25
Was gibt es Faszinierenderes auf der Welt als fließendes Wasser und die Möglichkeit, sich darauf fortzubewegen? Welch besseres Sinnbild der Existenz und des möglichen Triumphs?
George Santayana, The Lost Pilgrim
Am Sonntagmittag war Kincaid immer noch in seinem Büro im Yard mit dem Abfassen von Berichten beschäftigt. Doug hatte er irgendwann am Vormittag in recht bestimmtem Ton nach Hause geschickt. Der Sergeant hatte sich im Büro herumgedrückt, sich künstlich Beschäftigungen ausgedacht und dabei von Minute zu Minute nervöser und missmutiger gewirkt.
»Gehen Sie«, hatte Kincaid schließlich gesagt. »Sehen Sie zu, dass Sie Ihre Umzugskisten ausgepackt kriegen.«
»Aber Sie brauchen mich doch noch, um das da Korrektur zu lesen«, hatte Doug protestiert und auf den Computerbildschirm gedeutet.
»Danke, aber ich bin durchaus in der Lage, ohne fremde Hilfe einen fehlerfreien Bericht abzufassen.« Kincaid wusste genau, wie Doug sich fühlte, aber es wurde nicht besser dadurch, dass er es vor sich herschob.
»Wir gehen nächstes Wochenende mal einen trinken«, sagte er. »Und sobald Sie sich ein bisschen eingelebt haben, kommen wir zum Essen vorbei – natürlich nur, wenn Sie so mutig sind, uns einzuladen.«
»Ja, klar«, sagte Doug. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und spielte mit seinen Schlüsseln herum. »Ich werde mal ein bisschen recherchieren, welche Restaurants in Putney ins Haus liefern.«
»Dann sind Sie ja beschäftigt, falls Ihr neuer Chef Ihnen nicht genug zu tun gibt.«
Doug quittierte den Scherz mit einem müden Lächeln.
Der Moment dehnte sich endlos, in dem verlegenen Schweigen zweier Männer, die einfach nicht die richtigen Abschiedsworte fanden.
»Ich komme ja wieder«, sagte Kincaid schließlich. Und dann: »Sie werden das schon schaukeln.«
»Sicher.« Doug nickte und schob seine Brille hoch. »Danke. Also, man sieht sich.« Er zog den Kopf ein und schlüpfte zur Tür hinaus.
Cullens Abgang konfrontierte Kincaid erst so richtig mit der Realität. Er würde zwei Monate weg sein; es sei denn, sie würden beschließen, dass sie Charlotte schon früher in die Kinderbetreuung schicken könnten. Sein Leben würde sich auf eine Weise verändern, die er sich noch nicht so recht vorstellen konnte, und er war sich nicht sicher, was er davon halten sollte.
Er saß eine Weile untätig herum, betrachtete die vertrauten Wände seines Büros und dachte darüber nach, wie viele Jahre er sich nun schon über die Arbeit definierte. Er fragte sich, was ohne den Job überhaupt von ihm übrig bliebe.
Und dann dachte er über die Geschehnisse des gestrigen Nachmittags und Abends nach und darüber, wie knapp sie alle einer Tragödie entgangen waren.
Er hatte fast die halbe Samstagnacht damit zugebracht, Ross Abbott im Präsidium der Thames Valley Police zu vernehmen.
Nachdem sie ihn überwältigt und in die Arrestzelle gebracht hatten, war Abbott ganz still geworden und hatte sich geweigert, auch nur ein Wort ohne seinen Anwalt zu sagen.
Als Kincaid Abbott im Gewahrsamstrakt beobachtete, konnte er deutlich sehen, wie eine Maske sich über sein Gesicht legte. Die ganze Verzweiflung des Mannes und seine abgrundtiefe Boshaftigkeit, all das verschwand hinter der Fassade des besonnenen, glaubhaften und zutiefst gekränkten City-Bankers. Aber die Berechnung in Abbotts Augen ließ sich nicht verbergen, und nachdem sein etwas zerstreut wirkender Anwalt endlich eingetroffen war, tischte Abbott ihnen eine Geschichte auf, die zwar nicht wahr, aber doch meisterhaft erfunden war.
Er erzählte, wie er sich große Sorgen um seinen trauernden Freund gemacht habe, nachdem Freddie sich bei ihrem Treffen im Red Lion am frühen Nachmittag so irrational verhalten habe. Da er Freddie in dessen Wohnung nicht angetroffen habe, sei er zum Cottage gefahren, um nach ihm zu suchen.
Als er dann das fremde Auto vor dem Cottage gesehen und entdeckt habe, dass die Haustür nicht richtig geschlossen war, habe er sofort an einen Einbrecher gedacht und sich verpflichtet gefühlt nachzusehen. Daraufhin sei er von Kieran und dessen wild gewordenem Hund bedroht worden und habe sich zu verteidigen versucht.
Was die Pistole betraf, so behauptete er, sie aus der Schublade von Rebecca Meredith’ Anrichte gezogen zu haben, als er nach irgendeinem Gegenstand suchte, mit dem er sich gegen den Irren mit seinem Hund zur Wehr setzen konnte.
»Und dann sind Sie mit Ihrem Kollegen« – er sah Kincaid und Doug dabei scharf an – »hereingeplatzt und haben es versäumt, sich als Polizeibeamte zu identifizieren. Ich dachte, Sie gehörten zu der Bande.«
»Bande?«, echote Kincaid. Er sah auf seine inzwischen wirklich nicht mehr sehr präsentablen Samstagsklamotten hinunter – schlammbespritzte Baumwollhose, durchnässtes Button-Down-Hemd und Pullover – und dachte wehmütig an seine ebenfalls klatschnasse Lederjacke, die zum Trocknen in einem Vorraum hing. Und Doug, dessen Brille von dem Handgemenge mit Abbott einen verbogenen Bügel hatte, und dessen inzwischen getrocknetes blondes Haar in alle Richtungen abstand wie bei einem Schuljungen, der gerade aus dem Bett gekrochen ist, passte noch weit weniger ins Bild. »Bande«, wiederholte er noch einmal und zog die Augenbrauen bis zum Anschlag hoch. Wenn Abbott dramatisieren konnte, dann konnte Kincaid es dreimal. Nicht einmal Abbotts Anwalt vermochte sich ein Grinsen zu verkneifen.
»Ich glaube, Sie müssen mal Ihre Augen untersuchen lassen, Mr. Abbott«, fuhr Kincaid fort. Sie hatten sich in der Tat nicht ausdrücklich als Polizisten identifiziert, sodass er diesen Punkt vorläufig lieber auf sich beruhen ließ.
»Was die Pistole betrifft, so hat Ihre Frau der Polizei bereits mitgeteilt, dass es sich um ihre eigene, illegal erworbene Schusswaffe handelt, die von Ihnen ohne ihr Wissen aus dem Haus entfernt wurde. Für mich ist das ein klares Indiz für Vorsatz.«
Für das Tonband hatte er sodann wiederholt, was sie über Rebecca Meredith’ Besuch bei den Abbotts am vergangenen Samstag wussten, und über die Hintergründe des Mordplans, den Abbott daraufhin gefasst hatte.
»Blödsinn«, sagte Abbott. »Absoluter Blödsinn. Und Sie können nichts davon beweisen.«
»Oh, ich denke, das können wir sehr wohl. Wir haben Ihren Wagen beschlagnahmt, und ein Team von der Spurensicherung hat Ihre Kleider aus Ihrem Haus sichergestellt. Ich weiß, Sie halten sich für sehr clever, Mr. Abbott, aber es wird mit Sicherheit Spuren geben, die Sie übersehen haben, und Sie müssten auch am Tatort Faserspuren hinterlassen haben. Ganz zu schweigen davon, dass Kieran Connolly Sie als den Mann identifizieren wird, den er auf der Lauer liegen sah, genau an der Stelle, an der Rebecca Meredith ermordet wurde.
Und was die Vorkommnisse in dem Cottage in Remenham betrifft, da gibt es vier sehr glaubwürdige Zeugen, die bereitwillig über Ihre Taten und Ihre Absichten Auskunft geben werden.«
Dabei klang er allerdings überzeugter, als er es tatsächlich war. Für einen guten Strafverteidiger waren forensische Spuren kein Problem, außer wenn es sich um DNS handelte – DNS überzeugte die Geschworenen immer –, und von Gemma hatte er gehört, dass Chris Abbott bereits alles bestritt, was sie zu Gemma und Melody gesagt hatte, auch den Waffenbesitz.
Es würde viel Zeit und Mühe kosten, die Anklage gegen Abbott so vorzubereiten, dass sie Aussicht auf Erfolg hatte, aber wenigstens konnte der Mann vorläufig keinen Schaden mehr anrichten.
Die Sanitäter, die zusammen mit den Polizisten am Cottage eingetroffen waren, hatten sich gewundert, dass es ein vierbeiniger und kein zweibeiniger Patient war, der sie erwartete, doch es waren Kollegen von Tavie, und sie hatten bereitwillig Finn, Tavie und Kieran im Krankenwagen mitgenommen. Tavie hatte den Tierarzt, der mit dem SAR-Team zusammenarbeitete, gebeten, in ihre Ambulanz zu kommen, um Finn zu behandeln.
DC Imogen Bell war mit der örtlichen Polizei eingetroffen und hatte sich gleich bereiterklärt, Freddie Atterton nach Hause zu fahren, auch wenn Kincaid den Eindruck hatte, dass Freddie plötzlich viel weniger betreuungsbedürftig wirkte als zuvor.
In den ersten Stunden nach Ross Abbotts Festnahme waren sie alle noch ganz aufgedreht gewesen. Aber jetzt fühlte Kincaid sich stärker mitgenommen, als er zugeben mochte, und er fragte sich die ganze Zeit, ob er die Situation nicht anders hätte handhaben können. Hatte er zugelassen, dass die Empörung über den Tod der Craigs sein Urteil trübte? Er hatte seinen Partner und drei Zivilpersonen in Gefahr gebracht. Und dennoch war er sich hundertprozentig sicher, dass sowohl Kieran Connolly als auch Finn jetzt tot wären, wenn er auf die Verstärkung gewartet hätte.
Warum also lastete die Entscheidung so schwer auf ihm?
Vielleicht, dachte er, war es wirklich Zeit, dass er sich eine Pause gönnte.
Ein Schatten verdunkelte sein Büro, und als er überrascht aufblickte, sah er Chief Superintendent Childs in der Tür stehen. Für einen so kräftigen Mann bewegte Childs sich immer verblüffend geräuschlos.
Anders als gestern beim Haus der Craigs war Childs tadellos gekleidet, mit seinem gewohnten maßgeschneiderten Anzug und der blutroten Klatschmohnblüte am Revers, die er zum kommenden Volkstrauertag trug.
»Sir«, sagte Kincaid und machte Anstalten, sich zu erheben.
»Nein, bleiben Sie doch sitzen.« Childs winkte ab. »Aber ich bleibe lieber stehen, wenn Sie nichts dagegen haben.« Kincaids Besucherstühle waren für Denis Childs’ Leibesfülle nicht geeignet.
»Sir, was tun Sie denn heute am Sonntag im Yard?«
»Eine Besprechung mit dem Polizeipräsidenten.« Er betrachtete Kincaid eine Weile. »Ende gut, alles gut, würde ich sagen, was den Fall Meredith betrifft. Ein schöner Erfolg.«
Kincaid war nicht in der Stimmung für Belobigungen. »Ross Abbott hätte ohne Angus Craig kein Motiv für den Mord an Rebecca Meredith gehabt.«
»Ich habe dem Polizeipräsidenten gesagt, dass Sie das sagen würden.« Childs seufzte. »Er ist jedoch der Meinung, dass es den betroffenen Beamtinnen nur noch mehr Schaden zufügen würde, wenn das, was sie durchgemacht haben, an die Öffentlichkeit gezerrt würde. Das heißt, falls diese Frauen dem überhaupt zustimmen würden, was ich für unwahrscheinlich halte.«
Kincaid starrte ihn an. »Sie wollen doch hoffentlich nicht auch den Mord an Jenny Hart unter den Teppich kehren?«
»Die DNS vom Tatort wird mit der von Craig verglichen werden«, antwortete Childs ausweichend, und Kincaid interpretierte das so, dass man es geflissentlich versäumen könnte, die Ergebnisse dieses Abgleichs zu veröffentlichen.
»Was ist mit einem Gentest bei Chris Abbotts jüngerem Sohn?«
Childs schüttelte den Kopf. »Ich habe große Zweifel, dass seine Mutter dem zustimmen würde. Oder dass ein Richter einen solchen Test gegen ihren Willen anordnen würde. Und was genau könnte Ihrer Meinung nach damit erreicht werden?
Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass DCI Abbott von den Taten oder den Plänen ihres Mannes nichts wusste, meinen Sie nicht, dass ihr Leben schon schwierig genug sein wird, auch ohne dass die Vaterschaft ihres Kindes in Zweifel gezogen wird?«, fuhr Childs fort. »Ganz zu schweigen von dem Schaden, den das Kind erleiden würde. Lassen Sie es gut sein, Duncan. Widmen Sie sich jetzt erst einmal Ihrer Familie, und wenn Sie wiederkommen, wird Ihnen das alles schon gar nicht mehr so furchtbar kompliziert erscheinen.«
Womit er sagen wollte, dachte Kincaid, dass er selbst gefälligst weniger kompliziert sein sollte. Es war eine Abfuhr, und einen Moment lang fragte Kincaid sich, ob er in zwei Monaten überhaupt noch ein Büro haben würde, in das er zurückkehren könnte.
Er stand auf, um Childs direkt in die Augen sehen zu können. »Sir.«
»Gute Arbeit, Duncan.« Childs strich sein Revers glatt. »Ich muss los. Diane wartet mit dem Sonntagsbraten.« Er ging zur Tür, wo er sich wie beiläufig noch einmal umdrehte. »Ach, übrigens, ich habe heute Morgen erfahren, dass der DCI, der eine der Mordkommissionen in Lambeth leitet, gestern einen schweren Herzinfarkt hatte. Der Ärmste. Wie ich höre, steht es im Moment auf Messers Schneide. Aber in der Zwischenzeit wird ihn jemand vertreten müssen, und es wurde vorgeschlagen, Gemma als stellvertretende DCI einzusetzen. Könnten Sie sich vorstellen, dass sie interessiert wäre?«
Eine vorübergehende Beförderung? Als Leiterin einer Mordkommission?
Das roch nach Bestechung, dachte Kincaid. Und doch – Gemma wäre dem Job allemal gewachsen, und sie hätte es verdient. Er konnte ihr die Chance nicht verwehren, aber er dürfte ihr auch niemals verraten, dass er das Angebot für einen Versuch hielt, ihn in der Sache Craig ruhigzustellen.
»Sir«, sagte er, »das ist ganz allein Gemmas Entscheidung.«
Doug Cullen stand im Wohnzimmers seines neuen Hauses in Putney und ließ den Blick deprimiert über die Kisten und Kartons schweifen, die er und Melody am Tag zuvor aus der alten Wohnung hergekarrt hatten. Er hatte immer gedacht, er besäße gar nicht so furchtbar viele Sachen, aber das Zeug schien sich auf mysteriöse Weise vermehrt zu haben, und jetzt wusste er nicht, was er damit anfangen sollte.
Er hatte für morgen einen halben Tag Urlaub beantragt, um da zu sein, wenn der Möbelwagen den Rest seiner Habseligkeiten brachte. Damit würde er bei seinem neuen Chef nicht gerade Punkte sammeln, aber der Mietvertrag für seine alte Wohnung lief mit dem heutigen Tag aus, und so hatte er keine Wahl gehabt.
Vielleicht würde es ja helfen, wenn erst einmal die größeren Möbelstücke an Ort und Stelle waren, obwohl es eigentlich wenig Sinn hatte, sich mehr als ein Eckchen zum Essen und Schlafen herzurichten, solange das Tapezieren und Streichen noch nicht erledigt war.
Er hatte sich gerade auf eine der stabileren Kisten gesetzt, das Kinn in die Hand gestützt und sich gefragt, ob diese ganze Hausidee nicht ein fürchterlicher Fehler gewesen war, da klopfte es an der Tür. Schuldbewusst sprang er auf, als wäre er beim Trödeln erwischt worden, aber schon als er hinging, um zu öffnen, schalt er sich für seine Albernheit. Er erwartete niemanden, und außerdem war das hier sein Haus, und er konnte auf Kisten herumsitzen, so viel er wollte.
Doch als er die Tür öffnete, erlebte er eine angenehme Überraschung. Es war Melody, und sie hatte eine Tragetasche in der Hand.
»Du musst mal deine Klingel reparieren lassen«, begrüßte sie ihn. »Die funktioniert nicht.«
»Na, jetzt komm schon rein«, gab er ein wenig gereizt zurück. »Ich setz es auf die Liste.«
Unbeirrt folgte Melody ihm ins Wohnzimmer und begutachtete seine nicht vorhandenen Fortschritte. »Fühlst dich ein bisschen überfordert, schätze ich mal? Ich dachte mir, du könntest ein bisschen Hilfe gebrauchen.«
»Tut mir leid«, erwiderte Doug verlegen. »Du hast recht. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«
»Das hier dürfte helfen.« Melody öffnete ihre Tasche und zog eine Flasche Champagner heraus. Doug sah, dass sie bereits eisgekühlt war. Und teuer. »Und ich dachte mir auch, dass du hier wahrscheinlich noch keine Gläser hast«, fügte sie hinzu, während sie zwei sorgfältig in ein Geschirrtuch eingeschlagene Champagnerflöten hervorholte.
Noch, dachte Doug. Das konnte auch nur Melody bringen, dass sie so gedankenlos war und Champagner mitbrachte, den er sich nie leisten könnte, aber zugleich taktvoll genug, um so zu tun, als hätte sie sich nicht schon gedacht, dass er gar keine Champagnergläser besaß.
»Ich dachte, wir könnten auf deinen doppelten Neubeginn anstoßen«, sagte sie ein wenig zögerlicher. »Neues Haus, neuer Chef.«
»Super. Vielen Dank.« Doug war sich im Moment nicht so sicher, ob er das eine wie das andere für einen Grund zum Feiern hielt, aber dank seiner Exfreundin wusste er wenigstens, wie man eine Flasche Champagner richtig öffnet. Er trug die Flasche und die Gläser in die Küche, zog die Alufolie ab und wickelte das Geschirrtuch um den Korken, um ihn dann vorsichtig herauszuziehen.
Es machte leise Plopp, als der Korken herausglitt und die Kohlensäure entwich. Gewandt füllte Doug die Gläser mit der blassgoldenen Flüssigkeit.
»Du hast den Beruf verfehlt«, neckte ihn Melody, als er ihr das eine Glas reichte.
»Oberkellner? Wär eine Überlegung wert«, meinte er und hob sein eigenes. »Wahrscheinlich besser bezahlt, bei angenehmeren Arbeitszeiten.«
»Cheers.« Melody berührte den Rand seines Glases mit dem ihren. »Und wie ich höre, hast du dich gestern ganz schön heldenhaft geschlagen, also sollten wir auch darauf trinken.«
»Ich?«
»Na, bei der Festnahme und so weiter. Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen.«
»Nein, das tust du nicht«, entgegnete Doug schroffer als beabsichtigt. Er konnte ihr nicht sagen, wie sehr er sich schämte, wenn er daran dachte, wie er dagestanden hatte, stocksteif wie eine Vogelscheuche, während Ross Abbott mit seiner Pistole herumgefuchtelt hatte. Er hätte derjenige sein sollen, der sich auf Abbott stürzte, und stattdessen hatte er zugelassen, dass sein Chef sein Leben riskierte.
Der Gedanke war unerträglich.
»Tut mir leid«, sagte er wieder. »Cheers.« Er kippte sein halbes Glas hinunter und prustete dann, als die Kohlensäure ihm in die Nase stieg.
»Immer langsam mit dem Zeug.« Melody lächelte, doch er spürte, dass sie ein wenig besorgt war. »Weißt du was? Die Kisten können warten. Schauen wir uns lieber den Garten an. Und dann, Sergeant Cullen, schulden Sie mir noch einen ungestörten Lunch, mit einem Eton Mess als Dessert. Wir können Sockenaffen machen.«
»Sockenaffen?« Er sah sie an, als habe sie vollkommen den Verstand verloren. War das etwa irgendeine abgefahrene Anmache?
»Im Jolly Gardeners«, erklärte Melody. »Ich habe den Aushang gesehen, als wir neulich dort waren. Man kann während des Sonntagslunchs Sockenpuppen basteln. Die Socken bekommt man sogar gestellt.« Sie leerte ihr Glas, und ihre Wangen begannen rosig zu glühen. »Na los, wo bleibt dein Sinn für Abenteuer, Dougie?«
Ja, wo? Doug hatte das Gefühl, dass sein Leben plötzlich eine völlig überraschende, surreale Wendung genommen hatte. Andererseits – was hatte er zu verlieren?
»Okay«, sagte er. »Die Kisten können warten. Sockenaffen. Warum eigentlich nicht?«
Freddie hatte den Dreck und das Blut vom Boden des Cottage aufgewischt. Nachdem die Gewitter von gestern Abend abgezogen waren und erfrischend klare, reine Luft zurückgelassen hatten, lüftete er das Haus gründlich durch und drehte die Heizung auf, um die klamme Kälte zu vertreiben, die sich seit Beccas Tod in den Mauern festgesetzt zu haben schien.
Er putzte und räumte auf, und als er ein Foto fand, das mit dem Gesicht nach unten auf dem Teppich lag, hob er es auf und betrachtete es lange, um es dann in einer Schublade verschwinden zu lassen. Er wollte nicht mehr an Ross Abbott denken, jedenfalls nicht bis zum Beginn des Prozesses.
Gestern Abend hatte er Rache genommen, schnell und gnadenlos. Es war ein gutes Gefühl gewesen, und er empfand keine Reue.
Er hatte alle ehemaligen Kommilitonen aus Oxford angerufen, die damals mit ihm im Blue Boat gesessen hatten, und ihnen erzählt, was Ross damals vor dem Boat Race getan hatte. Das würde genügen. Ross’ Karriere würde vielleicht sogar einen Mordprozess überleben, doch die Mundpropaganda in Rudererkreisen würde seinen Ruf unwiederbringlich ruinieren.
Es war zwar allenfalls eine symbolische Vergeltung für Beccas Tod, doch es schien nur angemessen, dass Ross Abbott das verlieren würde, was ihm am allerwichtigsten war.
Freddie jedoch war sich überhaupt nicht mehr sicher, was ihm wichtig war. Während er sich im Cottage umsah, wurde ihm bewusst, dass er dieses Häuschen liebte, dass er sich hier zu Hause fühlte, wie er es in der Malthouse-Wohnung nie getan hatte. Sobald die juristischen Kriterien erfüllt waren, könnte er die Wohnung verkaufen und wieder ins Cottage ziehen. Vielleicht könnte er ja mit den Möbeln aus dem Malthouse zur Guy Fawkes Night ein Freudenfeuer entfachen, dachte er und grinste schief.
Würde es ihm etwas ausmachen, dieses Haus mit Beccas Geist zu teilen? Während er reglos in dem stillen Zimmer stand, wurde ihm bewusst, dass sie einander trotz all ihrer Fehler und Schwächen geliebt hatten. Und auf eine ganz sonderbare, bittersüße Weise vermochte dieser Gedanke seine Trauer zu lindern. Nein, es würde ihm nichts ausmachen, hier zu wohnen.
Aber wenngleich er dank Beccas Großzügigkeit finanziell wieder Boden unter den Füßen hatte, musste er feststellen, dass er jegliches Interesse an Immobiliengeschäften verloren hatte oder daran, sich in Kreisen zu bewegen, wo nichts, was man vorweisen konnte, jemals gut genug war.
Was dann? Er hatte nie etwas anderes getan, als Leute dazu zu überreden, ihr Geld in dieses oder jenes Projekt zu investieren. Er besaß keinerlei praktische oder nützliche Talente.
Durch das offene Fenster hörte er das Geräusch von Autoreifen auf Asphalt. Er schaute hinaus und sah einen verbeulten Land Rover vor dem Cottage halten.
Es war Kierans Auto; er erkannte es von gestern wieder. Und auf dem Dachgepäckträger war – in eine Plane gehüllt, aber dank seiner langen, schlanken Form unverkennbar – ein Skiff festgemacht.
Freddie ging hinaus und kam Kieran am Gartentor entgegen.
»Ich dachte mir, dass ich Sie hier antreffen würde«, sagte Kieran. Er schien sich zu freuen, und es war das erste Mal, dass Freddie ihn lächeln sah. Sein hageres Gesicht war dadurch wie verwandelt, und Freddie glaubte etwas von dem Mann zu sehen, den Becca gekannt hatte.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte er. »Was macht Finn?«
»Sie haben ihn genäht und verbunden, und er ist ein bisschen benommen von den Schmerzmitteln. Aber der Tierarzt sagt, er wird wieder. Wir müssen nur aufpassen, dass er sich nicht überanstrengt, bis alles verheilt ist. Tavie ist zu Hause und wacht mit Argusaugen über ihn.«
Den letzten Satz sprach er mit einer Gelassenheit aus, die Freddie vermuten ließ, dass Kieran den Bootsschuppen so bald nicht zum Wohnen brauchen würde. Er freute sich für ihn, und er war auch ein bisschen neidisch.
»Ich habe den Schuppen aufgeräumt«, fuhr Kieran fort, »und geschaut, was noch zu retten ist. Und ich dachte mir« – er deutete auf den Dachgepäckträger – »da es wie durch ein Wunder heil geblieben ist, wäre es vielleicht an der Zeit, dass jemand mit dem Boot eine Probefahrt macht.«
Er ging um den Land Rover herum und zog die Plane ab. Der polierte Mahagonirumpf des Boots glänzte in der Sonne, und Freddie stockte der Atem.
»Helfen Sie mir, es abzuladen?«, fragte Kieran. »Ich denke, Beccas Nachbarn werden nichts dagegen haben, wenn wir es von ihrem Anleger zu Wasser lassen.«
Kieran nahm ein Paar Skulls von der Ladefläche des Land Rover. Dann hoben sie gemeinsam das Skiff herunter und trugen es zum Wasser. Das Boot kam Freddie federleicht vor, und das Holz war warm wie die Haut einer Frau.
»Ich habe die Trimmung ein bisschen verändert«, erklärte Kieran, als sie das Boot umdrehten und es vorsichtig neben dem kleinen Schwimmsteg aufs Wasser setzten. Kieran legte ein Ruder quer über die Mitte des Skiffs, um es zu stabilisieren, und sah dann zu Freddie auf. »Sie ziehen besser die Schuhe aus. Ich habe ein Paar Turnschuhe von mir am Stemmbrett festgemacht. Die müssten Ihnen eigentlich passen.«
Freddie starrte ihn an. »Sie wollen, dass ich es einweihe? Aber –«
»Wer sonst?«, entgegnete Kieran. »Und ich würde gerne Ihre Meinung hören. Ich muss wissen, ob das Ganze nicht eine völlige Schnapsidee war.«
»Aber ich bin schon ewig nicht mehr ge…«
»Keine Sorge. So was verlernt man nicht.«
Freddie sah das Skiff an, dann die Themse, die glitzernd vor ihm lag, still wie ein See.
Wortlos zog er seine Schuhe aus und stieg ins Boot. Er steckte die Füße in die Turnschuhe und stellte fest, dass sie ihm tatsächlich passten. Nachdem Kieran ihm das zweite Skull gereicht hatte, fixierte er beide Ruder in den Dollen und schob dann den Sitz ein paar Mal vor und zurück, um die Mechanik der Rollschienen zu testen.
Dann stieß Kieran ihn ab, die Strömung erfasste das Boot, und es glitt flussabwärts. Die Rudergriffe lagen wie angegossen in seinen Händen, und als er in die Auslage ging und die Blätter ins Wasser griffen, spürte er, wie das Boot sich anhob.
Dann übernahm sein motorisches Gedächtnis die Kontrolle. Zug, Freilauf, Zug, Freilauf, und er war eins mit dem Boot, das surrend durchs Wasser glitt.
Kleine Tröpfchen spritzten ihm ins Gesicht, wenn er die Blätter herauszog, und das Wasser war frisch und kühl, ein Segen. Ein Gefühl reiner Freude weitete seine Brust, und ihm wurde bewusst, dass er seit seiner Kindheit nicht mehr rein zum Vergnügen gerudert war.
Und dann erkannte er, dass es doch noch etwas gab, wo seine Fähigkeiten zu etwas nütze sein könnten. Er hatte noch den alten Bauernhof, direkt am Fluss gelegen, ein Objekt, aus dem sich etwas weitaus Sinnvolleres machen ließe als irgendwelche Luxusapartments. Denn es wäre der ideale Standort für eine Bootswerkstatt.
Er hatte Jahre damit zugebracht, Investoren zum Kauf von Immobilien zu überreden. Warum sollte er nicht ruderbegeisterte Zeitgenossen dazu bringen können, mit ihrem Geld etwas viel Nützlicheres zu unterstützen: den Bau von wunderschönen, einzigartigen Ruderbooten? Und den Mann, der sie baute.
Vorausgesetzt, Kieran wollte ihn als Partner haben.
Am frühen Sonntagabend ging es in dem Haus in Notting Hill zu wie in einem Bienenstock, nur dass nicht alle Aktivitäten so nützlich waren.
Die Jungs waren ganz aufgedreht, weil morgen der erste Schultag nach den Herbstferien war. Bei Toby drückte sich das darin aus, dass er sich wie ein menschlicher Pingpongball aufführte, im Haus herumflitzte und ab und zu buchstäblich von den Wänden abprallte.
Kit, der seit ihrer Rückkehr aus Glastonbury kaum ein Wort mit irgendjemandem gesprochen hatte, redete plötzlich wie ein Wasserfall über ein Biologie-Referat, das er noch fertigmachen musste, und hatte den ganzen Küchentisch mit Büchern und Papieren übersät, wenngleich Kincaid nicht feststellen konnte, dass er irgendetwas arbeitete.
Und Gemma – Gemma wirbelte, seit Kincaid vom Yard zurück war, ununterbrochen durchs Haus wie ein Derwisch, räumte und putzte und organisierte und machte ellenlange, komplizierte Listen, die sie an alle verfügbaren Flächen heftete.
Charlotte, verstört durch die ganzen hektischen Aktivitäten, klammerte sich an Gemma, wann immer sie konnte, und brach in regelmäßigen Abständen in Tränen aus. Sie hatten ihr so beiläufig wie möglich von der bevorstehenden Veränderung in ihrer Alltagsroutine erzählt und ihr nur gesagt, dass sie bald jeden Tag ganz viel Zeit mit Duncan verbringen könne, wenn Gemma in der Arbeit und die Jungs in der Schule wären.
»Du denkst doch dran, dass sie kein Marmite mag?«, sagte Gemma und befestigte eine weitere Liste mit einem Magneten in Form eines Quidditch-Besens am Kühlschrank. Charlotte, die merkte, dass die Rede von ihr war, schlang die Arme um Gemmas Bein und wimmerte leise. »Morgens nur Butter auf dem Toast«, fuhr Gemma fort, »und keine Futzel im Orangensaft.«
»Futzel?« Duncan schüttelte den Kopf und fuhr leicht genervt fort: »Mein Gott, Gemma, du brichst doch nicht zu einer Kreuzfahrt auf. Und das ist doch alles wirklich kein Hexenwerk. Ich bin sicher, dass wir das problemlos hinkriegen.«
Gemma sah ihn überrascht an – und dann malte sich plötzlich ein solches Entsetzen in ihren Zügen, dass er sicher war, irgendjemand müsse irgendwo einen ganz fatalen Fehler begangen haben.
»Das Essen«, sagte sie. »In der ganzen Hektik habe ich das vollkommen vergessen. Wir haben nichts zum Abendessen!«
»Pizza!«, rief Toby und löste damit ein kollektives Aufstöhnen aus.
»Nicht schon wieder«, sagte Kit. »Noch mal Pizza, das überleb ich nicht.«
Kincaid grinste. »Hätte nie gedacht, dass ich das einmal zu hören bekommen würde. Die Welt ist in ihren Grundfesten erschüttert.« Und dann dachte er sich, dass er am besten gleich so anfangen sollte, wie er weiterzumachen gedachte. Er öffnete den Küchenschrank und spähte hinein. »Da sind Spaghetti und ein Glas Nudelsauce. Kit, die Hunde müssen sowieso mal raus – falls du dich von deinem Referat losreißen kannst, lauf doch rasch los und bring uns aus dem Tesco Express einen Salat und ein bisschen Hackfleisch mit.«
Kit verdrehte die Augen über die Bemerkung zu seinem Referat, sagte aber: »Okay, kein Problem.«
»Spaghetti Polonäse, Spaghetti Polonäse«, begann Toby zu skandieren.
»Das hört sich ja fürchterlich an«, schalt Gemma ihn, obwohl sie erleichtert schien, dass ihr die Sorge ums Abendessen abgenommen worden war. »Sag es richtig: Spaghetti Bolognese.« Sie sprach es mit übertrieben italienischer Betonung aus.
»Klingt wie Augäpfel«, meinte Kit boshaft. »Augäpfel mit Würmern, passend zu Halloween. Mjam!«
Charlotte begann zu weinen. »Mag keine Augenäpfel!«
Aber die Jungs knufften sich schon wild und tanzten unter schaurigem Geheul durch die Küche, was wiederum die Hunde zum Bellen animierte.
»Das reicht!«, sagte Kincaid, dem endgültig der Geduldsfaden riss. Er war zwar nicht richtig laut geworden, aber dennoch verstummte der Höllenlärm wenigstens für den Moment.
»Okay. Sorry, Paps.« Kit streckte die Hand aus. »Aber du musst mir schon die Kohle rüberschieben.«
Diesmal war es Kincaid, der die Augen verdrehte, doch er nahm einen Schein aus seiner Brieftasche und gab ihn Kit.«
»Ich will Süßigkeiten«, meldete sich Toby. »Ich will mitgehen.«
»Nein und nochmals nein.« Kincaid duldete keine Widerrede mehr. »Du packst jetzt erst mal deine Schultasche für morgen.«
Kit rief die Hunde, und als Kincaid das Klicken ihrer Krallen auf dem bloßen Fußboden hörte, fiel ihm plötzlich ein, dass er Edie Craigs Hund völlig vergessen hatte. Barney.
Er ging in die Diele und wühlte in seiner Jackentasche, bis er den zerknüllten Zettel gefunden hatte, auf dem er den Namen des Nachbarn notiert hatte. Sie hatten noch nicht herausfinden können, ob Verwandte von Craig oder seiner Frau sich um Barney kümmern würden, aber irgendetwas musste schließlich wegen des Hundes unternommen werden.
Er würde mit Charlotte nach Hambleden fahren, beschloss er, irgendwann, wenn die Jungs in der Schule waren. Er würde mit dem Barkeeper im Pub sprechen, und vielleicht mit dem Pfarrer. Und wenn niemand im Dorf Barney nehmen wollte, dann wüsste Tavie vielleicht jemanden.
Es schien ihm das Mindeste, was er für Edie Craig tun konnte, und er hatte wieder einmal das bedrückende Gefühl, sie im Stich gelassen zu haben.
»Papa?«, sagte Kit leise. Er hatte den Hunden die Leinen angelegt, war aber in der Tür stehengeblieben und sah ihn fragend an. »Alles okay?
»Doch, doch.« Kincaid lächelte und steckte den Zettel wieder ein, diesmal aber nicht, ohne ihn sorgfältig zusammengefaltet zu haben. »Du solltest dich beeilen, sonst gibt’s hier noch einen Volksaufstand.«
Er ließ Kit und die Hunde zur Haustür heraus, ging dann zurück in die Küche und versuchte sich zu erinnern, wo er Zwiebeln und Knoblauch für die Spaghettisauce gesehen hatte. Mit ein bisschen Übung würde er das schon hinkriegen, dachte er.
»Die gelbe Schüssel rechts von der Spüle«, sagte Gemma und grinste ihn an.
»Woher hast du –«
Doch bevor er weiterreden konnte, klingelte ihr Handy. Noch ehe sie den Anruf angenommen hatte, wusste er, worum es ging.
Während sie das Telefon unter Kits Schulunterlagen herausfischte, scheuchte Kincaid Toby aus der Küche. »Geh rauf und leg schon mal deinen Schlafanzug raus. Du kannst den mit den Totenschädeln nehmen, für Halloween.«
Dann eiste er Charlotte von Gemmas Bein los und hievte sie auf seine Hüfte. »Wenn du ganz, ganz brav bist«, flüsterte er ihr ins Ohr, »dann spielen wir nach dem Abendessen Flugzeug. Oder vielleicht schon davor«, korrigierte er sich, als ihm einfiel, dass es vielleicht keine so gute Idee wäre, ein Kind mit einem Bauch voll Spaghetti Bolognese kopfüber durch die Luft zu wirbeln.
»Davor«, sagte Charlotte bestimmt, wenngleich aus ganz anderen Motiven.
»Oh, hallo, Mark, wie geht’s?«, sagte Gemma. Sie klang erfreut, aber auch ein wenig verunsichert.
Mark Lamb, dachte Kincaid. Gemmas Chef und sein alter Kumpel von der Polizeischule. Sie hatten Lamb vorgeschickt.
Gemma lauschte und nickte, doch ihre Miene war plötzlich ganz starr geworden.
»Dann les ich dir nach dem Abendessen eine Geschichte vor«, murmelte Kincaid Charlotte ins Ohr.
»Alice?«
»Alice, wie immer.« Er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis er das ganze Buch auswendig kannte. »Immer wieder Alice.«
Charlotte kicherte und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter.
»Gut«, sagte Gemma ins Telefon. Jetzt sah sie Kincaid an und zog vor Überraschung die Brauen hoch. »Das tut mir aber leid«, antwortete sie der Stimme, die schwach aus dem Lautsprecher des Handys drang. »Aber natürlich helfe ich gerne aus, wenn ich kann. In Ordnung. Lambeth. Gleich morgen früh. Danke, Sir. Wir sehen uns.«
Gemma trennte die Verbindung. Eine Weile stand sie nur da und starrte das Handy mit großen Augen an.
Dann blickte sie zu Kincaid auf, und das Lächeln ließ ihr Gesicht erstrahlen wie ein Sonnenaufgang.
»Ich habe einen neuen Job«, sagte sie.