21
»Ihr Spiegelbewohner«, sprach Alice, »kommt her!
Mich zu sehen ist viel, mich zu hören noch mehr;
Eine Ehre gar groß ist das Festgelag hier
Bei Königin Weiß und Schwarz – und Königin Mir!«
Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln (Deutsch von Christian Enzensberger)
Am Samstag um die Mittagszeit war Charlottes Geburtstagsparty in vollem Gang.
Gemma dachte, dass die Wettergötter wohl dem Geburtstagskind ihre Aufwartung machen wollten, denn wieder hatte der Tag schön und wolkenlos begonnen. In der Luft hing schon eine Vorahnung der Guy-Fawkes-Feuer, die am 5. November entfacht würden, und die Vortreppen und Ladeneingänge von Notting Hill waren mit Kürbissen geschmückt.
Doch zu Charlottes Party erschienen keine Gespenster und Kobolde – diejenigen Gäste, die sich die Mühe gemacht hatten, sich zu kostümieren, waren alle den Werken von Lewis Carroll entsprungen.
Gemmas Freundin und ehemalige Vermieterin Hazel Cavendish hatte ihrer Tochter Holly, die in Tobys Alter war, ein weißes Häschenkostüm angezogen. Es war eigentlich für Halloween gedacht, aber es taugte auch ganz gut für das Weiße Kaninchen aus Alice im Wunderland.
Wesley Howard hatte irgendwo in einer dunklen Ecke des Portobello-Markts einen alten Frack mit langen Schößen sowie einen verbeulten Zylinder aufgetrieben. Beides hatte er mit farbigen Bändern geschmückt, und mit seinen Dreadlocks, die unter der Krempe des Zylinders hervorquollen, gab er einen prächtigen Hutmacher ab.
Betty Howard hatte für Gemma als Überraschung eine Herzkönigin-Schürze genäht, und Toby hatte sich natürlich als Pirat verkleidet. Als Gemma ihn sanft darauf hingewiesen hatte, dass in Alice gar keine Piraten vorkommen, hatte Toby entgegnet: »Dann ist es ein doofes Buch.« Gemma hatte den Verdacht, dass Toby immer irgendwie aus der Reihe tanzen würde.
Kit war inzwischen in einem Alter, wo er glaubte, für Kostümfeste zu erwachsen zu sein, war aber nichtsdestotrotz recht stolz darauf, ein T-Shirt mit einer Falschen Suppenschildkröte gefunden zu haben.
Und Charlotte mit ihrem Kleidchen und der Schleife im Haar – Charlotte schien es vor Aufregung die Sprache verschlagen zu haben, und sie starrte nur alle mit großen Augen an, sodass Gemma schon fürchtete, sie würde krank. Sie war da ein wenig wie Kit, und Kit schien sie auch zu verstehen. Er hatte sie beiseitegenommen und gefragt, ob sie ihm in der Küche helfen wolle, und nachdem sie ein paar Minuten mit ihm verbracht hatte, beschloss sie, dass sie lieber mit Toby und Holly spielen wollte. Doch sie war nach wie vor ungewöhnlich still.
Es war eine sehr »erwachsene« Geburtstagsfeier für eine Dreijährige, dachte Gemma, als sie die Gesellschaft von der Küchentür aus beobachtete. Aber Charlotte fühlte sich in vielerlei Hinsicht unter Erwachsenen wohler als in Gesellschaft anderer Kinder, und inzwischen war Gemma ganz froh, dass sie die Einladung auf enge Freunde und Verwandte beschränkt hatten.
Gemmas Schwester Cyn hatte mit der Begründung abgesagt, Brendan und Tiffani seien zu einer Halloweenparty eingeladen, die sie auf keinen Fall verpassen wollten. Gemma fand, dass sie eigentlich beleidigt sein müsste, weil Charlottes Geburtstag so offensichtlich an zweiter Stelle rangierte, aber in Wirklichkeit war sie einfach nur erleichtert.
Ihre Eltern jedoch waren extra aus Leyton gekommen. Gemma ahnte, wie viel Mühe es ihre Mutter gekostet hatte, ihren Vater dazu zu überreden, die Bäckerei in den Händen der Angestellten zu lassen, zumal an einem Samstag, und deshalb widmete sie sich den beiden besonders aufmerksam und versuchte sie spüren zu lassen, wie froh sie war, sie dabeizuhaben.
Sie hatte sie ins Esszimmer gesetzt und ihnen Tee und Teller mit Sandwiches serviert, die Kit sorgfältig in Herz- und Pikform geschnitten hatte. Als Erika sich zu ihnen gesellte, hörte Gemma ihren Vater brummen, er sei froh, dass es nicht wieder dieses »komische Essen« gebe – womit er, wie sie wusste, den karibischen Eintopf meinte, den Betty für ihre Hochzeitsfeier im August gekocht hatte.
Seufzend wandte sie sich ab. Vielleicht wurde es Zeit, dass sie nicht mehr versuchte, den Horizont ihres Vaters zu erweitern. Sie war schon zufrieden, dass ihre Eltern sich entspannt mit Erika unterhielten und dass ihre Mutter munterer aussah als am vergangenen Wochenende in Glastonbury.
War es wirklich erst eine Woche her, dachte sie, dass sie in Winnies Kirche ihr Eheversprechen wiederholt hatten?
Kincaid kam aus dem Wohnzimmer, wo er mit Tim Cavendish geplaudert hatte, und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich habe die Hunde ins Arbeitszimmer gesperrt, damit sie ein bisschen zur Ruhe kommen.« Angesteckt von Tobys und Hollys Herumgerenne und Gekreische, waren die Hunde ganz toll geworden und hatten sich bellend in das Spiel der Kinder eingemischt. »Ich konnte richtig sehen, wie bei deinem Vater der Blutdruck in die Höhe geschossen ist«, sagte er leiser. Mit einer Kopfbewegung in Richtung ihrer Eltern fügte er hinzu: »Scheint ja ganz gut zu laufen.«
»Ich habe ihnen einfach nur die Sandwiches mit Weißbrot gegeben. Das ist das ganze Geheimnis.«
Er lächelte, und ihr wurde bewusst, dass sein Gesicht zum ersten Mal, seit er am Abend zuvor vom Yard zurückgekommen war, entspannt wirkte.
Während des Abwaschs nach dem Abendessen hatte er ihr eine knappe Zusammenfassung seines Gesprächs mit Denis Childs geliefert. Dabei hatte sie deutlich gespürt, wie der unterdrückte Zorn in ihm brodelte.
»Nun ja, man konnte wohl kaum erwarten, dass sie in voller Stärke ausrücken und ihn ins Gefängnis abschleppen würden – einen Deputy Assistant Commissioner«, hatte sie sich behutsam vorangetastet. »Ich meine, was ist, wenn wir uns irren? Dann würde uns das teuer zu stehen kommen. Es könnte Denis seinen Job kosten.«
»Und wenn wir uns nicht irren?«, fragte Kincaid und tauchte dabei einen Teller so heftig ins Spülwasser, dass Gemma zusammenzuckte.
»Ich schätze, Craig wird sich den besten Anwalt nehmen, den er finden kann«, sagte sie. »Er wird natürlich behaupten, der Sex sei einvernehmlich gewesen, und er habe keine Ahnung, was danach mit Jenny Hart passiert sei. Aber die Haut- und Blutpartikel unter ihren Nägeln könnten für ihn zum Problem werden. Ganz zu schweigen von den Haaren, Fasern und Fingerabdrücken, die in ihrer Wohnung gefunden wurden.«
»Was ist, wenn das forensische Beweismaterial verschwindet?«
Sie musterte ihn stirnrunzelnd und registrierte die Anspannung in seinen Zügen. »Jetzt siehst du aber wirklich Gespenster«, sagte sie leise.
Er schüttelte den Kopf. »Das gefällt mir nicht, Gemma. Ich habe wirklich ein schlechtes Gefühl bei der Sache.«
In diesem Moment war Toby in die Küche gekommen und hatte zum hundertsten Mal nach Charlottes Geburtstagskuchen gefragt, und so hatten sie das Thema Angus Craig fallen gelassen.
Aber den ganzen Abend lang hatte Gemma beobachtet, wie Kincaid alle paar Minuten sein Handy nach entgangenen Anrufen abhörte, und mit jeder Stunde, die verging, ohne dass Chief Superintendent Childs sich meldete, wurde seine Miene finsterer.
Und auch an diesem Morgen war kein Anruf gekommen.
Jetzt sagte er: »Doug und Melody fehlen noch.«
»Melody hat angerufen. Sie kommen zusammen in ihrem Wagen. Sie hat einen Haufen Zeug aus Dougs Wohnung in das neue Haus gekarrt.«
Kincaid sah sie verblüfft an. »Interessant, wie sich die Lage zwischen den beiden entspannt hat.«
»Mach dich bloß nicht über ihn lustig«, warnte ihn Gemma. »Ich bin froh, dass sie sich nicht mehr so angiften. Aber wenn du ihn aufziehst, wird er nur umso empfindlicher reagieren. Du kennst ihn doch.« Das ironische Blitzen in Kincaids Augen verriet Gemma, dass sie sich ihre Worte wohl hätte sparen können.
Aber jetzt, da er etwas gesprächiger aufgelegt war, musste sie noch etwas anderes loswerden. »Alia hat auch angerufen und abgesagt. Familiäre Verpflichtungen.«
Das war zumindest der Grund, den Alia ihr genannt hatte, doch Gemma vermutete, dass Alias Vater ihr dringend von diesem rein privaten Besuch abgeraten hatte. Mr. Hakim war ein sehr konservativer Bangladeschi, und er hatte Probleme mit Gemmas und Duncans Patchworkfamilie, ebenso wie mit Charlottes gemischter Herkunft. Er und ihr eigener Vater würden sich wahrscheinlich blendend verstehen, dachte Gemma bitter.
»Aber ich muss sie wegen Montag zurückrufen«, sagte sie und fasste Kincaids Arm, um sich seiner vollen Aufmerksamkeit zu versichern. Sie blickte zu ihm auf und versuchte seinen Gesichtsausdruck zu deuten. »Duncan – ich muss Alia sagen, ob sie auf Charlotte aufpassen muss.«
Er stand eine Weile reglos da und sah sich in der Wohnung um, als wolle er eine Bestandsaufnahme machen. Sie folgte seinem Blick. In der Küche steckten Kit und Betty die Köpfe über der Bowleschüssel zusammen. Im Esszimmer unterhielt Erika sich immer noch mit Gemmas Mutter, während ihr Vater zuschaute, die Teetasse auf dem Knie. Im Wohnzimmer dahinter erteilten Hazel und Tim den Kleinen Anweisungen in irgendeinem undurchschaubaren Spiel. Charlotte wirkte erhitzt, und ihre Bäckchen waren knallrot.
»Ich glaube, wenn wir nicht aufpassen, kriegt unser Geburtstagskind bald einen Heulanfall«, sagte Kincaid. »Ist Wes die Torte holen gegangen?« Sie hatten befürchtet, dass das Prachtstück nirgends im Haus vor den Kindern sicher wäre, weshalb Wesley die Torte in Ottos Café gelassen hatte.
Gemma nickte verwirrt. Sie war sich nicht sicher, ob er ihre Frage verstanden oder überhaupt gehört hatte.
Dann drehte er sich zu ihr um und sah ihr in die Augen. »Ich bin jetzt mal an der Reihe, diesen Laden hier zu schmeißen.«
»Und was ist mit dem Fall?«, fragte sie.
Er zuckte mit den Achseln. »Wegen Angus Craig kann ich nichts weiter unternehmen. Es liegt nicht mehr in meiner Hand. Ich habe keine Beweise, die ihn direkt mit dem Mord an Rebecca Meredith in Verbindung bringen. Und ich habe keine anderen Verdächtigen, die in Frage kämen.« Er zog einen Moment die Stirn in Falten, ehe er fortfuhr: »Man hat mich davor gewarnt, den Fall Hart weiterzuverfolgen, und damit bekomme ich natürlich von den weiteren Entwicklungen nichts mehr mit.« Er hielt inne und beobachtete die Kinder, und sie merkte, dass er Mühe hatte, seinen Frust zu unterdrücken.
»Aber ganz egal, wie es mit diesen beiden Fällen weitergeht, ich stehe jedenfalls ab Montag nicht mehr zur Verfügung. Denn« – er sah ihr wieder in die Augen und lächelte – jenes breite Grinsen, das sein ganzes Gesicht erstrahlen ließ und das sie so liebte – »ich habe es nun einmal versprochen. Dir – und einer gewissen kleinen Alice.«
Ehe sie etwas erwidern konnte, klingelte es an der Tür.
»Wenn man vom Teufel spricht«, meinte Kincaid und warf einen Blick zu den Seitenfenstern neben der Haustür. »Beziehungsweise von den Teufeln.«
Es waren Melody und Doug, beide ungewohnt leger in Jeans und Pullover gekleidet, und beide mit roten Wangen und leuchtenden Augen.
»Haben wir die Torte verpasst?«, fragte Doug, als sie eintraten. »Ich will doch schwer hoffen, dass noch was da ist.«
»Ich habe eine Belohnung verdient«, sagte Melody. »Ich habe schließlich Kisten geschleppt wie ein Schwerstarbeiter.«
»Es waren doch bloß ein paar CDs«, protestierte Doug.
»Ja klar, bloß ein paar CDs.« Melody sah Gemma an und verdrehte die Augen. »Ha. Ich brauche eine Stärkung. Ich habe jetzt wirklich eine Stärkung verdient. Wir haben den Wagen bei mir stehen lassen, damit ich nicht wegen Alkohol am Steuer drankomme.«
»Ich bitte dich, es ist ein Kindergeburtstag!«, sagte Doug, doch es klang nicht wie eine ernst gemeinte Ermahnung.
»Mag sein, dass es ein Kindergeburtstag ist, aber für das Wohl der Erwachsenen ist trotzdem gesorgt. Auf dem Herd steht Glühwein.« Kincaid winkte sie zur Küche.
Da hörte Gemma draußen eine Autohupe. Das war Wesleys Zeichen. Als sie zum Fenster hinausschaute, sah sie den weißen Transporter des Cafés in eine Parklücke zurücksetzen.
»Die Torte ist da«, flüsterte sie. »Alle auf ihre Plätze!«
Wesley hatte nicht zu viel versprochen. Die runden Schichten von Zitronentorte – Charlottes Lieblingskuchen – waren mit kunstvollen Zuckergussschnörkeln verziert. Und ganz oben, ebenfalls aus Zuckerguss geformt, thronte eine perfekt nachgebildete kleine Alice im gelben Kleid, nur dass diese Alice milchkaffeebraune Haut und eine Fülle hellbrauner Löckchen hatte. In Griffweite neben ihr, schräg auf die Torte gesteckt, stand das kleine Apothekerfläschchen, das Gemma auf dem Flohmarkt entdeckt hatte.
»Wahnsinn«, hauchte Gemma, als Wesley die Torte genau in der Mitte des Esszimmertischs platzierte. »Die ist ja wirklich perfekt. Wes, wie hast du –«
»Ich hab die Torte gemacht. Für die Dekoration war Otto zuständig. Du weißt ja, dass er gelernter Konditor ist.«
»Wo soll ich denn nur die Kerzen hintun?«, fragte Gemma, von plötzlicher Panik gepackt. »Ich kann doch die Torte nicht ruinieren. Sie ist ein echtes Kunstwerk.«
»Aber wir essen sie doch hinterher sowieso auf«, meinte Wes lachend. Er nahm die drei gedrehten Kerzen, die sie gekauft hatte, und verteilte sie strategisch am Rand der Torte. »Beeil dich – ich halte die Kamera bereit, du zündest die Kerzen an. Da kommt sie schon.«
Hazel und Tim hatten die Kinder aus dem Garten hereingeholt, zusammen mit den Hunden, die aus ihrer Gefangenschaft entlassen worden waren. Bald war das ganze Zimmer erfüllt von einer Kakophonie aus wildem Gebell und einer ziemlich misstönenden Version von Happy Birthday.
Gemma war sich sicher, dass sie den Ausdruck ehrfürchtigen Staunens in Charlottes Gesicht beim Anblick der Torte nie vergessen würde.
Nach ein paar aufmunternden Worten von Kit und mit etwas ungebetener Hilfe von Toby blies Charlotte ihre drei Kerzen aus und brach prompt in Tränen aus.
Ehe Gemma herbeieilen konnte, um sie zu trösten, nahm Duncan sie schon auf den Arm und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Mit dem Kopf an seiner Brust nickte Charlotte und schielte noch einmal verstohlen nach der Torte.
Duncan griff nach der kleinen braunen Flasche und pflückte sie von der Torte. Nachdem er den Zuckerguss vom Boden gewischt und sich mit einem übertriebenen »Mjam!« den Finger abgeleckt hatte, drückte er Charlotte das Fläschchen in die Hand.
»Was steht da?«, fragte er und zeigte auf Gemmas kleines handgeschriebenes Etikett.
»Trink mich«, flüsterte sie und schlang die Finger fest um das Glas.
»Da siehst du mal, was du schon für ein großes Mädchen bist mit deinen drei Jahren – du kannst sogar schon lesen!« Er drückte sie noch einmal und setzte sie ab. »Und jetzt lass uns die Torte probieren.«
Wesley und Kit hatten sie schon angeschnitten und begannen die Stücke zu verteilen, während Betty und Hazel Tee, Bowle und Glühwein ausschenkten, und bald unterhielten sich alle angeregt.
Nur Charlotte wollte partout keine Torte essen. Stattdessen ging sie mit ihrem kleinen Fläschchen herum, und jeder musste es ausgiebig bewundern.
Gemma fragte sich, ob Charlotte sich wohl an ihren letzten Geburtstag erinnerte; ob ihre Eltern ihr einen Kuchen gebacken und für sie gesungen hatten. Sie würde es nie erfahren – es sei denn, Sandra Gilles hätte es in ihren Tagebüchern oder auf Fotos festgehalten. Die aber wurden als Vermächtnis für Charlotte unter Verschluss gehalten, bis sie alt genug wäre, um etwas damit anfangen zu können.
Doch jetzt hatte Charlotte eine neue Familie, dachte Gemma, und sie würden sich nach und nach ihre eigenen Erinnerungen schaffen.
Hazel trat zu Gemma und nahm sie kurz in den Arm. »Fantastische Party.« Dann drehte sie ihre Freundin ein wenig zur Seite und flüsterte ihr ins Ohr: »Sag mir bitte, ob ich unter Halluzinationen leide.«
Gemma folgte Hazels Blick und sah, wie Charlotte sich an Erns Knie lehnte. Gemmas Vater hielt ihr seine Teetasse hin, und Charlotte gab ein paar imaginäre Tropfen aus ihrem braunen Fläschchen hinein. Dann trank er einen Schluck, und Charlotte kicherte. Er duckte sich auf seinem Stuhl, als ob er schrumpfte, und diesmal reagierte Charlotte mit glockenhellem Lachen.
»Also, ich glaub’s einfach nicht«, murmelte Gemma, nachdem sie eine Weile mit offenem Mund gestarrt hatte. Mit ihr und Cyn hatte ihr Vater nie so gespielt – jedenfalls nicht, soweit sie sich erinnern konnte –, und auch nicht mit Toby oder mit Cyns Kindern. »Es geschehen noch Zeichen und Wunder.«
Sie blickte sich nach Duncan um, weil sie ihn auch an diesem besonderen Moment teilhaben lassen wollte, doch er hatte sich mit Doug und Melody in die Küche zurückgezogen.
Als sie näher trat, bekam sie ein paar Fetzen ihres Gesprächs mit.
»… nichts«, sagte Doug gerade. »Falls eine DNS-Probe abgegeben wurde, war sie jedenfalls noch nicht im System, als ich heute Morgen zuletzt nachgeschaut habe.«
Sie redeten über Angus Craig.
Gemma verharrte an der Tür. Für einen kurzen Moment eifersüchtiger Sorge um ihre Lieben hätte sie zu gerne jeden Gedanken an Angus Craig und seine Verbrechen verbannt. Sie hätte am liebsten ihre Familie in der heilen Welt dieser vergangenen Stunde eingeschlossen wie in einer bunt schillernden Seifenblase und einfach so getan, als sei es eine uneinnehmbare Festung.
Aber so naiv war sie nicht.
»Ach ja«, sagte Doug. »Ich habe herausgefunden, was Rebecca Meredith am Freitagnachmittag letzte Woche getan hat. Heute Morgen habe ich endlich Kelly Patterson im Revier Dulwich erreicht.
Sie wollte zuerst nicht mit mir reden – was ich ihr auch nicht zum Vorwurf machen kann. Aber als ich nachfragte, meinte sie, es könne ja nicht schaden, wenn sie mir verriete, dass die Kollegin von der Sitte, die an dem Tag im Revier West London zu Besuch war, Chris Abbott hieß. Rebecca hatte sie als eine alte Studienfreundin vorgestellt. Ich bin noch nicht dazu gekommen –« Er brach ab, als Kincaid sein Handy aus der Jeanstasche zog.
»Sorry«, sagte Kincaid, »aber ich muss –« Dann hatte er das Telefon am Ohr und wandte sich ab, wobei er sich das andere Ohr zuhielt, um den Partylärm auszublenden.
Gemma sah ihn nicken, und sie nahm an, dass er noch irgendetwas erwiderte, ehe er das Gespräch beendete. Dann blieb er eine Weile mit dem Rücken zu ihnen stehen.
Als er sich wieder umdrehte, war er kreidebleich im Gesicht.
»Das war Denis«, sagte er. Er suchte Blickkontakt mit Gemma. »Angus Craigs Haus ist heute in den frühen Morgenstunden bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Sowohl er als auch seine Frau waren vermutlich zu Hause, als es passierte.«