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Es ist eine Ruderregatta auf der Themse, über viereinviertel Meilen von Putney nach Mortlake, ausgetragen zwischen zweien der renommiertesten Universitäten der Welt, Oxford und Cambridge. Die Wettkämpfer trainieren zweimal täglich an sechs Tagen in der Woche; sie geben alles, um das große Ziel zu erreichen, für ihre Universität antreten zu dürfen. Alles andere in ihrem Leben tritt dagegen in den Hintergrund. Sie tun es nicht für Geld, sondern für die Ehre und für die Hoffnung auf den Sieg. Es gibt keinen zweiten Platz, denn der zweite ist der letzte. Sie nennen es einfach The Boat Race.

David und James Livingston, Blood Over Water

Das hartnäckige Läuten des Telefons drang wie kleine Nadelstiche in Freddies Bewusstsein. Er hätte das Geräusch am liebsten verscheucht wie eine lästige Fliege, doch sein Gehirn schien die Verbindung zu seinem Körper zu verweigern. Erst als das Läuten aufhörte, gelang es ihm, ein Auge aufzuschlagen. Er lag auf dem Rücken, doch was er sah, war nicht die Decke seines Schlafzimmers.

Er kniff die Augen wieder zu, während er das Bild einzuordnen versuchte. Eine gewölbte Decke. Weiß. Schwarze Balken. Schließlich dämmerte es ihm – es war sein Wohnzimmer.

Mit wachsender Panik schlug er beide Augen auf und hob den Kopf. Ein jäher Schmerz durchzuckte seinen Schädel, doch bevor er die Augen wieder schloss, hatte er schon gesehen, dass er auf seinem Sofa lag und dass er immer noch Hemd und Anzugshose trug, allerdings keine Schuhe und auch – er fasste sich an den Kragen – keine Krawatte. Sein Telefon lag auf dem Couchtisch, daneben stand eine leere Flasche Balvenie mit zwei Gläsern. Eine Erinnerung flackerte in ihm auf. Milo. Er hatte mit Milo getrunken. Aber was –

Das Telefon begann wieder zu läuten, als ob seine Gedanken es ausgelöst hätten, und er stöhnte. »Sei doch einfach still«, wollte er sagen, doch es kam nur ein Krächzen heraus. Er schnappte nach dem Telefon, und die Bewegung löste eine Welle von Übelkeit aus. Zugleich war die Erinnerung wieder da.

Becca. O Gott. Die Bruchstücke setzten sich in seinem benebelten Hirn zusammen. Milo hatte ihn nach Hause gebracht und ihm einen Whisky nach dem anderen eingeschenkt. Auf dem Rückweg vom Cottage hatten sie am Spirituosenladen Halt gemacht, nachdem der Mann von Scotland Yard ihm gesagt hatte, er dürfe die Flasche Balvenie aus Beccas Haus nicht mitnehmen. Weil es nicht seine sei. Weil sie ein Beweisstück sein könnte. Weil Becca tot war.

Freddie stand schwankend auf und tappte ins Bad. Dort fiel er auf die Knie, ließ die Stirn auf die kühle Toilettenbrille sinken und erbrach sich, bis nichts mehr übrig war.

Als sein Magen endlich zur Ruhe kam, hob er den Kopf, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und begann das, was er sah, im Kopf zu katalogisieren, als könne er so sein Wissen um das Geschehene ausblenden. Grau gesprenkelter Dielenboden. Graue Wände. Die gläserne Duschkabine. Das Waschbecken aus weißem Porzellan. Die freistehende Badewanne, verkleidet mit schwarzem, vernietetem Metall. Und über allem – seine Augen schmerzten, als er sie nach oben richtete – der Kristallkronleuchter.

Als er die Wohnung nach der Scheidung gekauft hatte, engagierte er eine Innenarchitektin aus London, wohl in der Hoffnung, dass Becca von seinem neuen Lebensstil irgendwie beeindruckt sein würde.

Als sie dann gekommen war, um die Wohnung anzuschauen, hatte sie den Kronleuchter angestarrt und ihn dann mit einem ganz bestimmten Blick bedacht, jenem Blick, der hieß: Jetzt hast du wohl vollkommen den Verstand verloren.

»Der Stil soll eklektisch sein«, hatte er sich verteidigt.

»War sie hübsch?«, hatte Becca erwidert.

Als Freddies Telefon erneut zu läuten begann, fiel ihm ein, dass er es im Wohnzimmer hatte liegen lassen. Er überlegte plötzlich, ob es vielleicht jemand sein könnte, der anrief, um ihm zu sagen, dass das Ganze eine Verwechslung gewesen war, dass die Tote, die sie gefunden hatten, gar nicht Becca war. Wer war eigentlich dieser Typ, der sie identifiziert hatte? Dieser Ruderer?

Er rappelte sich auf und stolperte mit rasendem Puls ins Wohnzimmer zurück, doch bis er dort ankam, war das Telefon schon wieder verstummt. Er sah die lange Liste von verpassten Anrufen durch – alles unbekannte Nummern –, und dann entdeckte er, dass er eine Nachricht hatte. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Was, wenn –

Doch als er die Nachricht abhörte, war es eine weibliche Stimme, die sich als Reporterin der London Chronicle identifizierte und um ein Statement zu seiner Exfrau bat.

Freddie sank auf die Couch, und seine Hand, die das Telefon hielt, fiel schlaff herab.

Dann war es also wahr. Es musste wahr sein. Und ihm wurde bewusst, welche Pflicht ihm heute noch bevorstand.

Das Telefon läutete schon wieder, und die Vibrationen fuhren durch seine Finger wie eine Schockwelle. Er ließ das Telefon erst fallen, schnappte dann danach und klaubte es mit zitternden Händen auf. Wenn es diese Reporterin war, würde er ihr sagen, sie solle sich zum Teufel scheren.

Aber der Name auf dem Display war ihm vertraut, und Freddie hätte fast vor Erleichterung aufgeschluchzt, als er sich meldete. »Ross?«

»Mensch, Scheiße, Alter«, sagte Ross Abbott. »Chris hat’s in der Arbeit gehört. Sie meinte, ich soll dir sagen – Also, ich wollte dir sagen – Es tut uns so leid. Kann ich irgendwas für dich tun?«

Freddies Blick fiel auf die zwei dunkelblauen Oxford-Ruder, die an der Wohnzimmerwand hingen. Sie waren zusammen gerudert, zwei Mal, und sie waren Freunde, seit sie als picklige Jungs das gleiche Internat besucht hatten. Er klammerte sich am Rettungsring des Vertrauten fest.

»Ross, ich muss – ich muss heute noch ins Leichenschauhaus. Um sie zu identifizieren. Kannst du mitkommen?«

Kincaid hatte nicht gut geschlafen, trotz seines luxuriösen Himmelbetts. Ihm wurde bewusst, dass es Monate her war, seit er zuletzt eine Nacht getrennt von Gemma verbracht hatte, und er vermisste den friedlichen Rhythmus ihres Atems, die Wärme ihres Körpers, wenn sie einander in der Nacht berührten. Dabei hatte es in den vergangenen zwei Monaten kaum eine Nacht gegeben, in der Charlotte nicht in den frühen Morgenstunden zwischen sie gekrabbelt war – aber er stellte fest, dass er auch das vermisste.

Neuerdings hatte Charlotte die Angewohnheit, sich mit dem Rücken an Gemma zu kuscheln und den Kopf auf Duncans Schulter zu legen, sodass ihre Löckchen ihn in der Nase kitzelten. Wenn sie dann wieder eingeschlafen war, nahm derjenige von ihnen, der am wachsten war, sie hoch und legte sie wieder in ihr eigenes Bettchen, doch er selbst tat das immer ein wenig widerstrebend. Bei Kit hatte er diese Phase versäumt. Und Toby, der im Wachzustand ein solcher Wirbelwind war, hatte schon immer so fest geschlafen, als hätte man ihm den Strom abgeschaltet.

Als das erste Licht durch den Spalt zwischen den schweren Vorhängen seines Zimmers drang, stand er auf, duschte und legte seinen Hochzeitsstaat an. Nicht zum ersten Mal war er froh, dass er zu Winnies Zeremonie einen normalen Anzug getragen hatte und nicht etwa einen Cut. Er wäre sich ganz schön dämlich vorgekommen, wenn er in diesem Aufzug Verdächtige vernommen hätte.

Da er keine Zeit verlieren und möglichst bald in der SOKO- Zentrale auf dem örtlichen Polizeirevier sein wollte, rief er Cullen an und machte dessen Hoffnungen auf ein ausgiebiges Frühstück im Speisesaal des Hotels zunichte. »Auf dem Weg zur Wache gibt es ein nettes Café – Maison Blanc, wenn ich mich nicht irre«, sagte Kincaid. »Wir können uns dort Kaffee und Gebäck holen, und unterwegs berichten Sie mir dann von Ihren Recherchen.«

Ein paar Minuten später trafen sie sich in der Lobby. Als sie vor die Tür traten, wurden sie von milchigem Sonnenschein und beinahe frühlingshafter Luft begrüßt. Kincaid blickte zu den Wolken auf, die langsam am Himmel vorüberzogen, und runzelte die Stirn. »Ich traue diesem Wetter nicht. Aber hoffentlich bleibt es noch eine Weile so, dann haben die Kollegen von der Spurensicherung draußen am Boot leichtere Arbeit.« Er marschierte zügig los in Richtung Marktplatz. »Und, was haben Sie so über Mr. Atterton herausgefunden?«, fragte er.

Cullen schob seine Brille hoch und verschränkte im Gehen die Hände hinter dem Rücken wie ein dozierender Professor. »Frederick Thomas Atterton, nach seinem Vater Thomas, einem hoch angesehenen Banker in der City. Aufgewachsen in Sonning-on-Thames, einem Dorf im Osten von Reading. Eine ländliche Idylle à la Der Wind in den Weiden, meint Melody.«

»Melody?«

»Mit einem Telefon als einziger Ausstattung waren meine Möglichkeiten naturgemäß etwas eingeschränkt.« Cullen zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Da musste ich eben fremde Hilfe in Anspruch nehmen. Also, jedenfalls hat Atterton die Bedford School besucht, wo sein Rudertalent entdeckt wurde. Anschließend Oriel College in Oxford, wo er einen mittelmäßigen Abschluss in Biologie machte. Im Rudern hat er es aber offenbar weiter gebracht, denn er konnte zwei Mal einen Platz im Oxford-Achter ergattern, auf der Steuerbordseite; allerdings hat keine der beiden Mannschaften gewonnen.

Rebecca Meredith muss er in Oxford kennengelernt haben«, fuhr Cullen fort. »Sie hatte sich zunächst im Ruderteam des St. Catherine’s College ausgezeichnet und später auch an der Uni. Dort hat sie Strafrecht studiert.«

»Dann hat sie also ihren Mädchennamen behalten«, meinte Kincaid. Sie hatten das Maison Blanc erreicht, und als sie das Café betraten, schlug ihnen der Duft von gerade gebrühtem Kaffee und frisch gebackenem Brot entgegen. Nachdem sie sich einen Überblick über die riesige Auswahl an Muffins und Plundergebäck verschafft hatten, bestellten sie an der Theke. Kincaid nahm einen Cappuccino und ein Mandelcroissant, seine übliche Bestellung im Maison Blanc in der Holland Park Road, wenn er morgens von Holland Park aus mit der U-Bahn fuhr und keine Zeit gehabt hatte, zu Hause zu frühstücken.

Hatte ihn das Café magisch angezogen, weil er Heimweh hatte?, fragte er sich.

»Bloß nicht sentimental werden«, sagte er laut, worauf sowohl Cullen als auch die Verkäuferin ihn verblüfft anstarrten. »Beachten Sie mich gar nicht«, sagte er zu der Frau, während er ihr mit seinem charmantesten Lächeln das abgezählte Geld und noch ein Pfund extra für die Trinkgeldkasse in die Hand drückte.

»Einen wunderschönen Tag noch«, entgegnete die junge Frau und strahlte ihn an.

»Das grenzt ja fast an Bestechung«, murmelte Cullen, als sie mit ihren Frühstückstüten auf die Straße traten.

»Sie sind ja bloß neidisch.« Kincaid grinste. »Also, fahren Sie fort. Wo waren wir gerade? Mädchenname?«

Doug nahm einen Schluck von seinem Kaffee und zuckte zusammen. »Ach so, ja. Unter diesem Namen war sie als Ruderin bekannt, also nehme ich an, dass sie ihn deshalb behalten wollte. Obwohl ich meine Zweifel habe, ob ich so einen Ruf nicht lieber möglichst schnell losgeworden wäre.«

Während sie die Duke Street entlanggingen, fragte Kincaid: »Wieso, was ist passiert?«

»Im Jahr nach ihrem Uni-Abschluss war sie die große Hoffnung für Großbritannien im Frauen-Einer bei der kommenden Sommerolympiade. Aber in den Weihnachtsferien ist sie entgegen der strikten Anweisung ihres Trainers in Skiurlaub gefahren. Sie stürzte und erlitt einen so komplizierten Bruch des Handgelenks, dass sie monatelang nicht trainieren konnte. Und sie flog aus der Mannschaft.«

»Und ihr Trainer –«

»War Milo Jachym.« Doug aß den letzten Bissen von seinem Muffin und durchstöberte die Tüte nach Krümeln.

Kincaid dachte darüber nach, während er sein Croissant aufaß und vorsichtig an seinem Kaffee nippte. »Man könnte also sagen, dass ihr Verhältnis zu Jachym belastet war.«

»Ein bisschen, ja.«

»Und man könnte auf die Idee kommen, dass ihr geplantes Comeback ihm ein Dorn im Auge war – ausgerechnet jetzt, wo er sein eigenes Frauenteam auf die Olympiade vorbereitet.«

»Könnte man, ja«, pflichtete Doug ihm bei.

Sie hatten die Abzweigung zur Polizeiwache erreicht und blieben in unausgesprochenem Einverständnis stehen.

»Wann hat sie Atterton geheiratet?«, fragte Kincaid.

»Im Jahr darauf. Zur gleichen Zeit, als sie bei der Met anfing.«

»Und die Scheidung?«

»War vor drei Jahren. Sie hat sie beantragt, aber es gibt keine Details, da er keinen Widerspruch eingelegt hat. Laut Gerichtsakte hat er sich sehr großzügig gezeigt – er überließ ihr nicht nur das Cottage, sondern auch die Hälfte seines Vermögens. Ich vermute mal, dass er ihr die Regelung angeboten hat, bevor ihm klar wurde, wie schwer die Krise die Immobilienanleger treffen würde.«

»Ah.« Kincaid blickte auf das bescheidene Gebäude der Polizeiinspektion ein paar Häuser vor ihnen, das gegenüber von einem Dönerimbiss und einem Taxiunternehmen lag. Erleichtert stellte er fest, dass davor keine Reporter auf der Lauer lagen. Noch nicht.

Er dachte über Freddie Atterton nach. »Das hört sich für mich nach einem Mann an, der ein schlechtes Gewissen hatte. Und der seine Großzügigkeit inzwischen vielleicht bedauert. Ist er in finanziellen Schwierigkeiten?«

»Kann sich gerade so über Wasser halten, laut diversen Quellen in der City, die ich angerufen habe.«

»Dann würde ich sagen, dass Rebecca Meredith’ Anwältin heute unsere erste Anlaufstation ist, sobald wir uns erkundigt haben, was es Neues von den Kollegen der Kriminaltechnik gibt.« Sie hatten sich Namen und Telefonnummer der Anwältin am Abend zuvor von Freddie geben lassen, ehe sie das Cottage verlassen hatten.

Cullen grinste selbstzufrieden. »Ich habe sie gleich heute Morgen angerufen. Sie geht früh ins Büro. Eine sehr zuvorkommende Dame. Sie sagt, falls Rebecca nicht ein neues Testament gemacht hat, geht alles an Freddie, und er ist auch der Nachlassverwalter.«

Kincaid zog eine Braue hoch. Sosehr er Gemma bei seinen Ermittlungen vermisste, musste er doch zugeben, dass Doug tadellose Arbeit leistete. »Wie praktisch.«

»Feine Sache, doch.« Cullen knüllte seine Muffintüte zusammen. »Sie meinte außerdem, ihres Wissens gebe es da noch die eine oder andere Lebensversicherung, und sie hat mir den Namen von Rebeccas Versicherungsmakler genannt. Ich habe eine Nachricht hinterlassen.«

»Eine kleine Welt, dieses Städtchen«, sagte Kincaid, dachte aber dabei, dass Chief Superintendent Childs wohl zufrieden sein würde. Wie es aussah, hatte es Freddie Atterton nicht an Motiven gemangelt, seine Frau zu ermorden.

Sie fanden Detective Inspector Singla mit zwei Detective Constables in dem kleinen Büro, das man ihnen in der Polizeiwache Henley als Einsatzzentrale zur Verfügung gestellt hatte. Singla hatte den Raum mit einer Weißwandtafel für Notizen und einer Pinnwand für die Tatortfotos ausgestattet, und auf einem Konferenztisch wuchsen bereits die unvermeidlichen Papierstapel in die Höhe.

Singla wirkte gestresst; sein Anzug war zerknitterter als am Vortag, und die Constables – eine Frau und ein Mann – sahen nervös aus, als hätten sie bereits den Zorn ihres Vorgesetzten zu spüren bekommen. Der männliche Constable telefonierte gerade, und soweit Kincaid es mitbekam, musste er sich mit Anfragen von der Presse herumschlagen.

»Superintendent«, sagte Singla knapp. Sein Ton war ein wenig missbilligend, als ob sie zu spät zum Unterricht erschienen wären. »Wir haben einen vorläufigen Bericht vom Team der Spurensicherung beim Boot. Sie haben einen Streifen rosa Farbe an der Unterseite des Rumpfs gefunden. Sieht aus wie Abrieb vom Blatt eines Leander-Ruders, aber offenbar weist das eine, das beim Boot gefunden wurde, keinerlei Beschädigungen auf. Außerdem fanden sich Haarrisse im Kunststoffrumpf, die von dem Farbfleck auszustrahlen scheinen. Möglicherweise der Auftreffpunkt.«

Kincaid sah Cullen an. »Könnte sie das selbst verursacht haben?«

»Ich wüsste nicht, wie«, antwortete Cullen stirnrunzelnd. »Obwohl … wenn sie gekentert ist und das Skull sich gelockert hat …« Er ging auf die Pinnwand zu und studierte die Fotos, als könne die Leiche, die sich unterhalb des Wehrs verfangen hatte, ihm etwas verraten. »Ich denke, wenn sie von der Strömung abgetrieben wurde, könnte sie versucht haben, das Skiff mit dem Ruder einzufangen … Das Erste, was ein Ruderer lernt, ist: Lass nie dein Boot zurück. Ein Rennruderboot geht nur unter, wenn es sehr stark beschädigt ist.«

»Wurde das zweite Ruder inzwischen gefunden?«, fragte Kincaid.

Singla fuhr sich mit der Hand über den Schädel, als wollte er seine wenigen verbliebenen Haarsträhnen scheiteln. »Noch nicht. Es könnte weiß Gott wo sein. Die Spurensicherung untersucht gerade die Farbe des verbliebenen Ruders für einen Abgleich.«

»Sonst noch etwas? Gab es am Ufer Spuren eines Kampfs?«

»Nein.« Singlas Miene war angespannt, als nähme er das Fehlen von Fortschritten persönlich.

Kincaid wandte sich an Cullen und fragte ihn: »Wie fest müsste man zuschlagen, um so einen Kunststoffrumpf zu beschädigen?«

»Heutzutage sind die meisten Boote mit Kevlar verstärkt. Trotzdem sind sie recht spröde und zerbrechlich, und es kommt relativ oft zu kleineren Schäden. Ich bin mal gegen einen Brückenpfeiler gerudert, als ich auf dem Internat war. Es war zwar nur ein altes Übungsboot, aber der Trainer war nicht begeistert.«

Kincaid konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Sie sind gegen eine Brücke gerudert?«

»Man fährt da rückwärts, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen ist«, entgegnete Cullen leicht beleidigt. »Manche Ruderer entwickeln deshalb die unschöne Angewohnheit, ständig über die Schulter zu schauen. Das macht sie langsamer. Andere richten einfach beim Start ihr Boot aus und hoffen das Beste.«

»Und Sie gehörten wohl zur zweiten Kategorie.«

Cullen ignorierte den Seitenhieb. »Wenn man die Strecke gut kennt, was bei Rebecca Meredith der Fall gewesen sein dürfte, dann lernt man, sich an Landmarken zu orientieren.«

»Was ist mit dem Cottage?«, fragte Kincaid Singla. »Haben Sie dort irgendetwas gefunden?«

»Nichts, was irgendwie aus dem Rahmen fällt. Ich habe ihren Laptop ins Labor geschickt. Die Anrufe auf ihrem Festnetzanschluss scheinen sich mit den Angaben des Exmanns zu decken. Er hinterließ eine Nachricht ungefähr zu dem Zeitpunkt, als Milo Jachym sie mit dem Boot losrudern sah, und noch weitere später am Abend sowie am folgenden Morgen.«

»Er hätte von überall anrufen können«, meinte Kincaid nachdenklich. »Vielleicht wollte er nur überprüfen, ob sie tatsächlich rudern gegangen war. Was ist mit ihrem Handy? Wurde es im Haus gefunden?«

»In ihrer Handtasche.« Singla deutete mit dem Kopf auf einen Plastikbeutel, der zwischen den Papieren auf dem Tisch lag. »Ich habe den Constable, der dort zur Wache eingeteilt war, gebeten, ihre persönlichen Gegenstände mitzubringen. Aber wir kennen das Passwort für ihre Mailbox nicht.«

»Da wird Mr. Atterton uns vielleicht weiterhelfen können. Aber inzwischen …« Kincaid zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor, setzte sich und öffnete den Beutel, um das Handy herauszunehmen. Es war ein neues Modell mit allen Schikanen, wie man es bei einer leitenden Polizeibeamtin erwarten würde. Doch als er das Display berührte, erschien das voreingestellte Hintergrundbild des Mobilfunkanbieters.

Neugierig geworden, sah er im Fotoarchiv des Handys nach und fand nichts. »Merkwürdig. Sie hatte keine Fotos auf ihrem Handy gespeichert.« Er probierte eine andere Anwendung aus. »Und ihren Kalender hat sie auch nicht benutzt.«

Rasch scrollte er durch ihre E-Mails und SMS, doch sie schienen alle dienstlich zu sein, bis auf eine SMS von Freddie Atterton, gesendet ungefähr zu der Zeit, als sie losgerudert war. Sie lautete: Ruf mich an!!! Ich habe mit Milo gesprochen. Es waren auch zwei Nachrichten auf der Mailbox angezeigt, doch er konnte sie nicht abrufen. Visual Voicemail gab es nicht.

Anschließend sah er die Liste der Kontakte durch – sie war kurz, was ihn inzwischen nicht mehr überraschte. Sie zu überprüfen, wäre ein Job für Doug, doch vorerst registrierte er nur erfreut, dass sie ihre eigene Handynummer eingespeichert hatte. Er nahm sein eigenes Telefon heraus und rief sie an.

Der Klingelton war ebenso standardmäßig wie das Hintergrundbild – ein doppeltes Läuten.

Ein sehr sonderbares Bild von Rebecca Meredith begann sich in seinem Kopf zu formen. »Sie hatte nicht zufällig noch ein anderes Handy?«, fragte er Singla.

»Wir haben jedenfalls keines gefunden.«

Kincaid durchwühlte den restlichen Inhalt des Beutels und begann die einzelnen Gegenstände laut zu katalogisieren. »Ein Schreibstift«, sagte er. »Schwarz, ziemlich teuer; ein Tintenroller, nicht etwa einer dieser klecksenden Schönschriftfüller. Eine Brieftasche, schwarzes Leder. Und darin haben wir einen Führerschein, eine Geldkarte, eine Kreditkarte, eine Kundenkarte von Selfridges.« Er nahm sich den Führerschein noch einmal vor und betrachtete das Foto. Trotz ihres relativ langen Gesichts waren Rebecca Meredith’ Züge ebenmäßig, und unter anderen Umständen hätte man sie durchaus hübsch nennen können. Aber auf diesem Foto starrte sie so streng in die Kamera, als ob sie mit jemandem gewettet hätte, dass sie auf keinen Fall lächeln würde.

Er klappte die Brieftasche zu und wandte sich den nächsten Gegenständen zu. »Eine elektronische Fahrkarte für den Londoner Nahverkehr im Standard-Etui. Eine Packung Papiertaschentücher.« Er zog den Reißverschluss eines kleinen Schminktäschchens auf und kippte den Inhalt auf den Tisch. »Puderdose. Lippenstift. Labello. Ein Döschen Aspirin. Eine Packung Tampons.« Er schob die Sachen beiseite, schüttelte den Beutel aus und sah Doug an. »Und das ist alles. Keine zerknüllten Kaugummi- oder Bonbonpapierchen. Keine Zettel mit hingekritzelten Telefonnummern. Keine Treuepunkte-Karten vom Pizzaservice. Keine Eau-de-Cologne-Pröbchen, die man mitschleppt, um sich vor einem Date rasch frischzumachen.«

»Ausschließlich Praktisches und unverzichtbare Alltagsgegenstände«, stimmte Doug zu. »Und absolut gar nichts Persönliches.«

»Sir«, sagte Singla, »ich verstehe wirklich nicht, warum es so wichtig sein soll, was diese Frau in ihrer Handtasche hatte und was nicht. Sicherlich –«

»Denken Sie doch einmal einen Moment nach«, unterbrach ihn Kincaid. »Sind Sie verheiratet, DI Singla?«

»Äh, ja, aber –«

»Wissen Sie, was Ihre Frau so in ihrer Handtasche hat?« Kincaid dachte an Gemma, die inzwischen eine Tasche von der Größe eines kleinen Koffers mit sich herumschleppte, vollgestopft mit Charlottes Lieblingsbüchern und -keksen und natürlich Bob, dem grünen Plüschelefanten, ohne den Charlotte nie aus dem Haus ging. Er fragte sich, wie er demnächst diesen ganzen Kram mit sich herumtragen und dabei noch halbwegs wie ein richtiger Mann aussehen sollte.

Singla schüttelte den Kopf, die Augen in gespieltem Entsetzen geweitet. »Die Küchenspüle, wenn sie sie unterbringen könnte.« Er schloss die Augen und überlegte. »Die Stundenpläne der Kinder, alte Einkaufszettel, Kassenbons aus dem Supermarkt, Gratispackungen Kekse. Sogar Teebeutel, für den Fall, dass sie im Café nicht ihre Sorte vorrätig haben. Einen Schirm, weil man ja nie wissen kann, ob es Regen gibt. Und immer ein Buch – sie liest leidenschaftlich gerne, meine Frau. Sie mag die Sorte, wo hinten diese Buchclub-Fragen drinstehen.«

Kincaid nickte und fragte: »Welche Sorte Kekse?«

»HobNobs.«

»Welche Farbe hat ihr Regenschirm?«

Singla überlegte. Sein ungehaltener Gesichtsausdruck war verflogen. »Rot mit gelben Punkten. Sie sagt, wenn es schon regnet, sollte man zum Ausgleich etwas Fröhliches dabeihaben.«

»Welche Sorte Tee?«

»Chai. Und sie bestellt im Café immer heiße Milch. Mir ist das ja peinlich, aber es scheint niemandem sonst etwas auszumachen.«

»Sehen Sie?« Kincaid lächelte. »Jetzt weiß ich schon eine ganze Menge über Ihre Frau.« Er fügte nicht hinzu, dass ihm Singla dadurch schon gleich sympathischer war. »Ich würde wetten, dass sie intelligent ist, vielleicht ein wenig mollig und von heiterem und optimistischem Gemüt. Eine Frau, die weiß, was sie will, und es in der Regel auch bekommt.«

Singla verdrehte die Augen. »Das können Sie laut sagen. Und es ist eine zutreffende Beschreibung. Aber was hat meine Frau oder die Handtasche meiner Frau mit Rebecca Meredith zu tun?«

Die junge Polizistin, die aufmerksam zugehört hatte, meldete sich zu Wort. »Es ist nicht die Handtasche Ihrer Frau, auf die es hier ankommt, Sir. Sondern die von Rebecca Meredith. Und ich würde sagen, sie verrät uns, dass diese Frau etwas zu verbergen hatte.«