mord an Ihrer Exfrau Bekanntschaft mit einem ehemaligen Beamten der Met schließen. Und Sie sagen, zu dem Frühstück mit Ihnen am Dienstagmorgen sei er nicht erschienen. Hat er Sie hinterher kontaktiert und Ihnen eine Erklärung geliefert?«
»Nein«, antwortete Freddie. »An dem Morgen erzählte Lily, es habe auf der Marlow Road einen Unfall gegeben, also dachte ich mir, er sei vielleicht im Stau steckengeblieben. Und später – da habe ich dann nicht mehr daran –«
Kincaids Handy klingelte. Er fluchte halblaut, nahm den Anruf jedoch an, als er sah, dass es DC Bell war.
»Sir.«
Ihre forsche, souverän klingende Stimme hätte er auch ohne die Anzeige auf dem Display erkannt.
»Sie wollten ja, dass ich Ihnen Bescheid sage. Das Team von der Spurensicherung ist unterwegs. Und ich war sowohl im Henley Rowing Club als auch im Upper Thames Rowing Club. Nirgends wurden gestern Abend irgendwelche Boote vermisst, aber einige Mitglieder hatten ihre im Freien stehen, und sie wurden dort nicht eigens bewacht.«
»O verdammt«, stieß Kincaid hervor. Er hatte Bell in der Tat gebeten, ihn zu informieren, sobald die Kriminaltechniker auf dem Weg zu Atterton wären, um seinen Wagen zu beschlagnahmen und seine Schuhe und Kleider mitzunehmen. Im Labor würde man sie auf Übereinstimmungen mit den am Tatort gefundenen Fußabdrücken und Faserspuren untersuchen.
Und er hatte seine Vernehmung darauf abstimmen wollen, indem er die entsprechenden Fragen stellte und Freddie Atterton keine Zeit ließ, irgendetwas zu verstecken oder zu waschen, ehe die Teams eintrafen. Aber bei dieser Vernehmung verlief nichts nach Plan.
»Sir?« Bell klang verdutzt.
»Ich meine nicht Sie, Bell – tut mir leid. Wann werden die Kollegen hier sein?«
»So in einer halben Stunde.«
»Okay, vielen Dank, Detective Bell. Und gute Arbeit, das mit den Clubs. Ich rufe Sie zurück.« Er legte auf und schüttelte den Kopf, um der Frage zuvorzukommen, die Doug schon auf der Zunge zu liegen schien. Dann setzte er sich Freddie Atterton gegenüber.
»Mr. Atterton, ein Team von der Kriminaltechnik ist auf dem Weg hierher, um Ihren Wagen und Ihre persönlichen Gegenstände zu untersuchen.« Ehe Freddie protestieren konnte, hob Kincaid eine Hand. »Das ist reine Routine, okay? Die Kollegen werden sich bemühen, Ihnen so wenig Unannehmlichkeiten wie möglich zu bereiten.«
»Routine? Mein Auto? Meine persönlichen Gegenstände? Warum wollen Sie – Was für Gegenstände?« Freddie wollte sich vom Sofa erheben, doch Kincaid und Doug hatten ihn regelrecht in die Zange genommen.
»Gummistiefel oder Wanderschuhe, denke ich. Und Outdoorjacken. Aber bevor wir dazu kommen, müssen wir Ihnen ein paar Fragen zu gestern Abend stellen«, fuhr Kincaid fort. »Können Sie mir sagen, was Sie zwischen sieben und neun Uhr gemacht haben?«
»Was?« Jetzt schien Freddie vollkommen verdattert. »Gestern Abend? Wieso um alles in der Welt fragen Sie nach gestern Abend?«
»Beantworten Sie bitte einfach nur die Frage.«
»Ich war hier. Vorher hatte ich mit einem Freund etwas getrunken, in der Bar gegenüber. Er – Er hatte mich zum Leichenschauhaus gefahren.« Freddie brach ab und trank den Rest Wasser aus seinem Glas. »Aber dann bin ich nach Hause gegangen. Ich habe auf den Anruf von Beccas Mutter aus Südafrika gewartet. Sie wird ihren Flug erst buchen, wenn wir die … Beerdigung organisiert haben.«
»Und hat sie Sie angerufen?«
»Ja.« Freddie verzog das Gesicht, als sei ihm die Erinnerung unangenehm. »Ja, das hat sie. Ich glaube, es war so gegen acht, aber sicher bin ich mir nicht. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut.«
»Hat sie hier auf dem Festnetz angerufen oder auf Ihrem Handy?«, fragte Kincaid.
»Festnetz. Sonst hätte es sie ein Vermögen gekostet, und Marianne war schon immer eine Pfennigfuchserin.«
Kincaid neigte den Kopf zur Seite. Die offenkundige Bitterkeit weckte seine Neugier. »Verstehen Sie sich nicht mit Ihrer einstigen Schwiegermutter?«
Seufzend antwortete Freddie: »Um ehrlich zu sein, verstanden haben wir uns alle nicht. Becca und ihre Mutter waren so gut wie nie einer Meinung über irgendetwas, mich eingeschlossen. Na ja, man könnte wohl sagen, dass Becca sich am Ende der Einschätzung ihrer Mutter angeschlossen hat«, fügte er bedauernd hinzu, »aber ich glaube nicht, dass das sie einander nähergebracht hat. Wenn Becca eins nicht ausstehen konnte, dann war es der Satz: ›Ich hab’s dir doch gleich gesagt.‹
Und Marianne – o Gott, wenn Marianne erfährt, dass Becca mir so viel hinterlassen hat … das wird ihr ganz und gar nicht gefallen.«
Kincaid fiel auf, dass Freddie Atterton offenbar ziemlich allein dastand. »Was ist mit Ihrer Familie? Haben Sie mit Ihren Eltern gesprochen? Könnten Sie nicht für eine Weile irgendwo anders unterkommen?«
»Ich habe meine Mutter angerufen. Ich wollte nicht, dass sie das mit Becca aus den Nachrichten erfährt. Sie hat angeboten, dass ich zu ihr kommen kann, aber ich glaube, das wäre noch schlimmer, als allein zu sein. Meine Mutter kann – ganz schön anstrengend sein.«
»Und Ihr Vater?«
Freddie verzog den Mund. »Er hat Mum gesagt, dass sie mir sein Beileid ausrichten soll.«
»Verstehe.« Offenbar war aus dieser Richtung nicht viel Unterstützung zu erwarten. Kincaid fragte sich, was aus dem Opferschutzbeamten geworden war, den Cullen Atterton zugewiesen hatte. »Mr. Atterton, hat ein Opferschutzbeamter von der Met Sie aufgesucht oder sich mit Ihnen in Verbindung gesetzt?«
Freddie schüttelte den Kopf. »Nein.«
Hatte der Chief – oder wer auch immer im Yard gerade das Sagen hatte – den Kollegen vom Opferschutz praktischerweise an die falsche Stelle verwiesen? Diese Beamten standen den Angehörigen von Verbrechensopfern mit Rat und Tat zur Seite und hielten sie über den Fortgang der Ermittlungen auf dem Laufenden. Und wenngleich sie nicht zum Händchenhalten da waren, halfen die Opferschutzbeamten nahen Verwandten des Ermordeten oft, ihre Trauer zu bewältigen, unterstützten sie bei der Organisation der Beerdigung und fungierten bei aufsehenerregenden Fällen auch als Puffer zwischen der Familie und den Medien.
Obwohl Freddie Atterton von Rebecca Meredith geschieden war, schien er derjenige zu sein, der am ehesten Hilfe nötig hatte. Aber er war auch – zumindest nach Ansicht von Chief Superintendent Childs – der Hauptverdächtige, und wenngleich es die Aufgabe der Opferschutzbeamten war, den Angehörigen zur Seite zu stehen, waren sie doch auch Polizisten. Manchmal kam ihnen etwas zu Ohren, was die Familie des Opfers mit einem Verbrechen in Verbindung brachte, und in diesem Fall war es ihre Pflicht, Meldung zu erstatten. Es war ein schwieriger Job, der sehr oft zu Interessenkonflikten führte, aber in Attertons Fall wäre nach Kincaids Auffassung ein Opferschutzbeamter ganz besonders hilfreich gewesen.
Im Augenblick jedoch waren ihm andere Dinge wichtiger. »Die Mutter Ihrer Exfrau – Mrs. Meredith, ist das richtig?«, fragte er. Als Freddie nickte, fuhr Kincaid fort: »Wir brauchen Mrs. Meredith’ Kontaktdaten.« Sie würden auch Attertons Verbindungsnachweise überprüfen, aber das erwähnte Kincaid nicht. Er wollte herausfinden, ob es irgendwelche heimlichen Absprachen zwischen Atterton und seiner Exschwiegermutter gab, ehe Freddie wusste, dass er ohnehin keine Chance hatte, die Wahrheit zu vertuschen.
»Aber warum?«, fragte Freddie. »Ich verstehe nicht. Warum ist es Ihnen so wichtig, was ich gestern Abend gemacht habe?«
»Weil jemand einen Mordanschlag auf einen der freiwilligen Helfer verübt hat, die die Leiche Ihrer Exfrau gefunden haben.«
»Mord?« Freddies Knöchel verfärbten sich weiß, als er sein leeres Wasserglas an die Brust drückte. »Aber – Warum sollte jemand so etwas tun?«
Kincaid beugte sich vor und sah in Freddie Attertons vor Entsetzen geweitete blaue Augen. »Wir dachten uns, dass ein eifersüchtiger Exmann wohl ein sehr gutes Motiv gehabt hätte. Der Mann war der Liebhaber Ihrer Frau.«
Freddie starrte Kincaid nur in blanker Verständnislosigkeit an. »Liebhaber?« Seine Stimme zitterte.
Doug nickte. »Sein Name ist Kieran Connolly. Ein ehemaliger Sanitätssoldat und Ruderer. Er repariert Boote, und zusammen mit seinem Hund, einem Labrador Retriever, gehörte er zu dem Team, das die Leiche Ihrer Exfrau am Wehr gefunden hat.« Er sah Freddie eindringlich an. »Aber vielleicht wussten Sie das alles ja schon.«
»Nein. Nein, ich hatte keine Ahnung. Gesehen habe ich ihn, an dem Morgen. Ein großer, dunkelhaariger Typ mit einem schwarzen Hund.« Freddie schüttelte den Kopf, als könne er es nicht recht fassen. »Ist er – Sie sagten, jemand habe einen Anschlag auf ihn verübt. Ist er okay? Was ist mit ihm passiert?«
Falls Freddie Atterton von der Tatsache, dass seine Exfrau einen Liebhaber gehabt hatte, wirklich so überrascht war, wie es den Anschein hatte, dann fand Kincaid seine Sorge um Kieran sehr löblich. »Es geht ihm gut, bis auf eine Platzwunde an der Stirn. Aber seinen Bootsschuppen hat es übel erwischt. Jemand hat versucht, ihn niederzubrennen, und es ist ihm auch weitgehend gelungen.«
»Und er und Becca … Ich hätte nie gedacht, dass sie …« Freddie lachte. »Das ist albern, ich weiß. Sie hätte reichlich Gründe gehabt, eine Affäre zu beginnen, als wir noch verheiratet waren. Und nach der Scheidung hatte sie natürlich jedes Recht, ins … ins Bett zu gehen, mit wem sie wollte. Aber ich habe wohl angenommen, dass sie es mir erzählen würde …«
Wenn Kincaid Freddie Atterton so betrachtete und dabei an sein Gespräch mit Kieran Connolly am Abend zuvor zurückdachte, fiel ihm auf, dass die beiden Männer sich vom Äußeren her sehr ähnlich waren. Groß, dunkelhaarig, schlank, Rudererfigur … War es das, was Rebecca Meredith an Kieran angezogen hatte? Und gab es da noch weitere Ähnlichkeiten, die nicht so offensichtlich waren? Er vermutete, dass in beiden Beziehungen sie die stärkere Persönlichkeit gewesen war und dass sie das auch genossen hatte, ob bewusst oder unbewusst.
»Vielleicht wollte sie Ihnen nicht wehtun«, mutmaßte er. »Oder …« Er dachte einen Moment nach und fuhr dann fort: »Sie hatte zu Kieran Connolly gesagt, sie wolle nicht, dass irgendjemand von ihrer Beziehung erfuhr, weil es gegen sie verwendet werden könnte. Haben Sie eine Ahnung, was sie damit gemeint haben könnte?«
»Gegen sie verwendet?« Freddie schüttelte den Kopf. »Nein. Auf jeden Fall kann sie damit nicht mich gemeint haben.«
»Sie hätten nicht von ihr verlangt, dass sie Ihnen das Cottage wieder überschreibt?«
»Aber nein! Und selbst wenn ich es verlangt hätte – ich habe es ihr in der Scheidungsvereinbarung überlassen, frei von Hypotheken und Belastungen. Rechtlich hätte ich überhaupt keinen Anspruch gehabt.«
Freddie klang so sicher, dass Kincaid sich fragte, ob er mit dem Gedanken gespielt hatte, das Cottage von ihr zurückzuverlangen, und den Plan dann verworfen hatte.
Zugunsten eines Mordplans?
Aber dazu hätte Freddie wissen müssen, dass Becca ihr Testament nicht geändert hatte, und nach allem, was Kincaid über Rebecca Meredith wusste, hielt er es für äußerst unwahrscheinlich, dass sie irgendjemandem solche Details anvertraut hatte. Natürlich könnte Freddie auch einfach darauf gesetzt haben, dass Becca auf keinen Fall ihrer Mutter irgendetwas überlassen wollte – und dass sie nicht etwa ein Heim für ausgesetzte Katzen mit einer großzügigen Summe bedacht hatte, durfte er wohl voraussetzen.
Kincaid betrachtete den Mann, der vor ihm saß – unter Schock, erschöpft, voller Befürchtungen. Er hatte schon Mörder gesehen, die all dies gewesen waren; es war also vorstellbar, dass Freddie Atterton seine Exfrau ermordet hatte und gleichwohl diese Emotionen nicht vortäuschte.
Aber Kincaid konnte es nicht so recht glauben. Zu vieles passte da nicht zusammen, und wenn Freddie ein überzeugendes Alibi für den gestrigen Abend hatte, dann würde daraus folgen, dass der Überfall auf Connolly nichts mit dem Mord an Rebecca Meredith zu tun hatte. Und das, so fand er, wäre doch ein allzu unwahrscheinlicher Zufall.
Als das Team der Spurensicherung eintraf, überließ er es Doug, das Einsammeln von Beweismitteln und das Abschleppen von Freddies Audi zu überwachen. Er selbst entschuldigte sich, und nachdem er ein stilles Plätzchen im Hof der alten Brauerei gefunden hatte, rief er Detective Constable Imogen Bell zurück.
»Sir«, sagte sie, »ist alles in Ordnung?«
»Alles bestens. Tut mir leid, wenn ich vorhin ein bisschen kurz angebunden war. DC Bell, haben Sie eine Ausbildung in Opferschutz?«
»Nur die Grundlagen. Ganz schön anspruchsvoll, fand ich.«
»Ja, das ist es bisweilen. Also, was würden Sie davon halten, zur Abwechslung mal ein wenig Händchen zu halten und Tee zu kochen?«
Es war einen Moment still. Dann erwiderte Bell mit einem Anflug von Erheiterung in der Stimme: »Ich will doch hoffen, dass bei diesem Auftrag mein Geschlecht keine Rolle spielt, Sir.«
Kincaid grinste. »Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Mann ganz genauso gut Tee kochen und Händchen halten kann wie eine Frau, wenn nicht gar besser. Aber in diesem speziellen Fall muss ich zugeben, dass ich finde, Ihr Geschlecht könnte für uns ein Vorteil sein.«
Ihm war eingefallen, dass Imogen Bell ihn an die Fotos einer jüngeren Rebecca Meredith erinnerte, die er gesehen hatte. Und wenn Meredith bei der Partnerwahl immer den gleichen Typ bevorzugt hatte, würde es sich lohnen herauszufinden, ob das Gleiche auch für ihren Exmann galt.
Freddie Atterton wies alle Symptome eines Mannes auf, der sich dringend irgendjemandem anvertrauen musste. Ihm so jemanden zur Verfügung zu stellen, war das Mindeste, was Kincaid tun konnte.
Wenige Minuten nachdem Imogen Bell Freddie Attertons Wohnung betreten hatte, kam Doug Cullen heraus. »Also, die wird ihn bald wieder auf die Reihe bringen«, sagte er zu Kincaid, der unten im Hof geblieben war, um Anrufe zu beantworten. »Und dabei möchte ich ihr lieber nicht im Weg sein. Meinen Sie, er wird ihr irgendetwas erzählen?«
»Möglich wäre es durchaus«, antwortete Kincaid unverbindlich.
Doug betrachtete ihn eine Weile. »Sie glauben nicht, dass er es war, oder?«
Anstelle einer Antwort deutete Kincaid auf das Hotel du Vin auf der anderen Straßenseite. »Kommen Sie, lassen Sie uns was essen gehen. Ich bin schon halb verhungert.« Das du Vin gehörte zu einer Kette kleiner, feiner Hotels, und man konnte dort angeblich gut essen.
»Fantastische Idee«, stimmte Doug zu. »Mir knurrt der Magen, seit ich den Ruderern im Leander zugeschaut habe, wie sie ihre Berge von Eiern und Baked Beans in sich reingeschaufelt haben.« Doug steuerte voller Eifer auf das Hotel zu, und bald darauf saßen sie auf Ledersofas in der trendy eingerichteten Bar.
Sie bestellten beide das Tagesgericht, eine Pastete mit geräuchertem Schellfisch und Gemüse in cremiger Cheddarsauce; dazu bestellte Kincaid Tee anstelle des Biers, das er eigentlich bevorzugt hätte. Er brauchte einen klaren Kopf.
Nachdem die Bedienung ihre Getränke gebracht hatte, schob Doug seine Brille hoch und fixierte Kincaid unverwandt. »Ich interpretiere das als ein Nein«, sagte er, als wäre ihre Unterhaltung nie unterbrochen worden.
Kincaid zuckte mit den Achseln, während er die Milch in seinen Tee rührte. »Freddie Atterton hatte ein offensichtliches Motiv: finanzielle Bereicherung. Und vielleicht noch ein weniger offensichtliches: Eifersucht. Er besitzt die nötigen Kenntnisse, und er hätte eventuell auch die Gelegenheit gehabt, Rebecca am Montagabend zu ermorden.«
»Aber wenn er ein nachprüfbares Alibi für den Anschlag auf Kieran hat –«
»Genau«, meinte Kincaid. Er hatte in der SOKO-Zentrale angerufen, während er auf Doug gewartet hatte, und eine Überprüfung von Freddies Verbindungsdaten sowie einen Kontrollanruf bei Beccas Mutter angeordnet. »Das würde bedeuten, dass Kieran Connolly ein Zufallsopfer war, was ich keine Sekunde lang glaube – oder dass es nicht Freddie war, den Kieran am Flussufer gesehen hat. Aber das ist nicht das Einzige.« Er hielt inne, um der Bedienung, einer hübschen jungen Frau in den Zwanzigern mit blankem Bauch und gepierctem Nabel, ein dankbares Lächeln zu schenken, als sie ihnen das Besteck brachte.
Er senkte die Stimme, als ein Pärchen sich an einen Nebentisch setzte, und fuhr fort: »Keines der Szenarios mit Freddie als Mörder kann erklären, was Rebecca Meredith am Freitagabend getan hat.
Warum hat sie ihren Wagen in London gelassen und den Zug genommen? Warum war sie Kieran gegenüber so kurz angebunden, als er sie am Samstag in ihrem Cottage aufsuchte? Warum hat sie das Training am selben Morgen ausgelassen? Was hatte sie am Samstag in London zu tun?
Das waren alles Abweichungen von ihrer Routine, und so etwas gefällt mir grundsätzlich nicht.« Kincaid nippte an seinem Tee und verzog das Gesicht – das Gebräu war lauwarm. Er hasste lauwarmen Tee.
»Und was mir am allerwenigsten gefällt«, sagte er, während er seine Tasse unnötig heftig auf die Untertasse stellte, »ist, dass Freddie Atterton rein zufällig mit Angus Craig Bekanntschaft schließt, und das wenige Tage, bevor Rebecca ermordet wird.«
»Sie meinen, Craig hat das bewusst eingefädelt?«
Kincaid richtete sein Messer und seine Gabel exakt auf der Serviette aus. »Ich glaube, mit Rebecca Meredith hat er einen großen Fehler gemacht. Er hat in seinem eigenen Revier gewildert, und er hat sich ein Opfer ausgesucht, das nicht so hilflos war, wie er gedacht hatte. Vielleicht hatte er an dem bewussten Abend zu viel getrunken und war leichtsinnig geworden. Aber was auch immer der Grund war, ich garantiere Ihnen, dass er es sich anschließend zur Aufgabe gemacht hatte, alles über sie herauszufinden.«
Die Bedienung brachte ihr Essen, und Kincaids Selbstbewusstsein bekam einen kleinen Dämpfer, als sie dabei Doug anlächelte und nicht ihn.
Die Fischpastete war mit einer Haube aus goldgelbem Kartoffelpüree gekrönt und duftete verführerisch. Als Kincaid mit der Gabel hineinstach, stieg eine Dampfwolke auf.
Doug nahm einen Bissen auf die Gabel und blies darauf – obwohl ihm seine Mutter bestimmt beigebracht hatte, dass man das nicht tat. »Aber wenn er wusste, wer Freddie Atterton war«, sagte Doug, »warum ist er dann jetzt erst auf ihn zugegangen?«
»Vielleicht hatte Rebecca Druck gemacht. Wir müssen herausfinden, wann sie erfahren hat, dass Craig in Ehren entlassen worden war, und dass Gaskill – oder wer auch immer die Fäden im Hintergrund zog – sein Versprechen ihr gegenüber gebrochen hatte. Und noch etwas anderes müssen wir herausfinden.«
Kincaid legte sein Besteck hin, ohne von seinem Essen gekostet zu haben, holte sein Handy hervor und rief die Nummer auf seiner Anrufliste zurück.
»DC Bell? Hier Kincaid. Sind Sie noch in der Wohnung?«
»Ja, Sir. Wir machen Fortschritte. Die Küche sieht schon wieder ganz ordentlich aus und Mr. Atterton auch.« Sie klang sehr zufrieden mit sich. »Jetzt wollte ich mit Fre… mit Mr. Atterton gerade die nötigen Anrufe erledigen.«
»Ist die Spurensicherung schon weg?«
»Ja, Sir. Ich glaube, sie haben alles mitgenommen, was sie brauchen, und ich soll Ihnen ausrichten, dass die Kollegen sich den Wagen so bald wie möglich vornehmen werden.«
»Danke, Detective. Gute Arbeit.« Kincaid hielt inne; ihm war bewusst, dass er große Vorsicht walten lassen musste. »DC Bell, könnten Sie Mr. Atterton fragen, an welchem Abend er letzte Woche den Herrn in der Bar getroffen hat?«
»Äh, jawohl, Sir.« Er hörte gedämpftes Gemurmel im Hintergrund, und dann war Bell wieder laut und deutlich zu vernehmen. »Er glaubt, es war am Donnerstag.« Er konnte die Neugier in ihrer Stimme hören, dennoch dankte er ihr ohne weiteren Kommentar und legte auf.
»Donnerstag«, beantwortete Kincaid Dougs fragenden Blick.
Doug biss in ein Stück geräucherten Schellfisch, sog die Luft durch die Zähne ein und sagte: »Tierisch heiß.« Er nahm einen Schluck Wasser. Dann fügte er nachdenklich hinzu: »Ich denke, es könnte auch ein Zufall gewesen sein, dass Craig Atterton begegnet ist.«
»Könnte so gewesen sein, ja«, pflichtete Kincaid ihm bei. »Und vielleicht war die Veränderung in Rebecca Meredith’ Verhalten am folgenden Tag auch nur ein Zufall. Aber ich möchte, dass Sie noch einmal im Revier West London vorbeischauen und mit ihren Kollegen sprechen. Vielleicht können Sie ja herausfinden, was am Freitag anders war als sonst.«
»Und was wollen Sie tun?«, fragte Doug und musterte Kincaid argwöhnisch.
»Etwas, in das ich Sie nicht hineinziehen will.« Kincaid betrachtete sein unberührtes Mittagessen. Er hatte plötzlich den Appetit verloren. »Ich werde mit Angus Craig sprechen.«
Dougs Augen weiteten sich. Er erstarrte, die Gabel halb zum Mund gehoben. »Das wird dem Chief aber nicht gefallen.«
Das war noch untertrieben, dachte Kincaid.
Er war in seiner Polizeilaufbahn schon oft genug bis an die Grenzen des Erlaubten gegangen oder hatte im Verborgenen operiert; stets in dem Wissen, dass Childs ihm beträchtliche Freiheiten ließ, wenn er nur am Ende den Fall löste. Aber er konnte sich nicht entsinnen, jemals gegen den ausdrücklichen Wunsch seines Vorgesetzten gehandelt zu haben.
Er hatte Chief Superintendent Childs gesagt, dass er die Art und Weise, wie mit Rebecca Meredith’ Anschuldigungen gegen Craig umgegangen worden war, nicht billigen konnte. Er hatte gesagt, dass Craig seiner Meinung nach sehr wohl zu den Verdächtigen zählte.
Und er war zurückgepfiffen worden.
Er trank noch einen Schluck von seinem Tee, der inzwischen eiskalt war, doch das war ihm egal. Er brauchte ihn, um seinen plötzlich ausgetrockneten Mund zu befeuchten.
Wenn er vernünftig wäre, würde er diesen Fall auf der Stelle abgeben. Sollte doch jemand anders ihn übernehmen. Sollten sie doch Freddie Atterton – einen Mann, den Kincaid für unschuldig hielt – zum willkommenen Sündenbock machen. Und die ganze schmutzige Affäre um Angus Craig, der seinen Einfluss benutzte, um sich Frauen gefügig zu machen – Frauen wie Gemma und Rebecca Meredith und weiß Gott wie viele andere –, sollten sie sie doch ruhig unter den Teppich kehren.
»Nun ja, ich kann mir auch vorstellen, dass es ihm nicht gefallen wird«, sagte er nachdenklich. »Aber ich habe vorerst nicht die Absicht, es ihm zu sagen.«