13

Die Einer sind ein eigenartiger Haufen, selbst innerhalb der ganz speziellen Welt des Rudersports. Die anderen Ruderer begegneten ihnen mit ebenso viel Verehrung wie Misstrauen – Verehrung deswegen, weil das Skullen schon immer eine höhere Form der Ruderkunst war, viel schwerer zu lernen als das Riemenrudern, wie es an den Colleges betrieben wurde.

Daniel J. Boyne, The Red Rose Crew: A True Story of Women, Winning, and the Water

Alles brannte vor Schmerzen – Beine, Arme, Schultern, Brustkorb. Er hätte alles dafür gegeben, dass es aufhörte. Alles, sogar sein Leben.

Aber irgendein kleiner Teil seines Gehirns, benebelt vom Sauerstoffmangel, sagte ihm, dass er das nicht durfte. Er durfte nicht nachlassen, durfte nicht sterben. Noch nicht.

Wasser, eiskaltes, schmutziges Wasser aus dem Gezeitenstrom der Themse schwappte über seine Füße und begann über die Seiten des Boots zu strömen. Aber es hätte ebenso gut Sirup sein können, so zäh, wie der Achter vorankam.

Es war, als sei das Boot aus Zement, und jeder Zug am Riemen war unendlich mühsam. Irgendjemand hatte sich ausgeklinkt, hatte aufgegeben, und die anderen zogen ihn mit wie Ballast. Wer zum Teufel war es? Der Zorn wallte in ihm auf, doch seine Lippen waren zu kalt, als dass er ihn hätte hinausbrüllen können.

Von Steuerbord und Backbord hörte er die heiseren Verwünschungen der anderen Männer, die auch zu erschöpft zum Schreien waren. Und dann: »Zieht, verdammt noch mal! Zieht endlich, ihr faulen Säcke!«, schrie der Steuermann, der Einzige unter ihnen, der noch genug Kraft hatte, sich Gehör zu verschaffen. »Steuerbord, Steuerbord, passt mit den Riemen auf! Sonst kommen wir noch –«

Zu spät. Ihre Blätter stießen gegen die des anderen Boots, die Ruder verhedderten sich. Ein Krachen, ein stechender Schmerz in seiner Brust – der Griff seines Riemens, der ihn mit voller Wucht traf –, und dann wurde ihm das Ruder aus der Hand gerissen.

»Nein!«, schrie er. »Nein!« Das würden sie nie mehr aufholen. Er musste –

Doch das eisige Wasser schwappte über seinen Mund, sein Gesicht. Das Boot ging unter, und er bekam keine Luft –

Freddie erwachte schweißgebadet. Keuchend und nach Luft ringend, schlug er wie wild um sich, im Laken verheddert wie gefesselt.

»Scheiße. O verdammte Scheiße.« Er setzte sich auf und schob die Bettdecke zurück. Der verfluchte Boat-Race-Alptraum. Den hatte er seit Jahren nicht mehr gehabt. Sein Unterbewusstsein hatte das katastrophale Schlechtwetter-Rennen vermischt mit – mit dem, was Becca zugestoßen sein musste. Du lieber Gott.

Aber die Erkenntnis, dass er nur geträumt hatte, brachte ihm kaum Erleichterung. Denn im Wachzustand fühlte er sich genauso hilflos und ausgeliefert.

Bis Ross es gestern in der Bar angesprochen hatte, war ihm nicht klar gewesen, dass die Polizei ihn tatsächlich verdächtigen könnte, Becca getötet zu haben. »Die gehen immer zuerst davon aus, dass es der Ehepartner war«, hatte Ross gesagt. »Oder in deinem Fall der Exmann.«

Im Schockzustand der ersten Stunden nach Beccas Tod hatte Freddie einfach angenommen, ihre Fragen seien reine Routine. Jetzt begriff er, was für ein Idiot er gewesen war, dass er kein Alibi hatte für die Zeit, als Becca ertrunken sein musste, und keine Möglichkeit, die Polizei von seiner Unschuld zu überzeugen. Er war genauso verloren, wie er es in seinem Traum gewesen war.

Er ließ sich auf das feuchte, zerwühlte Kopfkissen zurücksinken. Spielt es denn überhaupt eine Rolle?, fragte er sich. Denn nichts von dem, was ihm geblieben war, schien jetzt noch die geringste Bedeutung zu haben.

Kincaid ließ sich das üppige englische Frühstück im Red Lion schmecken – mit nur einem leisen Anflug von schlechtem Gewissen, weil er Doug Cullen diesen Genuss am gestrigen Morgen verwehrt hatte. Als er fertig war, hatte er noch eine halbe Stunde, bis er Doug am Bahnhof abholen musste, und da es ein frischer, sonniger Herbstmorgen war, verließ er das Hotel und ging über die Straße zur Henley Bridge.

Dort lehnte er sich ans Brückengeländer und blickte flussabwärts, wo die Mannschaft des Leander-Clubs gerade zum Training aufbrach. Vierer und Achter stießen sich vom Anleger ab, und nachdem die Ruderer noch letzte Hand an ihre Ausrüstung gelegt und die Einstellung überprüft hatten, senkten sie synchron ihre Ruder ins Wasser. Kleine Tröpfchen flogen von den Blättern, als sie wieder auftauchten, und glitzerten wie Diamanten im klaren Morgenlicht.

Die Boote glitten flussabwärts davon, während die Trainer ihnen auf dem Uferpfad mit dem Fahrrad folgten. Kincaid erkannte Milo Jachym, der dem Frauenachter Anweisungen zurief.

Er sah ihnen nach, bis Boote und Trainer aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Dann wandte er sich ab und ging in Gedanken versunken die Thames Side hinauf in Richtung Bahnhof. Als er die Station Road erreichte, sah er auf seine Uhr und stellte fest, dass er immer noch zu früh dran war, also ging er weiter den Fußweg entlang, bis er vor dem River and Rowing Museum stand. Beim Frühstück hatte er in einem Prospekt von dem Museum gelesen, und dabei war ihm eine Idee gekommen.

Drinnen widerstand er den Verlockungen des Museumsshops, randvoll mit potenziellen Geschenken für Gemma und die Kinder, und ließ auch die Ausstellung zu dem Kinderbuchklassiker Der Wind in den Weiden schweren Herzens links liegen.

Stattdessen stieg er die Treppe hinauf und betrat die lange Galerie, wo der Vierer ohne Steuermann von Sydney 2000 als Dauerexponat von der Decke herabhing. In diesem Boot hatten Steve Redgrave, Matthew Pinsent, Tim Foster und James Cracknell bei den Olympischen Spielen von Sydney für Großbritannien Gold gewonnen. Laut der Infotafel war es ein britisches Boot der Marke Aylings, eine Sonderanfertigung für speziell diese Mannschaft und dieses Rennen.

Von unten betrachtet, wirkte der lange weiße Rumpf beinahe unwirklich in seinen Proportionen, so unglaublich langgestreckt und schlank, dass man sich unwillkürlich fragte, wie das funktionieren sollte. Seinem natürlichen Element, dem Wasser, entrissen, hätte es auch das fliegende Schwert eines Riesen sein können.

Auf einem großen Bildschirm am Ende des Saals lief in einer Endlosschleife ein Video des Rennens. Kincaid hatte es damals natürlich gesehen – der Sieg von Team GB hatte tagelang sämtliche Nachrichten- und Sportsendungen beherrscht –, aber er hatte meist nur mit halbem Auge hingeschaut.

Nun jedoch sah er sich die sechs Minuten des Rennens aufmerksam an, gebannt von der Demonstration der Kraft, dem Anblick der schmerzverzerrten Gesichter und der schieren, atemberaubenden Schönheit des Ganzen. Als der Film von vorne anfing, wandte er sich widerstrebend ab, während die Jubelrufe der Zuschauer ihm noch in den Ohren tönten.

Er hatte gehofft, besser zu verstehen, wer Rebecca Meredith gewesen war, was sie angetrieben hatte. Und während er das Boot betrachtete und das Video verfolgte, kam ihm der Gedanke, dass Rudern auf diesem Niveau wohl eine Erfahrung sein musste, die jenseits des Horizonts der meisten Normalsterblichen lag – ein verführerischer Kreislauf aus Schmerz, rauschhaftem Hochgefühl und nahezu unfassbarer Eleganz.

Aber hatte es für Rebecca Meredith mehr bedeutet als alles andere in ihrem Leben? Hatte es ihr so viel bedeutet, dass sie dafür in einen Deal einwilligte, der sie auf ganz andere Weise beschädigt hätte als Angus Craigs Tat?

»Verdammt«, sagte Doug Cullen. Er stand neben Kincaid auf dem Rasen vor der geschwärzten Ruine von Kieran Connollys Bootsschuppen.

Vom Bahnhof waren sie zum Bootsverleih oberhalb der Henley Bridge gegangen und hatten eine kleine Motorbarkasse gemietet, um auf die Insel zu gelangen. Kincaid hatte Cullen bereitwillig das Steuer überlassen, der sie auch sehr geschickt über den Fluss lotste und das Boot ganz sanft an den Anleger manövrierte.

Zwei uniformierte Brandermittler durchsuchten systematisch die Trümmer, fotografierten, maßen aus und nahmen Proben. Kincaid vermutete, dass das Motorboot, das an dem größeren Anleger des Nachbargrundstücks festgemacht war, den beiden gehörte. Das blau-weiße Absperrband, das rund um den Schuppen zwischen Pflöcken gespannt war, flatterte leicht in der aufkommenden Brise.

Der Fotograf kam aus dem Schuppen und ging über den handtuchgroßen Rasen auf sie zu.

Kincaid hielt seinen Dienstausweis hoch. »Superintendent Kincaid, Sergeant Cullen. Scotland Yard.«

»Owen Morris, Brandermittlung Oxfordshire.« Morris nahm die Kamera in die linke Hand, um Kincaid und Cullen zu begrüßen. »Hab Sie schon erwartet.« Er hatte kurz geschorenes, graublondes Haar und die rötliche Gesichtsfarbe eines hellhäutigen Mannes, der zu viel Zeit in der Sonne verbracht hatte.

Der Geruch der nassen Asche war noch stark, selbst an diesem kühlen Morgen, und Kincaid konnte sich vorstellen, dass der Gestank gestern in der feuchtwarmen Luft unerträglich gewesen war.

»Dieser Bursche hat verdammt viel Glück gehabt«, sagte Morris und deutete mit dem Kopf zum Schuppen, wo seine Partnerin, eine junge Rothaarige, die Kincaid einen kurzen Moment lang an Gemma erinnerte, noch damit beschäftigt war, Proben zu nehmen und die Stellen in einem Diagramm zu vermerken.

Kincaid zog überrascht eine Augenbraue hoch. »Glück? Ich finde, es sieht verheerend aus.«

»Ein ziemliches Chaos, ja, aber der Baukörper ist noch intakt. Die Wände, alle Deckenbalken bis auf einen, sogar fast das ganze Dach.« Morris schüttelte den Kopf. »Die Bude war voll mit Lösungsmitteln. Noch ein paar Minuten länger, und die ganze verdammte Insel hätte in die Luft gehen können.«

»Haben die den Brand ausgelöst?«, fragte Kincaid. »Die Lösungsmittel?«

»Nein. Sehen Sie sich das mal an.« Morris ging zum Schuppen, und sie folgten ihm. Er wies auf das, was vom Fenster übrig war – nur noch ein Loch in der Wand und ringsum ein paar zersplitterte Rahmenstücke. »Es war tatsächlich ein Molotowcocktail. Wir haben Reste der Flasche und des Lappens gefunden, der als Lunte diente. Und Sie können sehen, wie sich die Flammen trichterförmig ausgebreitet haben.«

Kincaid spähte in den Schuppen, konnte aber außer Ruß, Trümmern und Wasserpfützen nicht viel erkennen. »Wenn Sie es sagen … Aber wurde der Brandsatz tatsächlich durch dieses Fenster geworfen?«

»Da bin ich mir ziemlich sicher. Es ist nur eine Dose Lösungsmittel explodiert, aber die könnte für die Platzwunde am Kopf verantwortlich sein, die der Besitzer davongetragen hat.«

Kincaid drehte sich um und blickte zum Ufer hinüber, um die Entfernung abzuschätzen. »Wäre wohl nicht allzu schwierig gewesen, den Molotowcocktail von einem Boot aus zu werfen?«

»Nein, nicht für jemanden mit kräftigen Armen«, pflichtete Morris ihm bei. »Ich will ja nicht sexistisch sein, aber das spricht doch eher für einen Mann.«

Cullen ging zum Anleger zurück und blickte den Flussarm hinauf und hinunter. »Wir haben die Bootsverleiher überprüft, weil wir dachten, der Täter hätte sich vielleicht ein kleines Boot ›ausgeliehen‹. Warum nicht auch ein Rennruderboot, einen Einer? Es spricht nichts dagegen, dass ein Ruderer sich dem Ufer genähert, dann die Flasche geworfen hat und gleich wieder davongerudert ist. Lautlos, schnell und nahezu unsichtbar.«

Kincaid dachte darüber nach. »Wir sind davon ausgegangen, dass Rebecca Meredith’ Mörder ein Ruderer ist. Das würde also passen. Aber wo ist er ins Boot gestiegen?«

Doug zuckte mit den Achseln. »Es gibt hier drei Ruderclubs in bequemer Reichweite für einen erfahrenen Ruderer. Oder –« Er wies auf den Einer, der ein paar Meter vom Schuppen entfernt lag. Der Rumpf war mit Ruß verschmiert, schien aber keine größeren Schäden davongetragen zu haben. »Ich nehme an, das da ist Connollys Boot. Wer weiß, wie viele Boote es auf den Privatgrundstücken entlang des Flusses noch gibt.«

»Im Schuppen war auch ein Boot«, warf Morris ein. »Sieht aus, als hätte Connolly es gerade repariert. Leichte Brandschäden, aber nichts Ernstes. Und das« – er zeigte auf einen mit einer Zeltplane verhüllten Gegenstand am anderen Ende des kleinen Vorgartens – »das nenne ich ein echtes Wunder. Nicht ein Krümel Asche auf dem Ding.«

Sie gingen über das Gras, und Doug hob die Plane an. »Wahnsinn«, flüsterte er und riss die Augen auf. Er zog die Plane noch weiter herunter, langsam und ehrfürchtig wie ein Verehrer, der eine wunderschöne Frau entkleidet. Als das Boot freilag, trat er zurück und stieß einen leisen Pfiff aus.

Es war ein Renn-Einer, doch er war aus Holz, nicht aus Kunststoff. Der Rumpf war schon fertiggestellt und glänzte frisch lackiert.

Es hätte eine kleinere Version des Sydney-Vierers sein können, der im Museum hing, dachte Kincaid, doch das Holz verlieh dem Boot eine ganz besondere Qualität – es vibrierte förmlich vor Leben. Er streckte die Hand aus und strich über die Maserung der makellos zusammengefügten und abgeschmirgelten Teilstücke. Das Holz fühlte sich an wie Samt, und es war warm unter seiner Hand.

»Mahagoni, schätze ich«, sagte Morris. »Ich arbeite ja auch ein bisschen mit Holz, aber das da« – er schüttelte den Kopf – »das übertrifft alles, was ich bisher gesehen habe. Ganz bestimmt nicht das Werk eines Amateurs. Es ist ein Prachtstück.«

»Rudert überhaupt noch jemand in Holzskiffs?«, fragte Kincaid.

»Doch, der eine oder andere schon.« Doug streckte ebenfalls die Hand aus und strich über den Bootsrumpf. »Kenner und Liebhaber. Und ein paar Leute fahren auch Regatten in so was, aber wohl nicht auf Meisterschaftsniveau. Aber das hier – das will man nur besitzen, weil es einfach wunderschön ist.« Er ging um das Boot herum und betrachtete es eingehend. »Das ist nicht bloß eine handwerkliche Meisterleistung. Das ist Kunst. Das Design kann mit jedem Hightech-GFK-Boot mithalten, das ich kenne – wenn es nicht sogar besser ist; aber ich bin kein Experte.«

Er blickte plötzlich erschrocken auf, die Augen weit aufgerissen. »Man kann dieses Boot nicht einfach hier draußen stehen lassen. Da könnte weiß Gott was passieren. Es ist vielleicht ein Vermögen wert.«

»Ein Vermögen?«, fragte Kincaid nach. »Das ist ein relativer Begriff.«

»Na ja, ein Vermögen für jemanden wie mich«, gab Doug zu. »Aber ein Boot wie dieses wäre selbst für einen Spitzen-Skuller eine kostspielige Angelegenheit. Und wenn das Design einmalig ist« – er zuckte mit den Achseln – »wer weiß?«

Hätte irgendjemand für ein Boot wie dieses einen Mord begehen können?, fragte sich Kincaid. War es denkbar, dass der Anschlag auf Kieran mit diesem Boot in Zusammenhang stand, und gar nicht mit Rebecca Meredith? Oder war beides in einer Weise miteinander verbunden, die er nicht erkennen konnte?

»Wir werden uns bei nächster Gelegenheit mit Kieran Connolly darüber unterhalten«, sagte er. »Aber zuerst muss ich wissen, ob die Spurensicherung an der Stelle, von der Connolly sprach, irgendetwas gefunden hat. Und wir müssen herausfinden, wie der Kerl, der das hier getan hat« – sein Blick streifte den ausgebrannten Schuppen – »hierhergekommen ist. Sie haben allerdings recht, was das Boot betrifft, Doug«, fügte er nachdenklich hinzu. »Es muss sicher verwahrt werden.«

»Der Nachbar war sehr hilfsbereit«, sagte Morris. »Und er hat einen kleinen Schuppen. Vielleicht könnten wir es dort für Mr. Connolly einschließen. Ich frage ihn mal, wenn wir hier mit der Spurensicherung fertig sind.«

Kincaid nickte. »Gute Idee.« Er wandte sich zu Cullen. »Doug, ich werde veranlassen, dass jemand bei den anderen Ruderclubs nachfragt, wenn Sie noch mal zum Leander gehen möchten. Reden Sie mit Milo Jachym und dem übrigen Personal. Finden Sie heraus, ob jemand gestern Abend ein Skiff genommen hat. Und fragen Sie, ob jemand Freddie Atterton im Club gesehen hat. Sie werden sich dort bestimmt wie zu Hause fühlen«, fügte er grinsend hinzu. »Ich bin derweil in der SOKO-Zentrale. Ich habe die Presse heute Morgen noch vertröstet, aber irgendwann werde ich –« Das Läuten von Cullens Handy unterbrach ihn.

»Tut mir leid, Chef«, sagte Cullen und zuckte entschuldigend mit den Achseln, während er das Telefon aus der Jackentasche hervorzog. Er meldete sich, nannte seinen Namen und warf Kincaid einen vielsagenden Blick zu, während er sprach. Dann dankte er dem Anrufer und legte auf.

»Das dürfte Ihnen nicht gefallen«, sagte er zu Kincaid. »Dem Chief dafür umso mehr. Das war Rebecca Meredith’ Versicherungsmakler, den ich um Rückruf gebeten hatte. Wie es aussieht, war Freddie Atterton nach wie vor der Begünstigte ihrer Lebensversicherung. Und es geht um eine Summe von fünfhunderttausend Pfund.«

Gemma stand schon in der Küchentür, drehte sich aber noch einmal um. »Sie kommen doch zurecht, ja?«

Alia blickte von dem winzigen Teeservice auf, das auf dem Küchentisch aufgebaut war, und schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. »Aber klar doch. Keine Sorge.«

Die junge Frau, deren Familie aus Bangladesch stammte, war Charlottes Kindermädchen gewesen, als die Kleine noch mit ihren Eltern in der Fournier Street gewohnt hatte. Am Abend zuvor, nachdem Kincaid nach Henley aufgebrochen war, war Gemma das Bild von Angus Craig einfach nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Sie wollte ihre Idee in die Tat umsetzen und Melody bitten, die Akten des Sapphire-Projekts zu durchforsten, und hatte deshalb Alia angerufen, um sie zu fragen, ob sie an diesem Morgen auf Charlotte aufpassen könne.

Alia hatte tatsächlich Zeit und schien sich zu freuen, dass Gemma sie fragte. Vor einer halben Stunde war sie eingetroffen, und bei einem Schlückchen Milch aus den Puppentassen hatten sie und Charlotte ein freudiges Wiedersehen gefeiert. Charlotte hatte die Ankündigung, dass Gemma weggehen würde, gelassen aufgenommen. Toby war bei Nachbarskindern zu Besuch, und Kit hatte sich mit den Hunden in sein Zimmer zurückgezogen, um, wie er sagte, an einem Schulprojekt zu arbeiten, das er nach den Ferien abgeben musste. Für den Moment herrschte im Haus eine geradezu unheimliche Ruhe.

Als Gemma jetzt Alia betrachtete, fand sie, dass die junge Frau schlanker geworden war; ihr Haar hatte mehr Glanz, und ihre Haut wirkte reiner. »Was macht das Studium?«, fragte sie. Alia hatte sich in den Kopf gesetzt, Anwältin zu werden, obwohl sie dabei kaum auf die Unterstützung ihrer sehr traditionell eingestellten Familie rechnen durfte.

»Läuft ganz gut, doch.« Mit einem feingliedrigen braunen Finger schob Alia Charlottes Teetässchen vom Tischrand weg. Gemma hätte schwören können, dass sie leicht errötete. »Rashid hilft mir beim Lernen.«

»Rashid?« Gemma sah sie überrascht an. Sie meinte doch nicht etwa Rashid Kaleem?

»Na, Sie wissen schon, dieser Rechtsmediziner«, antwortete Alia und bestätigte damit Gemmas Vermutung. »Er sagt, er kennt Sie. Er hilft in der Beratungsstelle aus, seit …« Sie verstummte.

Alia hatte Charlottes Eltern Naz und Sandra vergöttert, und sie hatte zusammen mit Sandra als ehrenamtliche Helferin in einer Beratungsstelle im East End gearbeitet, die asiatischen Frauen aus dem Viertel in Fragen von Gesundheit und Sexualhygiene zur Seite stand. Jetzt fiel Gemma wieder ein, dass sie es gewesen war, die Rashid von der Beratungsstelle erzählt hatte. Wie typisch für ihn, dass er sofort ganz unkompliziert seine Hilfe angeboten hatte. Und dass er sich dieser jungen Frau, die jetzt ohne Naz’ und Sandras Unterstützung dastand, als Mentor zur Verfügung stellte.

Aber Alia war jung und leicht zu beeinflussen, und bei Rashid Kaleems Anblick konnten durchaus auch ältere und klügere Frauen ins Schwärmen geraten. Gemma hoffte nur, dass er dem Mädchen nicht unwissentlich das Herz brechen würde.

»Oh, toll. Das ist wirklich fantastisch«, sagte sie, als sie Alias enttäuschte Miene bemerkte.

»Lia, ich will Lastwagen«, sagte Charlotte und rettete damit Gemma aus der peinlichen Situation. Sie rollte einen von Tobys Spielzeuglastern über den Tisch. »Können Lastwagen auch Tee trinken?«

Sie thronte hoch auf dem Küchenstuhl neben Alia und ließ ihre Füße baumeln, die in kleinen Turnschuhen steckten. Eine der Spangen, die ihr Gemma am Morgen so sorgfältig ins Haar gesteckt hatte, schien sich gelöst zu haben, und ihr T-Shirt war vorne mit Matsch verschmiert – wenigstens hoffte Gemma, dass es Matsch war. Sie ist so gar nicht das zarte Püppchen, als das ich sie zuerst gesehen hatte, dachte Gemma … nicht, dass sie gewusst hätte, was sie mit so einem Püppchen anfangen sollte.

»Lastwagen trinken Diesel«, erklärte Alia, »aber heute dürfen sie vielleicht ausnahmsweise mal Tee trinken.« Sie warf Gemma einen vielsagenden Blick zu und formte mit den Lippen: »Gehen Sie!«

»Okay.« Gemma rückte den Riemen ihrer Handtasche auf der Schulter zurecht. »Sie haben ja meine Handy…«

»Aber klar doch.« Alia verdrehte die Augen.

»Gut.« Gemma gab sich geschlagen. »Dann also bis später.« Sie musste sich beherrschen, um Charlotte nicht zum Abschied noch einmal zu drücken. Schließlich wollte sie dem Kind ja das Klammern abgewöhnen, mahnte sie sich, und es nicht noch darin bestärken. Sie holte tief Luft, winkte den beiden fröhlich zu und ging rasch hinaus, ehe sie es sich noch einmal anders überlegen konnte.

Doch als sie erst einmal draußen war, schien der sonnige Tag sie willkommen zu heißen, und sie empfand ihre plötzliche Freiheit als belebend und stärkend. Sogleich marschierte sie los und genoss es, mal wieder so richtig herzhaft und ungehindert gehen zu können, im Erwachsenentempo eben. Als sie in die Lansdowne Road einbog, beschloss sie, auf dem Weg zum Revier einen kleinen Umweg zu machen.

Zehn Minuten später betrat sie das Revier Notting Hill, beladen mit zwei Caffè-Latte-Bechern vom Starbucks in der Holland Park Avenue. Melody hatte ihr schon so oft Kaffee gebracht, da wurde es Zeit, dass sie sich einmal revanchierte.

»Inspector!« Der Wachhabende, ein grauhaariger Schotte namens Jonnie, der in Notting Hill schon lange vor Gemmas Zeit zum Inventar gehört hatte, strahlte sie an, als wäre sie eine lang verschollene Verwandte. »Was sehen meine müden Augen? Ich dachte, Sie sollten erst am Montag wiederkommen?«

»Stimmt schon«, erklärte Gemma. »Ich wollte nur mal auf einen Plausch bei Melody vorbeischauen.« Zur Bekräftigung hielt sie die Pappbecher hoch.

»Wie geht’s denn dem neuen Familienmitglied?«, fragte er. »Haben Sie ein Foto dabei?«

»Mehr als eins sogar«, antwortete Gemma lächelnd. Sie stellte die Kaffeebecher auf dem Tresen ab und zog ihr Handy aus der Tasche.

Sie rief die Fotos von Charlotte auf und zeigte sie dem Sergeant, der sich unter bewundernden Kommentaren durch die Bilder klickte. »Was für ein süßes Mädel«, sagte er, als er ihr das Handy zurückgab. »Sie werden die Kleine bestimmt vermissen, wenn Sie wieder arbeiten.«

»Ja, aber den Laden hier vermisse ich auch. Es wird mir guttun, wieder –«

»Chefin?« Melody trat durch die Tür des Empfangsbereichs. »Jemand hat gesagt, du wärst hier.«

»Die mysteriöse Polizeirevier-Telepathie«, meinte Gemma grinsend. »Hab nie begriffen, wie das funktioniert. So eine Art Flurfunk der übersinnlichen Art.« Jetzt fühlte sie sich wirklich wie zu Hause.

»Oh, Kaffee – super! Vielen Dank.« Melody nahm den heißen Becher und ging voran ins Innere des Gebäudes. »Ich habe vorübergehend das Sapphire-Büro in Beschlag genommen. Mike und Ginny sagen beide gerade vor Gericht aus.«

Während sie den Flur entlanggingen, hatte Gemma das Gefühl, dass das Revier sie mit offenen Armen empfing. Der leise Geruch nach Frittenfett aus der Kantine, das Auf und Ab der Stimmen, hier und da durchsetzt mit einem gedämpften Lachen, das Klackern der Tastaturen und das Klingeln der Telefone – all das war ihr so vertraut wie ihr eigener Herzschlag. »Und der Super?«, fragte sie.

»Ist in einer Dezernatssitzung. Er wird enttäuscht sein, dass er dich verpasst hat – aber du siehst ihn ja bald wieder. Und dein eigenes Büro hast du auch bald wieder«, fügte Melody befriedigt hinzu.

Gemma zögerte. »Ähm, Melody, ich bin eigentlich ganz froh, dass er nicht da ist, wenn ich ehrlich sein soll.« Sie hatte immer ein gutes Verhältnis zu ihrem Boss Superintendent Mark Lamb gehabt, doch ihm zu erklären, was sie hier genau tat, wäre mehr als heikel gewesen.

Melody schien sofort alarmiert. Sie warf Gemma einen forschenden Blick zu und schloss die Tür des Sapphire-Büros hinter ihnen. Der kleine Raum war mit Computern, Aktenschränken und den persönlichen Gegenständen von Melodys Kollegen vollgestellt. Melody setzte sich an ihren eigenen Schreibtisch, der von allen dreien bei weitem der ordentlichste war. »Also, was ist das Problem, Chefin?«

Als Gemma sie am Abend zuvor angerufen hatte, hatte sie nur erklärt, dass sie einen Blick in die Akten werfen wollte. Jetzt nahm sie sich einen der anderen Stühle – den der abwesenden Ginny, vermutete sie, wenn sie sich den Herzchen-und-Blümchen-Kaffeebecher und die Topfpflanze auf dem Schreibtisch ansah – und sagte: »Können wir nach sämtlichen weiblichen Polizeibeamten suchen, die eine Vergewaltigung durch einen unbekannten Täter angezeigt haben?«

Melody runzelte die Stirn. »Weibliche Polizeibeamte? Ist das alles? Keine weiteren Parameter?«

Gemma kramte in ihrem Gedächtnis. Rebecca Meredith hatte Superintendent Gaskill die Vergewaltigung vor einem Jahr gemeldet. Ihre eigene, glücklicherweise jäh abgebrochene Begegnung mit Craig lag fast schon fünf Jahre zurück. Aber sie vermutete, dass Craig seine Methoden schon seit längerer Zeit praktizierte, als er sie an jenem Abend nach Leyton gebracht hatte. »Können wir zehn Jahre zurückgehen?«, fragte sie mit einem innerlichen Schauder.

Melodys Augen weiteten sich. »Sonst hast du keine Wünsche?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin gut, aber auch ich habe meine Grenzen. Das könnte eine Weile dauern.« Sie sah Gemma gerade in die Augen. »Aber könntest du mir vielleicht erst mal verraten, was wir hier überhaupt machen?«

Gemma empfand plötzlich abgrundtiefen Abscheu, und die Freude über diesen Tag war ihr schlagartig verdorben, wenn sie daran dachte, was Angus Craig anderen Frauen angetan haben könnte.

Und ihre Erleichterung darüber, dass sie ihren Chef auf dem Revier nicht angetroffen hatte, machte ihr noch einmal bewusst, wie riskant dieses Unterfangen möglicherweise war. »Melody, hör zu, ich kann verstehen, wenn du dich da lieber raushalten willst. Duncan hat schon von ganz oben die Anweisung bekommen, die Finger davonzulassen, und ich will dich nicht um etwas bitten, das deiner Karriere schaden könnte.«

»Chefin! Ich bitte dich.« Melody hielt mit den Händen über der Tastatur inne. »So gut kennst du mich doch inzwischen. Sag mir einfach, wonach wir suchen. Wie schlimm kann es denn sein?«

»Wir suchen nach einem pensionierten Deputy Assistant Commissioner, der möglicherweise ein Serienvergewaltiger ist«, antwortete Gemma. »Und ich glaube, dass es tatsächlich sehr schlimm sein könnte.«