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Im Skiff fand ich mein Instrument …
Sara Hall, Drawn to the Rhythm
Freddie Atterton zog seine Mitgliedsmarke über den Scanner an der Einfahrt zum Parkplatz des Leander-Clubs und trommelte nervös mit den Fingern auf das Lenkrad, während er darauf wartete, dass die Schranke sich hob. Die Scheibenwischer des Audi vermochten kaum etwas auszurichten gegen die Wassermassen, die vom Himmel stürzten. Als die Schranke aufging, lehnte er sich nach vorne und spähte angestrengt durch die Windschutzscheibe, während er die Kupplung kommen ließ. Beim Anfahren spürte er, wie der Kies unter den Reifen wegjrutschte.
»Verfluchter Regen«, murmelte er, als er den Wagen auf den nächsten freien Platz lenkte. Der Parkplatz verwandelte sich rapide in einen Sumpf. Er könnte von Glück sagen, wenn er nachher überhaupt noch wegkäme. Und er würde es definitiv nicht vom Auto zum Clubhaus schaffen, ohne seine handgenähten italienischen Schuhe zu ruinieren oder auch nur den Regenschirm aufzuspannen, ehe sein Jackett klatschnass war.
Er stellte den Motor ab und sah auf seine Uhr – fünf vor acht. Keine Zeit, eine Regenpause abzuwarten. Er wollte nicht triefnass in den Club gerannt kommen, nur um festzustellen, dass sein potenzieller Investor schon da war. Dieser Frühstückstermin war zu wichtig, als dass er es sich leisten könnte, wie ein begossener – und gehetzter – Pudel aufzukreuzen.
Und er wäre gerne besser informiert gewesen. Der Teufel sollte Becca holen – wieso hatte sie ihn gestern Abend nicht zurückgerufen? Er hatte es an diesem Morgen erneut versucht, aber auch diesmal hatte er sie weder auf dem Festnetz noch auf dem Handy erreicht.
Nach über einem Jahrzehnt bei der Metropolitan Police kannte Becca so gut wie jeden, der bei der Londoner Polizei irgendetwas darstellte. Freddie hatte gehofft, sie könnte ihm ein paar Tipps bezüglich seines Interessenten geben, der erst vor kurzem aus dem Polizeidienst ausgeschieden war. Normalerweise würde man ja nicht erwarten, dass ein hundsgewöhnlicher Met-Beamter flüssig genug war, um Geld in ein Immobiliengeschäft zu stecken, das – wie Freddie selbst zugeben musste – immer noch reichlich vage war.
Aber dieser Typ, Angus Craig, war als Deputy Assistant Commissioner ein ziemlich hohes Tier gewesen, und er wohnte in einem Dorf ganz in der Nähe, das zweifellos zu den vornehmsten Lagen der Gegend zählte. Freddie war vorige Woche beim abendlichen Drink in seinem örtlichen Club mit ihm ins Gespräch gekommen. Dabei hatte Craig durchblicken lassen, dass ihm die Vorstellung, sein Geld in ein Projekt zu investieren, das er im Auge behalten konnte, sehr sympathisch sei. Freddie hatte gehofft, dass Becca ihm sagen könnte, ob Craig ein ernstzunehmender Geschäftspartner war.
Und wenn nicht, hätte Freddie ein echtes Problem. Er hatte den heruntergekommenen Bauernhof samt Wirtschaftsgebäuden am Themseufer unterhalb von Remenham gekauft, um ihn in Luxuswohnungen umzuwandeln – geschmackvolles Wohnen auf dem Lande mit allem City-Komfort und Flussblick. Aber dann war der Markt eingebrochen, und jetzt fehlte ihm das Geld, um die Sache durchzuziehen.
Er fischte sein Handy aus der Jackentasche und vergewisserte sich noch einmal, dass ihm kein Anruf entgangen war, doch die Anzeige war dunkel. Seine Verärgerung wich allmählich leiser Sorge. Becca war schon immer ein Dickkopf gewesen, doch es war ihnen gelungen, nach der Scheidung eine Art ganz spezieller Freundschaft aufrechtzuerhalten, und er hätte zumindest erwartet, dass sie ihn zurückrief, um ihm zu sagen, dass er sich um seinen eigenen Kram kümmern sollte.
Vielleicht war er zu weit gegangen, als er ihr wegen ihrer Ruderpläne den Kopf gewaschen hatte. Aber er konnte einfach nicht glauben, dass sie ihre Karriere als Detective Chief Inspector aufs Spiel setzen wollte, nur um dem Traum von einer olympischen Goldmedaille nachzujagen, den jeder vernünftige Mensch schon vor Jahren aufgegeben hätte. Er selbst hatte den Lockruf des Ruderns vernommen, und er war weiß Gott ehrgeizig gewesen, aber irgendwann kam doch der Punkt, wo einem klar wurde, dass man es gut sein lassen und sich auf das wirkliche Leben besinnen musste. Wie er es getan hatte.
Plötzlich befiel ihn ein leises Unbehagen, als er sich fragte, ob er es auch so leicht aufgegeben hätte, wenn er so gut gewesen wäre wie sie. Und wie erfolgreich war er denn gewesen im wirklichen Leben? Sogleich schob er diesen lästigen Gedanken beiseite. Es würde sich schon alles zum Guten wenden; so war es immer gewesen.
Vielleicht sollte er das, was er zu Becca gesagt hatte, noch einmal überdenken. Aber jetzt erst einmal zu Mr. Craig.
Doch wer nicht erschien, war Angus Craig.
Freddie war aus dem Audi gesprungen, hatte seinen Regenschirm mit der Behändigkeit eines Zauberkünstlers aufgespannt und war über den durchweichten Parkplatz gepatscht, um sich in der Lobby des Leander-Clubs in Sicherheit zu bringen. Lily, die Empfangschefin, hatte ihm aus dem Mannschaftsquartier ein Handtuch geholt und ihn dann an seinem Lieblingstisch in der Fensternische des Speisesaals im ersten Stock Platz nehmen lassen.
»Heute wird die Mannschaft wohl kaum aufs Wasser gehen«, meinte er mit einem Blick auf die dichten Regenschleier, die über den Fluss hinwegzogen. Es war wirklich ungemütlich da draußen, selbst für die Mannschaft von Leander, die sich einiges auf ihre Zähigkeit einbildete. Wobei jeder, der je beim Boat Race für Oxford oder Cambridge im »Blue Boat« gesessen hatte, von widrigen Wetterverhältnissen ein Lied zu singen wusste. Und vom Kampf gegen den inneren Schweinehund.
Einmal war Freddies Boot bei ähnlichen Wetterbedingungen während der berühmten Regatta auf der Themse vollgelaufen. Ein unerfreuliches Erlebnis, gelinde ausgedrückt, und auch nicht ungefährlich.
»Erwarten Sie noch jemanden?«, fragte Lily, während sie ihm Kaffee einschenkte.
»Ja.« Freddie schaute noch einmal auf seine Uhr. »Aber er hat sich verspätet.«
»Von den Mitarbeitern sind einige auch noch nicht gekommen«, erwiderte Lily. »Der Koch hat erzählt, es hätte auf der Marlow Road eine Massenkarambolage gegeben.«
»Das ist wahrscheinlich die Erklärung.« Freddie rang sich ihr zuliebe ein Lächeln ab. Sie war ein hübsches Mädchen, eine adrette Erscheinung in ihrer Leander-Uniform, bestehend aus marineblauem Rock und blassrosa Bluse, das honigbraune Haar in einem Knoten zurückgebunden. Noch vor ein paar Jahren hätte sie ihn durchaus interessiert, aber inzwischen hatte er aus seinen Fehlern gelernt. Heute war er klüger und auch nicht mehr so unternehmungslustig. »Danke, Lily. Ich gebe ihm noch ein paar Minuten, ehe ich bestelle.«
Sie ließ ihn allein, und er schlürfte seinen Kaffee, während er müßig den Blick über die anderen Gäste schweifen ließ. So früh in der Woche, und zumal zu dieser Jahreszeit, waren vermutlich nur wenige der zehn oder zwölf Zimmer des Clubs belegt. Und bei diesem Wetter waren die meisten der Mitglieder, die in der Nähe wohnten und gewöhnlich im Club frühstückten, wohl lieber zu Hause geblieben. Das Essen hier war allerdings außergewöhnlich gut und überraschend preiswert.
Aber auch wenn im Speisesaal nicht viel los war, hatte der Koch bestimmt alle Hände voll zu tun. Er war nämlich auch dafür zuständig, den gewaltigen Appetit der jungen Athleten zu stillen, die in ihren eigenen Räumen aßen. Ruderer waren immer kurz vor dem Verhungern – das war für sie so natürlich wie Atmen.
Um halb neun – Freddie hatte seine zweite Tasse Kaffee schon fast ausgetrunken und verspürte allmählich das dringende Bedürfnis nach einer Zigarette – wählte er noch einmal Craigs Nummer und wurde auf die Mailbox weitergeleitet.
Um Viertel vor neun bestellte er sein übliches Frühstück, Rührei mit Räucherlachs, doch er musste feststellen, dass ihm der Appetit vergangen war. Während er den Teller mit dem Rührei von sich schob und stattdessen eine Scheibe Toast mit Butter bestrich, fiel ihm auf, dass der Regen nachgelassen hatte. Er konnte jetzt über den Fluss hinwegsehen, wenngleich es sich bei der wässrig grauen Kulisse aus Ladenfronten und Dächern am gegenüberliegenden Ufer ebenso gut um Venedig hätte handeln können. Aber vielleicht war ja der Verkehr inzwischen wieder in Gang gekommen. Er würde Craig noch ein paar Minuten geben.
Als er am Empfang Stimmen hörte, drehte er sich um. Doch es war nicht der kräftige, strohblonde Craig, sondern Milo Jachym, der Trainer der Damenmannschaft, der sich mit Lily unterhielt. Er trug Regenkleidung, und seine kleine, stämmige Gestalt strahlte Entschlossenheit aus.
»Milo«, rief Freddie, indem er aufstand und durch den Speisesaal auf ihn zuging. »Geht ihr aufs Wasser?«
»Ich denke drüber nach. Wir haben vielleicht eine Stunde oder so, ehe der nächste Schauer durchzieht.« Milo zog den Reißverschluss seines Anoraks hoch und spähte zur Tür der Rezeption hinaus. Als Freddie seinem Blick folgte, entdeckte er in der grauen Wolkendecke im Westen tatsächlich hier und da ein Stückchen blauen Himmel. »Ich würde sie gerne von den Ergos runterholen und in die Boote setzen, auch wenn es nur für ein kurzes Training ist. Sonst werden sie mir den Rest des Tages die Ohren volljammern.«
»Kann’s ihnen nicht verdenken. Verdammte Ergos.« Alle Ruderer hassten die Ergometer – die Geräte, mit denen man die Ruderbewegungen simulieren und die Leistung des Sportlers messen konnte. Das Training an den Ergos war mörderisch anstrengend, nur ohne die Befriedigung, die man empfand, wenn man ein Boot aus eigener Kraft über das Wasser bewegte. Das einzig Gute am Ergo-Training war, dass es so stupide war – man konnte den Verstand einfach ausschalten, während man sich körperlich bis über die Schmerzgrenze hinaus anstrengte, ohne dabei befürchten zu müssen, dass man in irgendetwas hineinfuhr und so Leben und Gesundheit riskierte.
Milo grinste. »Das hab ich ja noch nie gehört.« Er wandte sich wieder zu den Mannschaftsräumen um. »Ich scheuch sie besser raus, ehe es zu spät ist.«
Freddie hielt ihn zurück, indem er ihn am Arm fasste. »Milo, hast du mal eine Gelegenheit gehabt, mit Becca zu sprechen? Ich hatte gehofft, du könntest sie vielleicht zur Vernunft bringen.«
»Na ja, gesprochen hab ich mit ihr, aber zur Vernunft bringen …« Er sah Freddie an und runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich glaube, da rennst du gegen eine Wand. Vielleicht solltest du dich einfach in Würde geschlagen geben. Und wieso bist du eigentlich so sicher, dass sie nicht gewinnen kann?«
»Glaubst du denn, dass sie eine Chance hat?«, fragte Freddie erstaunt zurück.
»Weder in diesem Team« – er deutete mit dem Kopf zum Mannschaftsquartier – »noch in irgendeinem anderen, das ich im vergangenen Jahr gesehen habe, gibt es auch nur eine Frau, die einer Rebecca in Bestform davonfahren könnte.«
»Aber sie ist –«
»Fünfunddreißig. Na und?«
»Ja, ja, ich weiß. Und sie würde mich umbringen, wenn sie mich so reden hörte.« Er imitierte Becca, wenn sie ihre oberlehrerhafte Art herauskehrte: »Redgrave war achtunddreißig, Pinsent vierunddreißig, Williams zweiunddreißig … Und Katherine Grainger hat mit dreiunddreißig Silber gewonnen …« Freddie zuckte mit den Achseln. »Aber die hatten alle schon Medaillen im Schrank. Sie nicht.«
»Sie hat die gleiche Fähigkeit, sich bis aufs Blut zu quälen. Und das ist es, worauf es ankommt. Das weißt du selbst ganz genau.«
»Okay«, gab Freddie zu. »Vielleicht hast du recht. In dem Fall sollte ich mich vielleicht besser entschuldigen. Aber sie beantwortet meine Anrufe nicht. Wann hast du mit ihr gesprochen?«
»Gestern. So gegen halb fünf. Sie ist mit ihrem Skiff rausgefahren. Sie sagte, sie würde es selbst wieder aufbocken, wenn sie zurück ist.« Milo runzelte die Stirn. »Aber jetzt, wo du es sagst – ich kann mich nicht erinnern, es gesehen zu haben, als ich heute Morgen zum Fluss runtergegangen bin, um zu sehen, wie die Bedingungen sind. Vielleicht ist sie bei ihrem Cottage an Land gegangen.«
»Eher nicht. Sie hätte den Bootssteg der Nachbarn benutzen müssen.« Möglich war es allerdings, dachte Freddie. Aber auch dann hätte sie das Boot durch den Nachbargarten tragen müssen, um es in ihrem eigenen abzustellen, und sie hatte keine Möglichkeit, es bei sich zu lagern. Und warum sollte sie das tun, wenn sie ihr Filippi doch hier im Club liegen hatte?
Es sei denn, sie hätte sich plötzlich schlecht gefühlt und es nicht bis zum Club zurückgeschafft. Das sah Becca allerdings gar nicht ähnlich. Die Unruhe, die schon die ganze Zeit an ihm nagte, verstärkte sich noch. Er sah auf seine Uhr und beschloss, dass Angus Craig ihm den Buckel herunterrutschen konnte. »Ich sehe mal auf den Bootsständern nach.«
»Ich komme mit.« Milo hielt inne und beäugte kritisch Freddies marineblaues Jackett mit der blau-pink gestreiften Leander-Krawatte. »So wirst du doch klatschnass. An der Bar hängt noch ein Anorak, den du nehmen kannst.«
Aber Freddie war schon auf dem Weg nach draußen. Vom Empfangsbereich im ersten Stock gelangte man auf eine Terrasse, von der links und rechts Stufen hinunterführten. Freddie wandte sich nach links, in Richtung Fluss und Bootsplatz. Inzwischen nieselte es nur noch, doch als er an den Bootsständern anlangte, wischte er sich erst einmal ungeduldig die feuchten Haare aus der Stirn.
Der Ständer, auf dem Becca ihr Filippi aufbewahrte, war leer. »Es ist nicht hier«, sagte er, obwohl Milo das ebenso gut sehen konnte wie er selbst.
»Vielleicht hat sie es aus irgendeinem Grund in die Halle getragen. Sie hat einen Schlüssel.« Milo zog seine Kapuze hoch, um sich vor dem Regen zu schützen, und marschierte auf das Clubhaus zu. Die Bootshalle befand sich unter dem Speisesaal, und an schönen Tagen, wenn die Mannschaften auf dem Wasser trainierten, standen die großen Türen weit offen.
An diesem Morgen jedoch traten sie durch die kleinere Tür auf der rechten Seite ein, und Milo schaltete das Licht ein. Die Halle war ein riesiger, kahler Raum, dessen Ecken im Halbdunkel lagen. Es roch nach Holz und Lack, aber auch ein wenig nach Schweiß und Schimmel. Aus dem angrenzenden Kraftraum war das dumpfe Klacken der Gewichte zu hören.
Normalerweise empfand Freddie die Atmosphäre in der Halle als eigenartig beruhigend, aber jetzt krampfte sein Magen sich zusammen, da er nur die Ständer mit den leuchtend gelb gestrichenen Empacher-Booten sah. Das waren die Vierer und Achter, mit denen die Mannschaft ruderte. Die Skulls mit den rosa gestrichenen Blättern standen wie Flaggen in ihren Ständern am hinteren Ende des langen Raums. Von dem weißen Filippi mit seinem charakteristischen blauen Streifen war weit und breit nichts zu sehen.
»Okay«, sagte Milo, »es ist nicht hier. Fragen wir mal bei der Crew nach.« Er öffnete die Tür zum Kraftraum und rief: »Johnson!«
Der vielversprechende junge Bugmann des Vierers ohne Steuermann erschien in der Tür. Er war nur mit Unterhemd und Shorts bekleidet und wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß aus dem Gesicht. »Gehen wir raus, Milo?« Er begrüßte Freddie mit einem Nicken.
»Noch nicht«, antwortete Milo. »Steve, hast du Becca Meredith gesehen?«
Johnson wirkte überrascht. »Becca? Nein. Nicht seit Sonntag, auf dem Fluss. Da hat sie ordentlich trainiert. Wieso?«
»Sie ist gestern Abend rausgefahren, und ihr Boot ist immer noch nicht da.«
»Haben Sie versucht, sie anzurufen?«, fragte Johnson in einem beiläufigen Ton, der Freddie plötzlich wütend machte.
»Natürlich hab ich versucht, sie anzurufen, Mann.« Er wandte sich zu Milo um. »Also, ich sehe jetzt mal im Cottage nach.«
»Freddie, ich finde, dass du überreagierst«, meinte Milo. »Du weißt, dass Becca ihren eigenen Kopf hat.«
»Das weiß niemand besser als ich. Aber die Sache gefällt mir nicht, Milo. Ruf mich an, wenn du etwas hörst.«
Er nahm denselben Weg zurück, den sie gekommen waren, nicht durch die Mannschaftsräume zum Club, sondern über den Rasen zum Parkplatz. An seine Schuhe oder sein nasses Jackett verschwendete er jetzt keinen Gedanken mehr.
Vielleicht war es eine Überreaktion, dachte er, als er wieder in den Audi stieg. Aber er versuchte es noch einmal auf ihrem Handy, und als der Anruf auf die Mailbox geleitet wurde, trennte er die Verbindung und ließ den Motor an. Mochte sie ihn in der Luft zerreißen, weil er seine Nase in ihre Angelegenheiten steckte – er war jedenfalls entschlossen, selbst nachzusehen.
Er musste zwar eine Weile hin und her manövrieren, um den Audi aus den tiefen, matschigen Furchen im Kies herauszubekommen, doch endlich gelang es ihm.
Ein Dialog, der sich wiederholt so abgespielt hatte, ging ihm durch den Kopf. Warum kannst du dir nicht ein Mal ein vernünftiges Auto zulegen?, hatte Becca gefragt.
Weil du keine teuren Immobilien verkaufen kannst, wenn die potenziellen Käufer glauben, du könntest dir nicht das Beste vom Besten leisten, hatte er stets erwidert, doch es gab Tage, da hätte er für einen Wagen mit Allradantrieb seine Großmutter verkauft, und heute war so ein Tag.
Vom Parkplatz fuhr er hinaus auf die Hauptstraße und bog gleich darauf links in die Remenham Lane ab. Während er der Straße in Richtung Norden folgte, sah er, wie sich im Westen schon wieder die Wolken auftürmten.
Das Cottage aus rotem Backstein lag zwischen der Straße und dem Fluss, inmitten eines überwucherten Gartens. Die Gartenarbeit war Freddies Job gewesen, den er regelmäßig, wenngleich mit bescheidenem Talent erledigt hatte. Becca hatte einfach alles sich selbst überlassen, bis der Garten an eine Dornröschenhecke erinnerte.
Ihr verbeulter Nissan-Geländewagen stand in der Einfahrt. Für Autos interessierte Becca sich ebenso wenig wie fürs Gärtnern; solange man damit ein Boot ziehen konnte, war ihr alles recht. Wenn der Nissan nicht über und über mit Schlamm bespritzt war, dann nur deshalb, weil der Regen alles abgewaschen hatte. Der Anhänger stand auf dem Rasenstück neben der Einfahrt, und ihr Filippi lag nicht darauf.
Im gleichen Moment, als Freddie die Tür des Audi öffnete, tat es einen Donnerschlag, und der Himmel öffnete seine Schleusen. Freddie sprintete auf das Cottage zu, schlitterte das letzte Stück bis unter das Vordach und schüttelte sich das Wasser aus den Haaren.
Durch die Buntglasscheibe in der Haustür war kein Licht zu sehen. Die Klingel funktionierte nicht – er war nie dazu gekommen, sie zu reparieren –, weshalb er mit der Faust an die hölzerne Einfassung hämmerte.
»Becca. Becca! Mach schon die verdammte Tür auf!«
Als keine Antwort kam, kramte er seinen Schlüsselbund aus der Tasche und steckte den schweren Haustürschlüssel ins Schloss.
»Becca, ich komm jetzt rein«, rief er, als er die Tür aufstieß.
Drinnen war es kalt, und kein Laut war zu hören.
Ihre Handtasche stand auf der Bank unter den Garderobenhaken, wo sie sie immer abstellte, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam. Daneben lag eine achtlos hingeworfene graue Kostümjacke, doch abgesehen davon sah im Wohnzimmer alles so aus wie immer. Die gelbe Fleecejacke, die sie beim Rudern trug, hing nicht am Haken, und auch ihre pinkfarbene Leander-Mütze fehlte.
Er rief noch einmal ihren Namen und sah rasch in der Küche und im Esszimmer nach. Auf der Anrichte lag ein Stapel ungeöffneter Post, im Spülbecken standen eine abgespülte Tasse und ein Teller, auf der Arbeitsfläche eine Tüte Katzenfutter für die Nachbarskatze, die Becca manchmal fütterte.
Das ganze Haus fühlte sich irgendwie menschenleer und verlassen an, auch wenn er sich nicht recht erklären konnte, wieso. Dennoch stieg er die Treppe hinauf und warf einen Blick ins Schlafzimmer und ins Bad. Das Bett war gemacht; der Rock, der zu der Jacke gehörte, die er unten gesehen hatte, lag auf einem Stuhl, zusammen mit einer weißen Bluse und einer zusammengeknüllten Strumpfhose.
Die Badewanne war trocken, doch in der Luft hing ein leiser Hauch von Parfüm – Light Blue von Dolce & Gabbana, eines von Beccas wenigen Zugeständnissen an weibliche Eitelkeit.
Er öffnete die Tür des zweiten Zimmers, das ihm früher als Büro gedient hatte, und stieß einen überraschten Pfiff aus, als er die Gewichte und das Ergometer sah. Es war ihr also ernst mit dem Trainieren. Wirklich ernst.
Aber wo zum Teufel steckte sie nur?
Er trabte wieder nach unten, schnappte sich einen Anorak von der Garderobe und ging hinaus in den Garten, den Kopf eingezogen, um sich vor dem peitschenden Regen zu schützen. Nur der Garten von Beccas Nachbarn grenzte ans Ufer, aber er sah dennoch nach, ob sie vielleicht dort ihr Boot an Land gezogen hatte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass nur umgedrehte Gartenmöbel auf dem Rasen standen, eilte er ins Haus zurück und zog mit kalten, klammen Fingern sein Handy aus der Tasche. Donner grollte und ließ die Wände des Cottage erzittern.
Becca würde es ihm sicher übelnehmen, dass er ihren Chef, Superintendent Peter Gaskill, anrief, aber er wusste einfach nicht, was er sonst tun sollte. Er kannte Gaskill nicht besonders gut, da Becca erst kurz vor der Scheidung in sein Team versetzt worden war, doch sie waren sich schon bei verschiedenen Polizeiveranstaltungen und der einen oder anderen Dinnereinladung begegnet.
Freddies Anruf wurde von der Sekretärin des Dezernats durchgestellt. Als Gaskill abhob, nannte Freddie seinen Namen und sagte dann: »Bitte entschuldigen Sie die Störung, Peter, aber ich versuche seit gestern, Becca zu erreichen, und ich mache mir allmählich ein wenig Sorgen. Ich habe mich schon gefragt, ob es vielleicht einen dienstlichen Notfall gegeben hat …« Schon während er es sagte, kam es ihm unwahrscheinlich vor. Er erklärte die Sache mit dem Boot und fügte hinzu, dass Becca allem Anschein nach seit dem gestrigen Abend nicht zu Hause gewesen war und dass ihr Wagen noch in der Einfahrt stand.
»Wir hatten heute Morgen eine wichtige Dienstbesprechung«, sagte Gaskill. »Sie ist weder erschienen, noch hat sie mich zurückgerufen, und ich habe es noch nie erlebt, dass sie irgendeine Sitzung versäumt hätte. Sind Sie sicher, dass sie nicht zu Hause ist?«
»Ich bin gerade in ihrem Cottage.«
Am anderen Ende war es still, als ob Gaskill überlegte. Dann sagte er: »Sie erzählen mir hier also, dass Becca gestern Abend auf den Fluss hinausgerudert ist, im Dunkeln, ganz allein in einem Rennruderboot, und dass weder sie selbst noch das Boot seither gesehen worden sind.«
Die nüchterne Zusammenfassung der Fakten jagte Freddie einen kalten Schauer über den Rücken. Der Einwand, dass sie doch schließlich eine erfahrene, exzellente Ruderin sei, erstarb auf seinen Lippen. »Ja.«
»Sie bleiben dort«, wies Gaskill ihn an. »Ich alarmiere die Polizei vor Ort.«
Zwei Familien, deren Mitglieder einander größtenteils fremd waren, hatten ein langes Wochenende zusammen verbracht, eingeschlossen in den verschachtelten Räumen des Pfarrhauses im Herzen des Weilers Compton Grenville nahe Glastonbury in Somerset, während draußen Gewitter tobten und das Wasser ringsum anstieg. Ein Szenario mit allen Ingredienzien eines Agatha-Christie-Krimis, dachte Detective Inspector Gemma James.
»Oder vielleicht eines Horrorfilms«, sagte sie laut zu ihrer Freundin – und nunmehr angeheirateten Cousine – Winnie Montfort, die an der altmodischen Spüle der Pfarrhausküche stand, die Arme bis zu den Ellbogen im Spülwasser. Winnie, eine anglikanische Pfarrerin, war mit Duncan Kincaids Cousin Jack verheiratet.
Und Gemma war jetzt mit Detective Superintendent Duncan Kincaid verheiratet, eine Tatsache, die sie immer noch erstaunt innehalten ließ, wenn sie daran dachte. Verheiratet. Wirklich und wahrhaftig. Und gleich drei Mal, wie Duncan nicht müde wurde zu betonen, wenn er sie necken wollte. Sie berührte ihren Ring, froh um die greifbare Erinnerung.
Sie hatten als Partner im Dienst begonnen, nachdem Gemma als Detective Sergeant in Duncans Abteilung Schwerkriminalität bei Scotland Yard versetzt worden war. Nachdem sich daraus eine persönliche Beziehung entwickelt hatte – auf die Gemma sich zunächst nur wider besseres Wissen eingelassen hatte –, bewarb sie sich um die Stelle eines Detective Inspector. Die Beförderung brachte Vor- und Nachteile mit sich. Einerseits bedeutete sie das Ende ihrer dienstlichen Partnerschaft, andererseits waren sie nun nicht mehr gezwungen, ihre private Beziehung geheim zu halten.
Dennoch hatte Gemma weiterhin ernste Bedenken gegen eine feste Bindung gehegt. Beide hatten eine gescheiterte Ehe hinter sich; beide hatten Söhne, die schon mehr als genug unter Veränderungen und Verlusten gelitten hatten. Und Gemma hatte sich bisweilen geradezu verbissen dem Verlust ihrer Eigenständigkeit – wie sie es empfand – widersetzt.
Aber Duncan hatte Geduld bewiesen, und mit der Zeit hatte Gemma erkannt, dass die Bewahrung ihres gemeinsamen Glücks jedes Risiko wert war.
Und so hatten sie zunächst an einem herrlichen Tag im vergangenen August im Garten ihres Hauses im Londoner Stadtteil Notting Hill eine weltliche Segenszeremonie abgehalten. Wenige Wochen darauf hatten sie dann auf dem Standesamt von Chelsea ihre Verbindung offiziell gemacht.
Und jetzt, während der Schulferien Ende Oktober, hatten Winnie und Jack Duncan und Gemma samt ihren Familien nach Compton Grenville eingeladen, damit Winnie sie kirchlich trauen konnte – in einem feierlichen Rahmen, den ihre Ehe nach Winnies Meinung verdient hatte.
Die Zeremonie in Winnies Kirche am Samstagnachmittag war genau so gewesen, wie Gemma sie sich gewünscht hatte: schlicht, persönlich und innig; und sie hatte ihre Verbindung noch einmal auf ganz andere Weise feierlich besiegelt. Aller guten Dinge sind drei, wie Duncan ihr immer wieder versicherte. Und vielleicht hatte er recht, denn inzwischen hatte das Schicksal ein weiteres Kind in ihr Leben treten lassen – die kleine, noch nicht ganz drei Jahre alte Charlotte Malik.
Winnie wandte sich von dem Berg schmutzigen Geschirrs ab, den Hinterlassenschaften des üppigen Abschiedsfrühstücks, das sie für ihre Wochenendgäste bereitet hatte. »Ein Horrorfilm? Was?« Mit dem Schaumklecks, den sie sich irgendwie auf die Nasenspitze praktiziert hatte, und ihren fragend aufgerissenen Augen bot sie einen komischen Anblick.
Die in Grün und Tomatenrot gehaltene Küche war ein behaglicher Zufluchtsort, und Winnie war eine gute Freundin, die Gemma schon in schwierigen Zeiten zur Seite gestanden hatte.
An diesem Dienstagmorgen, kurz vor dem Ende des Besuchs, nachdem bis auf Duncans Eltern alle schon abgereist waren, hatten Gemma und Winnie sich endlich ein paar ungestörte Momente sichern können, in denen sie das Wochenende Revue passieren lassen konnten. Gemma hatte sich erboten, den Abwasch zu übernehmen, doch Winnie hatte darauf bestanden, dass Gemma die letzten paar Minuten mit Winnies und Jacks neugeborener Tochter genießen sollte.
Gemma bettete die kleine Constance etwas bequemer auf ihrem Schoß. »Na ja, ›Horrorfilm‹ ist vielleicht ein bisschen heftig«, verbesserte sie sich lächelnd. Doch ihre Ausgelassenheit verflog, als sie an den Wermutstropfen in einem ansonsten perfekten Wochenende zurückdachte. »Manchmal«, sagte sie, »kann meine Schwester ein richtiges Aas sein.«
Winnie streifte ihre Gummihandschuhe ab, setzte sich zu Gemma an den Tisch und griff nach Constance. »Komm, musst ja nicht gleich das Baby stellvertretend für sie erdrücken.«
»Tut mir leid«, erwiderte Gemma verlegen. Sie gab Constance einen Kuss auf das flaumige Köpfchen, bevor sie sie ihrer Mutter übergab. »Sie bringt mich einfach immer wieder auf die Palme. Ich meine Cyn, nicht Constance.«
»Nun ja, ich kann verstehen, dass Cyn sich an diesem Wochenende ein bisschen unbehaglich gefühlt hat. Sie und deine Eltern waren diejenigen, die irgendwie nicht richtig dazugehören –«
»Unbehaglich?« Gemma schüttelte den Kopf. »Du bist zu diplomatisch. Das ist eine sehr beschönigende Umschreibung dafür, dass sie sich wie eine richtige Xanthippe aufgeführt hat.« Ehe Winnie protestieren konnte, fuhr sie fort: »Aber es ist nicht nur das. Sie ist schon die ganze Zeit so ekelhaft, seit wir von Mutters Krankheit wissen.« Bei Gemmas und Cyns Mutter Vi war im vergangenen Frühjahr Leukämie diagnostiziert worden. »Mir ist schon klar, dass das Cyns Art ist, mit ihrer eigenen Angst umzugehen. Ich kann das verstehen, auch wenn ich sie am liebsten erwürgen würde. Aber für diese Sache mit Charlotte gibt es einfach keine Entschuldigung.«
»Was ist mit Charlotte?«, fragte Winnie, und ihr freundliches Gesicht nahm plötzlich einen besorgten Ausdruck an.
»Ich glaube, Cyn hat ihren Kindern gesagt, dass sie nicht mit ihr spielen sollen. Ist dir das nicht aufgefallen?«
»Nun, ich habe mir schon gedacht, dass sie ein bisschen … gehemmt wirkten –«
»Wie konnte sie nur? Sie werden schließlich bald Cousins und Cousinen sein, Herrgott noch mal.« Beim zornigen Klang von Gemmas Stimme zog Constance die kleine Stirn in Falten. Gemma holte tief Luft, um sich zu beruhigen, ehe sie die Hand ausstreckte und mit dem Finger über die Wange des Babys strich. »Entschuldige, Schätzchen.« Constance hatte die vornehme englische Blässe ihrer Mutter und die strahlenden blauen Augen von Jack geerbt, und nach ihrem blonden Flaum zu schließen, würde sie auch die gleiche Haarfarbe bekommen wie ihr Vater.
Doch mit ihren karamellfarbenen Löckchen und ihrem hellbraunen Teint war Charlotte mindestens ebenso hübsch, und die Vorstellung, dass irgendjemand allein wegen ihrer Hautfarbe anderer Meinung sein oder sie anders behandeln könnte, machte Gemma rasend vor Wut. »Ich habe gehört, wie Cyn über Charlotte geredet hat – mit einem Ausdruck, den man unmöglich wiederholen kann«, verriet sie. »Ich könnte sie umbringen.«
»Gemma, du musst doch damit gerechnet haben –«
»O ja, wir waren durchaus vorgewarnt. Die Frau vom Jugendamt war sehr gründlich. ›Es kommt manchmal vor, dass Kinder gemischter Herkunft von der Verwandtschaft der Adoptiveltern nicht akzeptiert werden‹«, zitierte Gemma. »Aber ich habe wohl zu viel We Are The World-Videos gesehen«, fügte sie seufzend hinzu. Während ihre Schwester einfach nur unverschämt war, hatten ihre Eltern sich dem Kind gegenüber sehr reserviert verhalten, was Gemma tief getroffen hatte. »Charlotte hat ohnehin schon genug durchgemacht.«
Sie und Duncan hatten das kleine Mädchen im August in Pflege genommen, nachdem sie gemeinsam wegen des Verschwindens ihrer Eltern ermittelt hatten.
»Wie geht es ihr denn eigentlich?«, fragte Winnie, während sie Constance, die allmählich unruhig wurde, auf dem Knie schaukelte. »Dieses Wochenende war so hektisch, dass ich gar nicht dazu gekommen bin, dich danach zu fragen oder dir zu sagen, wie entzückend sie ist.«
»Ja«, erwiderte Gemma, und ihre Stimme wurde weich. »Das ist sie, nicht wahr?« Ihre Arme fühlten sich plötzlich leer an ohne das Baby, und in die zärtliche Zuneigung, die sie empfand, wenn sie Winnie mit ihrer Tochter im Arm beobachtete, mischte sich ein klein wenig Neid. »Aber –« Sie zögerte, während sie auf das fröhliche Kindergeschrei lauschte, das aus dem Garten kam. Charlottes aufgeregtes Rufen hob sich unverkennbar von den Stimmen der Jungs ab. Vielleicht, dachte Gemma, reagierte sie tatsächlich zu heftig und maß ganz normalen Eingewöhnungsproblemen zu viel Bedeutung bei.
»Aber?«, fragte Winnie nach und legte sich Constance über die Schulter.
»Sie schläft schlecht«, gestand Gemma. »Ich glaube, sie hat Alpträume, und wenn sie aufwacht, ist sie oft untröstlich. Sie –« Gemma hielt inne; ihre Stimme drohte plötzlich zu versagen, und sie musste sich zusammenreißen, ehe sie weitersprach. »Sie ruft nach ihrer Mama und ihrem Papa. Und dann fühle ich mich immer so – so –« Sie zuckte mit den Achseln.
»Hilflos. Ja, das kann ich mir vorstellen. Aber sie hängt schon sehr an dir. Das habe ich gesehen.«
»Manchmal ein bisschen zu sehr, fürchte ich. Sie klammert regelrecht.«
Sie war mit Duncan übereingekommen, dass sie so lange abwechselnd unbezahlten Elternurlaub nehmen würden, bis sie das Gefühl hatten, dass Charlotte sich in ihrer neuen Umgebung sicher genug fühlte, um in eine Tagesstätte gehen zu können.
Gemma hatte bereitwillig die erste »Schicht« übernommen, doch in der kommenden Woche sollte sie auf ihren Posten als Detective Inspector im Revier Notting Hill zurückkehren, und sie hatte fast ein schlechtes Gewissen, weil sie es kaum erwarten konnte, wieder zu arbeiten und in der Gesellschaft von Erwachsenen zu sein. Sie fragte sich, ob es wirklich die richtige Entscheidung war, wieder arbeiten zu gehen. »Ich hoffe bloß, dass Duncan allein zurechtkommt.«
»Nun trau deinem Mann doch mal was zu«, meinte Winnie grinsend und deutete mit dem Kopf zum Garten, wo Duncan und Jack mit den Kindern in den Pfützen herumtrampelten. »Er macht sich doch gar nicht schlecht. Es ist nicht zu übersehen, wie sehr er Charlotte liebt. Und wenn ihr beide diese Verpflichtung übernehmen wollt, dann muss sie zu ihm eine genauso enge Bindung entwickeln wie zu dir.« Sie warf Gemma einen forschenden Blick zu. »Hast du dir das auch wirklich gut überlegt? Es muss doch noch andere Pflegefamilien geben, bei denen sie auch vor den Nachstellungen ihrer Großmutter sicher wäre.«
Gemma beugte sich vor und verschränkte die Arme vor der Brust, als ein plötzlicher Schauder sie überlief. »Ich kann mir nicht vorstellen, von ihr getrennt zu sein«, sagte sie voller Gewissheit. »Und ich würde sie keinem anderen Menschen anvertrauen wollen, auch wenn ich es für unwahrscheinlich halte, dass Charlottes Familie in absehbarer Zukunft irgendetwas ausrichten kann.«
Charlottes Großmutter und ihre Onkel waren im August verhaftet worden, und wie es aussah, würden sie noch eine ganze Weile ihre Familientreffen im Gefängnis abhalten müssen.
»Wir sind vorläufig offiziell als Pflegeeltern eingesetzt«, fuhr Gemma fort. Zögernd fügte sie hinzu: »Aber ich habe einen Antrag auf dauerhaftes Sorgerecht gestellt mit anschließender Adoption. Ich hoffe nur, dass meine Familie ihre Meinung ändern wird und dass nichts dazwischen kommt, was Duncans Elternzeit –«
Ein lautes Krachen unterbrach sie, gefolgt von polternden Schritten in der Diele.
»Toby, Stiefel aus!«, hörte Gemma Duncan rufen, doch es war zu spät. Ihr sechsjähriger Sohn kam zur Tür hereingeplatzt, seine roten Gummistiefel mit Schlamm bespritzt, während das blonde Haar ihm in feuchten Stacheln vom Kopf abstand. Er sah wieder einmal wie ein durchtriebenes kleines Teufelchen aus.
Die Tür flog erneut auf, und diesmal erschien Charlotte, die brav ihre Stiefel ausgezogen hatte. Auf gestreiften Socken, noch in ihrem rosa Regenmäntelchen, rannte sie schnurstracks auf Gemma zu und kletterte auf ihren Schoß. Sie schlang die Arme um Gemmas Hals und drückte sie ganz fest wie jedes Mal, wenn sie länger als ein paar Minuten getrennt gewesen waren. Doch als sie den Kopf hob, strahlte sie übers ganze Gesicht, ihre Wangen glühten, und ihre Augen leuchteten. Gemma dachte, dass sie noch nie ein Kind gesehen hatte, das glücklicher aussah.
»Ich bin am besten gesprungen«, verkündete Charlotte.
»Gar nicht«, protestierte Toby. Als großer Junge, der er war, hielt er sich in allen Belangen für haushoch überlegen.
Duncan kam in die Küche. Groß gewachsen, die Haare zerzaust, die Wangen von der Kälte gerötet wie die der Kinder, sah er genauso durchnässt aus wie Toby, wenngleich ein klein wenig sauberer. Als Gemma einen Blick aus dem Fenster warf, sah sie, dass der Regen noch heftiger niederprasselte.
»Du bist wirklich unverbesserlich, Sportsfreund«, wandte Duncan sich streng an Toby. Er deutete auf die schmutzigen Schuhspuren auf dem Boden, riss ein paar Blätter von der Küchenrolle ab und drückte sie dem Jungen in die Hand. »Du entschuldigst dich jetzt bei Tante Winnie und wischst das auf. Und dann –« Er wandte sich zu Gemma und grinste beinahe so schelmisch wie Toby, während er seine strenge Polizistenstimme abstellte. »– hat Dad uns alle nach draußen beordert, Regen hin oder her. Er nervt mal wieder total mit seiner Geheimnistuerei, und er hat Jack und Kit in seine Pläne eingeweiht. Ich kenne doch meinen Dad – mir graut jetzt schon vor dem, was er da wieder ausgeheckt hat.« Er verdrehte die Augen, um seine Worte zu unterstreichen, und Gemma musste unwillkürlich lächeln. Sie hatte Duncans Vater vom ersten Moment an ins Herz geschlossen, doch Hugh Kincaid stand weiß Gott nicht immer mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität.
»Er sagt, er hätte eine Überraschung für uns«, fuhr Duncan fort. »Und er meint, wir würden ganz bestimmt und ohne jeden Zweifel hellauf begeistert sein. Wir sollten lieber rausgehen und uns anschauen, was er sich ausgedacht hat.«
Der Regen kam in Wellen, und die Tropfen prasselten wie Schrotkugeln gegen die Fenster des umgebauten Bootsschuppens.
Kieran Connolly biss die Zähne zusammen und versuchte das Geräusch zu ignorieren, doch das Grollen des Donners über Henley ließ ihn erschaudern. Es ist bloß Regen, sagte er sich; nichts, wovor man sich fürchten muss. Er würde es überleben, und der Schuppen hatte auch schon Schlimmeres überstanden.
Es war einer von mehreren gleicher Bauart, die sich zwischen die Sommercottages auf den kleinen Themseinseln zwischen Henley und der Schleuse von Marsh schmiegten. Errichtet aus Holzbrettern auf einem Betonfundament, war er nicht als menschliche Behausung gedacht, was Kieran aber nicht weiter störte. Hier in diesem einen Raum hatte er seine Werkstatt, ein Feldbett, einen Holzofen, einen Campingkocher, eine einfache Toilette und eine Dusche. Mehr brauchte er nicht. Seinem Mitbewohner Finn jedoch, vermutete Kieran, wäre es wohl lieber gewesen, wenn er gleich von der Haustür aus in den Park hätte laufen können, ohne dass Kieran ihn in seinem Motorboot, das an seinem eigenen kleinen Schwimmdock festgemacht war, oder im Ruderboot des Nachbarn von der Insel ans Ufer schippern musste.
Aber Finn war ja nicht gefragt worden. Sicherlich hätte er die Strecke auch schwimmen können – als Labrador Retriever lag ihm das schließlich im Blut –, aber Kieran hatte ihn so erzogen, dass er ohne Erlaubnis nicht ins Wasser ging. Sonst hätte Kieran ihn, wenn er wie jeden Morgen auf der Themse ruderte, nie allein zurücklassen können, weil dann unweigerlich irgendwann ein großer schwarzer Hund in seinem Kielwasser gepaddelt wäre.
Wie fast jeden Morgen, verbesserte sich Kieran, als es erneut donnerte. Bei Gewitter ging er nicht aufs Wasser. Wieder rüttelte eine Bö an seinem Bootsschuppen, und die Fensterscheiben klirrten im Chor. Unwillkürlich zuckte er zusammen – und spürte einen brennenden Schmerz in der Hand. Er sah hinunter und entdeckte einen Blutstropfen auf dem feinen Sandpapier, mit dem er gerade eine mit Epoxidharz ausgebesserte Stelle am Rumpf des alten Aylings-Zweiers abschmirgelte, den er kieloben aufgebockt hatte. Jetzt hatte er sich glatt die eigenen Knöchel abgeschmirgelt. Mist. Seine Hände zitterten wieder.
Finn winselte und stupste Kierans Knie mit seiner stumpfen Schnauze an. Wieder tat es einen Donnerschlag, und der ganze Schuppen erbebte wie eine Pauke. Oder wie unter Artilleriesperrfeuer.
»Ist nur der Regen, Junge.« Kieran hörte das Zittern in seiner Stimme und verzog angewidert das Gesicht. Musste ja sehr beruhigend wirken, wenn er selber schwitzte und zitterte wie Espenlaub. Erbärmlich. Er zwang sich, seine Hand stillzuhalten, faltete das Schmirgelpapier zusammen und legte es auf seine Werkbank.
Aber während die Hand ihm gerade noch gehorchte, hatte er keine Kontrolle mehr über seine Knie. Als sie einzuknicken drohten, wankte er zwei Schritte auf die Wand zu, lehnte sich mit dem Rücken daran und rutschte nach unten. Er hatte das Gefühl, als ob die Luft selbst ein enormes Gewicht wäre, das auf ihm lastete und seine Lunge zusammendrückte. Finn stieß ihn mit der Schnauze an und kletterte ihm halb auf den Schoß, und als Kieran die Arme um den Hund schlang, konnte er nicht sagen, ob das Winseln von Finn oder von ihm selbst kam. »Tut mir leid, Junge, tut mir leid«, flüsterte er. »Es wird schon wieder. Wir schaffen das schon. Ist doch bloß ein bisschen Regen.«
Er sagte sich noch einmal die rationale Erklärung für sein körperliches Leiden vor. Schädigung des Mittelohrs, verursacht durch Geschützfeuer. Plötzliche Luftdruckschwankungen können den Gleichgewichtssinn beeinträchtigen. Er kannte den Spruch schon auswendig.
Das hatten die Militärärzte ihm damals gesagt – als ob er es nicht schon selbst gewusst hätte. Sie hatten ihm auch gesagt, dass er eine schwere Gehirnerschütterung erlitten habe und dass auch sein Gehör beeinträchtigt sei. »Nicht genug«, sagte er laut und lachte ein wenig hysterisch über seinen eigenen schwarzen Humor. Finn leckte ihm das Kinn ab, und Kieran drückte ihn noch fester an sich. »Es geht vorbei«, flüsterte er, um den Hund ebenso wie sich selbst zu beruhigen.
Das Zimmer drehte sich um ihn, und auf den Schwindel folgte eine Welle von Übelkeit, so heftig, dass er krampfhaft schlucken musste, um sich nicht zu übergeben. Auch das hatte mit seinem Mittelohr zu tun, so hatten sie es ihm jedenfalls erklärt. Eher lästig als wirklich gefährlich, hatten sie gemeint. Er rutschte noch ein Stück an der Wand hinunter, und Finn verlagerte den Rest seiner fünfunddreißig Kilo Lebendgewicht auf Kierans Schoß.
So lästig, zusammen mit dem Zittern und den Schweißausbrüchen und dem Schreien im Schlaf, dass sie ihn entlassen hatten. Bye-bye, Sanitätssoldat Erster Klasse Kieran Connolly, da haben Sie Ihren Orden und Ihre hübsche Pension. Von der Pension hatte er sich den Bootsschuppen gekauft.
Als Teenager hatte er in Henley gerudert, in der Mannschaft des Lea. Einem Jungen aus Tottenham, der rein zufällig auf den Lea Rowing Club gestoßen war, musste Henley wie das Paradies vorkommen.
Damals hatte er bei seinem Vater gelebt. Seine Mutter hatte sich aus dem Staub gemacht, als Kieran noch ein Baby war, doch das war ein Thema, über das sein Vater niemals sprach. Sie wohnten in einer Reihenhaussiedlung, die sich mit Müh und Not noch einen bürgerlichen Anstrich gab. Sein Vater hatte dort in der Werkstatt unter der Wohnung Möbel repariert und gebaut. Als weißer Jugendlicher irischer Abstammung hatte Kieran in diesem Teil von Nordlondon zu einer Minderheit gehört, und bald war er auf dem besten Weg zu einer Karriere als Kleinkrimineller gewesen.
Kieran tätschelte Finns warme Schnauze und schloss die Augen, während er versuchte, die aufkommende Panik mit Hilfe der Erinnerung zu unterdrücken, wie es der Therapeut beim Militär ihm beigebracht hatte.
Es war ein heißer Tag gewesen, jener Samstag im Juni vor so langer Zeit, kurz nach seinem vierzehnten Geburtstag. Er hatte als Mutprobe ein Fahrrad gestohlen und war mit pochendem Herzen in wilder Flucht durch die Straßen von Tottenham gehetzt, bis hinunter zu dem Weg, der das Ufer des River Lea säumte. Und dann, als er sicher war, seine Verfolger abgehängt zu haben, als seine Beine brannten und die Sonne ihm auf den Kopf knallte, hatte er die Skiffs auf dem Wasser gesehen.
Die Geräusche des Gewitters schwanden aus seinem Bewusstsein, je tiefer er in die Erinnerung eintauchte.
Er war stehengeblieben und hatte aufs Wasser hinausgestarrt, jeder Gedanke an Verfolgung und Strafe augenblicklich vergessen. Die Boote waren Stille in Bewegung, wie sie über die quecksilbrig glitzernde Wasserfläche glitten, elegant wie Libellen; und der Anblick hatte etwas in ihm angerührt und nicht mehr losgelassen, von dem er nicht einmal gewusst hatte, dass es in ihm war.
Den ganzen Nachmittag hatte er ihnen zugeschaut, und in der Abenddämmerung war er langsam nach Tottenham zurückgeradelt und hatte das Rad zurückgegeben, ohne auf den Spott seiner Freunde zu achten. Am nächsten Samstag war er wieder zum Fluss gegangen, angezogen von etwas, das er nicht in Worte fassen konnte, von einer Sehnsucht, die bis dahin nur ein Schemen an den verschwommenen Rändern seiner Fantasie gewesen war.
Noch ein Samstag und noch einer. Er erfuhr, dass es sich um den Lea Rowing Club handelte, und bald kannte er auch schon die Namen der Boote: Einer oder Skiffs, Zweier und Doppelzweier, Vierer und Doppelvierer, und die Achter. Ließen die Einer ihn an Libellen denken, so waren die Achter wie Rieseninsekten, die sich in einem zugleich fremdartigen und vertrauten Rhythmus bewegten und ihn an die Bilder von römischen Galeeren in seinen Schul-Geschichtsbüchern erinnerten.
Und sie hatten ihn angesprochen, die Ruderer, als sie sahen, wie er am Ufer herumschlich. Schon damals war er hoch aufgeschossen. Linkisch und dürr, mit schwarzen Haaren und blasser Haut – selbst im Hochsommer; alles in allem keine besonders ansprechende Erscheinung. Aber – auch wenn ihm das damals noch nicht klar gewesen war – allein seine Größe machte ihn für den Rudersport interessant, und sie hatten versucht, sein Potenzial einzuschätzen.
Nach einiger Zeit hatten sie ihn mit anpacken lassen, wenn es galt, die Boote auf die Anhänger zu laden oder sie auf die Ständer zu heben, die auf dem Bootsplatz auf sie warteten wie Wiegen, in denen sie zur Ruhe gebettet wurden. Eines Tages hatte ein Mann ihm einen Lappen zugeworfen und mit dem Kopf auf ein tropfnasses Skiff gedeutet. »Kannst es abwischen, wenn du magst«, hatte er gesagt. An einem anderen Tag war es vielleicht ein Schraubenschlüssel, um die Trimmung zu justieren; Öl für die Rollschienen des Sitzes oder Füller für die Reparatur von Dellen in einem GFK-Rumpf.
Im August jenes Jahres hatte er es schon zum Mädchen für alles im Club gebracht. Seine Kumpels waren längst vergessen, die öde Reihenhaussiedlung völlig verdrängt vom Fluss. Er erfuhr, dass der breitschultrige Mann, der ihm die Aufgaben zuwies, ein Trainer war. Und als dieser Trainer ihm eines Tages direkt in die Augen sah und ihm ein Paar Skulls in die Hand drückte, da schien ihm plötzlich die ganze Welt offenzustehen, und Kieran Connolly erkannte, dass vielleicht noch etwas anderes in ihm steckte als ein mittelloser irischer Junge ohne Zukunft.
Der Lea – und das Rudern – hatten ihm diese Chance eröffnet. Sein Trainer hatte ihm geraten, zum Militär zu gehen. So könne er rudern, hatte er gesagt, und gleichzeitig etwas Gescheites lernen. Und das hatte er getan. Er hatte sich zum Sanitäter ausbilden lassen und im Achter wie auch im Vierer gerudert, und schließlich im Einer, der seit dem ersten Tag auf dem Lea seine wahre Liebe gewesen war.
Was weder er noch sein Coach in jenen unbeschwerten Tagen vor dem 11. September hatten vorhersehen können, war, dass die Welt sich verändern und dass Kieran vier Kampfeinsätze im Irak erleben würde. Beim letzten war seine Einheit in eine improvisierte Sprengfalle geraten, und er hatte als Einziger überlebt.
In Tottenham hatte ihn bei seiner Rückkehr nichts mehr erwartet. Seinen Vater hatte der Krebs dahingerafft, das Haus war verkauft worden, um seine Schulden zu bezahlen – wenngleich Kieran die Tischlerwerkzeuge seines Vaters hatte retten können. Danach hätte er es nicht mehr ertragen, zum Lea zurückzukehren und dort irgendjemandem zu begegnen, den er gekannt hatte und der ihn vielleicht auch noch bemitleiden würde.
Und so hatte er sich einen alten Land Rover gekauft und sich ziellos durch den Süden Englands treiben lassen. Er hatte in einem Zelt geschlafen, immer wieder angezogen von den Flüssen, ohne dass er eine Vorstellung davon gehabt hätte, was er tun oder wo es einen Platz für ihn geben könnte.
Und dann, an einem frühen Morgen im Mai, zwei Monate nach seiner Entlassung, hatte er auf der Henley Bridge gestanden und den Ruderern zugeschaut, und er war sich klein, unbedeutend und unwirklich vorgekommen.
Später war er in die Stadt gegangen, um Vorräte zu kaufen, als er im Schaufenster eines Immobilienmaklers die Anzeige für den Bootsschuppen entdeckt hatte. Es war ihm vorgekommen wie ein Rettungsring, den man einem Ertrinkenden zuwirft.
Wenige Wochen später, inzwischen stolzer Besitzer des Ein-Zimmer-Schuppens, war er mit seinen paar Habseligkeiten eingezogen, hatte sich ein gebrauchtes Skiff gekauft und zum ersten Mal seit Jahren wieder mit dem Rudern angefangen. Es war wie Fahrradfahren, dachte er – einmal gelernt, nie vergessen. Sein Körper, noch immer nicht ganz geheilt, hatte protestiert, doch er hatte weitergemacht, und ganz allmählich war er immer stärker geworden.
Es gab dort einen Anleger, an dem er das kleine Motorboot festmachen konnte, das er sich ebenfalls gekauft hatte, und der kleine Schwimmsteg des Bootsschuppens gab ihm die Möglichkeit, sein Skiff gleich vor der Haustür zu Wasser zu lassen. Er war nicht daran interessiert, in einem Club zu rudern oder wieder Wettkämpfe zu bestreiten. Er ruderte nicht mehr, weil er sich sportlich betätigen wollte, sondern um nicht den Verstand zu verlieren.
Aber es war unmöglich, Tag für Tag auf der Themse bei Henley zu rudern, ohne anderen Ruderern zu begegnen, und einige hatten ihn aus seinen Wettkampftagen wiedererkannt. Ein paar andere erinnerten sich, dass er ein Händchen für das Reparieren von Booten hatte, und nach ein paar Monaten begann er hier und da einen kleinen Auftrag anzunehmen.
Die Arbeit half ihm, die Zeit zwischen dem Rudern am Morgen und dem Laufen am Abend auszufüllen, und in den Stunden, in denen er nicht am Boot eines anderen Ruderers herumwerkelte, hatte er ganz zaghaft begonnen, am Entwurf für ein Rennruderboot aus Holz zu arbeiten. Er war schließlich der Sohn eines Möbelschreiners. In seinen Augen besaßen Holzboote ein Leben und eine Eleganz, die Booten aus glasfaserverstärktem Kunststoff abging, und in gewisser Weise war das Projekt ein Tribut an seinen Vater.
Doch er hatte niemanden zum Reden gehabt außer sich selbst, und diese kleine Stimme war eine Art Puffer gegen die Erinnerungen, die ihn in den Nächten wach hielten.
Und dann war er eines Tages aufgebrochen, um ein Boot abzuholen, das geflickt werden musste, und hatte im Garten des Besitzers einen kleinen Zwinger voller Welpen gesehen.
Er hatte dann nicht nur das Boot mitgenommen, sondern auch Finn.
Dieses wohlgenährte, zappelige schwarze Hundebaby hatte Kieran in den zwei Jahren, die seither vergangen waren, einen Grund gegeben, morgens aufzustehen. Finn war mehr als ein Gefährte, er war Kierans Partner, und diese Verbindung hatte Kieran etwas gegeben, womit er in diesem Leben schon nicht mehr gerechnet hatte – eine sinnvolle Aufgabe.
Sicher hatte Tavie auch ihren Anteil daran gehabt, aber ohne Finn hätte er Tavie nie kennengelernt.
Als ob er wüsste, dass er der Gegenstand von Kierans Grübeleien war, streckte Finn behaglich die Zehen an seinen Hinterpfoten aus und bettete seinen schweren Kopf noch etwas bequemer auf Kierans Knie.
Kieran veränderte seine Sitzhaltung und verzog das Gesicht, als das Kribbeln einsetzte. Sein Bein war eingeschlafen. Und das Gewitter zog schon wieder ab, wie er nun bemerkte. Der Regen war nur noch ein Tröpfeln und prasselte nicht länger an die Scheiben wie Querschläger, der Schuppen schwankte nicht mehr im Wind, und seine Übelkeit hatte sich auch gelegt.
»Runter von meinem Bein, du Riesenvieh«, sagte er stöhnend, kraulte aber Finns Ohren, während er behutsam seine Beine beugte und streckte, um den Kreislauf wieder in Gang zu bringen.
Wieder verspürte er ein Kribbeln, aber diesmal war es sein Handy, das in seiner Gesäßtasche vibrierte, als es mit einem Ping das Eintreffen einer SMS signalisierte.
»Weg da, Kumpel«, sagte er und schob den Hund sachte zur Seite, ehe er im Aufstehen sein Handy aus der Hosentasche fischte.
Die SMS war von Tavie – sie hatte an diesem Morgen die Einsatzkoordination. VP. ERWACHSENE RUDERIN. ZG U. LBA LEANDER. BITTE VERFÜGBARKEIT FÜR SUCHE MELDEN.
Kieran konnte die Kürzel inzwischen automatisch ergänzen. Vermisste Person. Zuletzt gesehen und letzter bekannter Aufenthaltsort: Leander-Club. Er verspürte einen Adrenalinstoß, und Finn, der inzwischen auf den Beinen war, winselte und trippelte ungeduldig um ihn herum. Er kannte das SMS-Signal, und er liebte die Arbeit fast so sehr, wie er Kieran liebte.
»Okay, Junge«, sagte Kieran, »wir haben einen Auftrag.« Und Gott sei Dank hatte das Gewitter sich inzwischen fast verzogen, und er war sicher genug auf den Beinen, um sich zum Einsatz melden zu können. Aber es gefiel ihm gar nicht, was er da gelesen hatte.
In den anderthalb Jahren, die er nun schon für den Such- und Rettungsdienst, Thames Valley Search and Rescue, arbeitete, hatten sie schon unzählige Suchaktionen am und im Fluss durchgeführt. Das blieb in dieser Gegend nun mal nicht aus. Aber eine Suche nach einer vermissten Ruderin – das hatte es noch nie gegeben.