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Jedes Crewmitglied konsumierte zwischen 6000 und 7000 Kalorien am Tag, um den Körper auf Touren zu bringen – ungefähr das Dreifache der durchschnittlichen Tagesration eines Erwachsenen … Jede Portion war dreimal so groß wie bei einem »normalen« Essen. Foster brachte seine eigene Schüssel mit für die Berge von Pasta, die er zum Mittagessen verschlang. Einer der Ruderer aß aus einem Hundenapf, andere benutzten zum Beispiel Blumentöpfe.

Rory Ross mit Tim Foster, Four Men in a Boat: The Inside Story of the Sydney 2000 Coxless Four

Doug hatte sich bei einer der Damen im Empfangsbüro des Leander-Clubs angemeldet und nach Milo Jachym gefragt. Nun vertrieb er sich die Wartezeit in der Lobby. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, schlenderte er auf und ab und versuchte dabei, die ausgestellten Fotos und Trophäen nicht allzu auffällig anzustarren. Er war gerade vor der Vitrine des Souvenirshops stehengeblieben und überlegte, ob er sich ein Hemd mit Umschlagmanschetten kaufen würde, nur um die pinkfarbenen Nilpferd-Manschettenknöpfe tragen zu können, als hinter ihm eine Frauenstimme sagte:

»Ich an Ihrer Stelle würde die marineblaue Baseballkappe nehmen.«

Erschrocken fuhr er herum und sah, dass es Lily Meyberg war, die hübsche Empfangschefin.

»Sie meinen, das Pink würde mir nicht stehen?«, fragte er, angestrengt um Lässigkeit bemüht, und deutete mit einem Kopfnicken auf die knallig pinkfarbene Kappe in der Vitrine.

»Ich würde den Träger für seinen Mut bewundern«, erwiderte sie lächelnd. »Aber Ihnen steht die Farbe nicht. Ich würde bei Marineblau bleiben.« Sie berührte ihn leicht am Arm, während sie hinzufügte: »Ehe ich’s vergesse – ich soll Sie nach oben zur Rezeption bringen. Milo wird in ein paar Minuten bei Ihnen sein.«

Während er hinter ihr die Treppe hinaufging, war er hin- und hergerissen zwischen dem Anblick ihres wackelnden Pos in dem engen marineblauen Rock und dem der Fotos von Olympiamedaillengewinnern und Weltmeistern an der Wand des Treppenhauses. Am Abend zuvor hatte er die Bilder nur flüchtig betrachtet – er hatte sich vor Kincaid nicht blamieren wollen, indem er zu lange davor verweilte –, aber jetzt fand er die Alternative doch verlockender.

»Wir decken gerade erst fürs Mittagessen«, erklärte Lily, als sie den Empfangsbereich im ersten Stock erreicht hatten. »Aber die Bar ist geöffnet. Kann ich Ihnen etwas bringen?«

»O nein, danke. Ist noch ein bisschen früh für mich.«

»Und kein Alkohol im Dienst, stimmt’s?«

Um nicht als kompletter Langweiler dazustehen, zuckte er mit den Achseln und sagte: »Na ja, ein Bier zum Lunch darf’s schon mal sein.«

Er schob die Hände in die Hosentaschen und schlenderte zur Balkontür, um auf den Rasen hinunterzublicken, wo im Juni die Zuschauertribünen für die Regatta stehen würden. Wenn er nach links schaute, konnte er gerade eben den Bootsplatz mit den Skiffs auf den Ständern erkennen.

Er widerstand der Versuchung, einen Blick in die Speisesäle zu beiden Seiten des kleinen Foyers zu werfen, und wandte sich wieder zu Lily um, nicht ohne zuvor die Ruder bewundert zu haben, die an den Wänden aufgehängt waren. Olympische Ruder. Wahnsinn. Und eines Tages hätten dort vielleicht auch Rebecca Meredith’ Skulls hängen können.

»Lily, Sie waren doch am Dienstagmorgen hier, nicht wahr?«, fragte er, während er sich die Szene vorzustellen versuchte. »Können Sie sich erinnern, wer als Erster die Befürchtung geäußert hat, Rebecca Meredith könnte etwas zugestoßen sein – war es Freddie Atterton oder Milo Jachym?«

Während sie nachdenklich die Stirn runzelte, fiel ihm auf, dass ihre Nase leicht mit Sommersprossen gesprenkelt war. »Ich weiß nicht. Freddie saß dort drüben am Fenster.« Sie zeigte auf den Tisch, von dem man direkt über den Bootsplatz hinweg auf den Fluss blickte. »Er ist aufgestanden, als er Milo am Empfang stehen sah. Aber ich musste noch mal Kaffee kochen, und als ich aus der Küche zurückkam, waren beide verschwunden. Dann kam Milo noch einmal von draußen herein und sagte, Freddie habe sich auf die Suche nach Becca gemacht.«

Sie schüttelte den Kopf und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich kann es immer noch nicht glauben. Wir sind alle am Boden zerstört.«

»Waren Sie gut befreundet?«, fragte er.

Mit einem Achselzucken wandte Lily sich ab und schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Na ja, ich würde nicht unbedingt sagen, dass irgendjemand mit Becca gut befreundet war. Aber sie war immer –« Lily hielt einen Moment inne und fuhr dann fort: »– vielleicht nicht übermäßig freundlich, aber aufmerksam. Sie würden sich wundern, auf wie viele Mitglieder das nicht zutrifft. Sie hat das Personal nie ausgenutzt, und wer selbst Ruderer war, wurde von ihr immer mit Respekt behandelt. Sie hat nie viel Aufhebens um ihre Person gemacht.«

Er sah, wie sie einen Blick über seine Schulter warf. Augenblicklich straffte sich ihr Rücken, und sie war wieder ganz die Empfangschefin. Mit einem eingeübten Lächeln sagte sie: »Da kommt ja Milo. Dann lasse ich Sie beide mal allein.«

Mit Bedauern sah Doug ihrem schlanken Rücken nach, als sie im Speisesaal verschwand. Er fragte sich, ob er es vielleicht irgendwie hinbiegen könnte, ihr rein zufällig über den Weg zu laufen, wenn er nicht im Dienst war, und sie zu einem Drink einzuladen. Doch er wusste, dass er der Versuchung besser widerstehen sollte; es war nie ratsam, Ermittlungsarbeit und persönliche Beziehungen zu vermischen.

Er drehte sich um und schüttelte Milo Jachym die Hand. »Lily sagte, Sie wollten mich sprechen«, begann Milo. »Aber wir sollten uns vielleicht lieber nicht hier im Mitgliederbereich unterhalten.« Er führte Doug den Gang entlang zu der Tür mit der Aufschrift Crew.

Als Doug hinter ihm eintrat, schlug sein Herz vor Aufregung ein wenig schneller. Das hier war quasi geweihter Boden – ein Ort, wo die größten Ruderer des Landes, wenn nicht gar der Welt, sich in ihren Trainingspausen erholt hatten.

Die Wirklichkeit blieb hinter seinen Erwartungen zurück.

Im ersten Moment glaubte Doug sich in den Speisesaal seines alten Internats zurückversetzt. Die gleichen zweckmäßigen Möbel, der gleiche Geruch nach Eiern, Pommes frites und Frühstücksspeck. Und obwohl die Handvoll Ruderer, die an den Tischen saßen und vermutlich ihr zweites Frühstück einnahmen, frisch geduscht aussahen, hing in der Luft ein hartnäckiger Geruch nach Schweiß und muffigen Sportschuhen.

»Tee?«, fragte Milo und forderte Doug mit einer Geste auf, an einem der Tische in der Nähe der Eingangstür Platz zu nehmen.

Doug, der schon den großen Kantinen-Teespender in der Nähe der Küche entdeckt hatte, musste sich Mühe geben, ein wenig Begeisterung in seine Stimme zu legen. »O ja, danke. Das wäre super.« Jetzt wünschte er, er hätte den Drink nicht abgelehnt, den Lily Meyberg ihm angeboten hatte.

Kurz darauf brachte Milo zwei Henkelbecher mit einer milchigen Flüssigkeit und eine Zuckerdose an ihren Tisch. »Danke.« Doug nippte vorsichtig. Der Tee schmeckte, als ob er aus einem gusseisernen Boiler käme. Rasch griff er nach der Zuckerdose und löffelte sich eine gesundheitsgefährdende Menge in die Tasse.

Er spürte die verstohlenen Blicke der Ruderinnen und Ruderer, und an ihrem Ende des Saals war es plötzlich ganz still geworden. Jetzt war nur noch der Ton des Fernsehers zu hören, in dem das Video eines Rennens lief.

Doug lockerte seinen Krawattenknoten. Als er erfahren hatte, dass er zum Leander gehen sollte, war er froh gewesen, dass er an diesem Tag sein bestes Sportsakko mit passendem Schlips angezogen hatte. Es war schließlich der Leander.

Aber jetzt, mit all den leger gekleideten Sportlern um sich herum, fühlte er sich unbehaglich und overdressed – eben wie ein Außenseiter –, während Milo es mit seiner gebügelten Chino-Hose und dem marineblauen Leander-Poloshirt mit einem kleinen pinkfarbenen Nilpferd auf der Brust genau richtig getroffen hatte.

»Baked Beans auf Toast?«, schlug Milo vor. »Ist heute die Empfehlung des Küchenchefs«, fügte er augenzwinkernd hinzu. Wie aufs Stichwort ließ irgendjemand im Saal einen Pups, was mit unterdrücktem Gekicher kommentiert wurde. Milo ignorierte beides.

»Der beste Freund des Ruderers.« Doug musste sich selbst das Lachen verkneifen. »Aber danke, nein. Ich habe heute Morgen auf dem Revier etwas gegessen, und ich bin nicht fit genug, um ein zweites Frühstück zu verdienen.«

»Sie sind Ruderer«, sagte Milo und musterte ihn nachdenklich. »Neulich abends hatte ich schon den Eindruck, dass Sie sich auskennen. Aber ich schätze mal, dass Sie nicht im Uni-Team waren – dazu sind Sie nicht groß genug.«

»Nein, nur Schul-Achter.«

»Aha. Steuer- oder Backbord?«

»Steuerbord.«

»Welche Schule?«

»Eton«, antwortete Doug, weniger zögerlich als gewöhnlich. Anders als bei der Met würde man ihn hier nicht aufziehen, weil er von einem Elite-Internat kam. Allerdings bekam er allmählich das Gefühl, dass er derjenige war, der hier vernommen wurde.

Milo nickte. »Die haben ein gutes Programm. Rudern Sie noch?«

»Ich habe mir gerade ein Haus in Putney gekauft. Dachte mir, ich versuch’s vielleicht mal beim LRC.« Als Schüler war Doug vom London Rowing Club aus Regatten gerudert, doch seither war er nicht mehr dort gewesen. Als er noch unschlüssig gewesen war, ob er das Haus wirklich kaufen sollte, war er in Putney zum Themseufer gegangen und hatte zu dem altehrwürdigen Club hinaufgeschaut. In diesen Gebäuden, mit Blick über den Gezeitenstrom der Themse, war früher einmal der Leander untergebracht gewesen, bevor er nach Henley umgezogen war; die Verbindungen zwischen beiden Clubs waren jedoch nach wie vor eng.

Sicherlich war der LRC nicht so exklusiv wie der Leander, dennoch hatte Doug sich noch nicht aufraffen können, einfach hinzugehen und die Mitgliedschaft zu beantragen. Die meisten Mitglieder waren gewiss viel erfahrenere Ruderer, und wie immer hemmte ihn die Angst, sich zu blamieren.

»Haben Sie sich schon ein Boot gekauft?«, fragte Milo.

Der Trainer spielte auf Zeit, dachte Doug – vielleicht, um den Ruderern Gelegenheit zu geben, unaufgefordert das Feld zu räumen. Aber wenn er das Gespräch unter vier Augen führen wollte, warum hatte er Doug dann in den Gemeinschaftsspeisesaal geführt? Es gab doch sicherlich noch andere Räume im Club, wo sie nicht von Crewmitgliedern gestört würden.

»Nein. Ich dachte mir, ich wage einfach den Sprung ins kalte Wasser, sozusagen. Fürs Erste dürfte mir ein Club-Boot vollauf genügen.« Er nahm noch einen kleinen Schluck von seinem Tee und versuchte, nicht das Gesicht zu verziehen. Entschlossen, endlich zur Sache zu kommen, sagte er: »Also, Mr. Jachym, könnten wir vielleicht –«

»Becca. Ja, natürlich.« Milo seufzte, als ob er sich ins Unvermeidliche fügte. Seine kräftigen Schultern sackten ein wenig ab. »Furchtbare Geschichte. Wir stehen alle noch unter Schock. Und Freddie ruft mich nicht zurück.«

»Wir werden uns später noch mit ihm unterhalten. Ich fürchte, dies ist jetzt offiziell eine Mordermittlung.«

Milos Züge erstarrten. Einen Moment lang erhaschte Doug einen Blick auf den Mann, der sich hinter dem freundlichen, jovialen Auftreten verbarg – den Mann, der seine Ruderer bis über die Grenzen ihrer Belastbarkeit trieb und sogar noch mehr von ihnen erwartete. Man konnte Sportler vom Kaliber des Leander nicht trainieren, wenn man nicht die notwendige Härte und auch Raffinesse mitbrachte – man musste vor allem ein erstklassiger Stratege sein. Und Doug hatte das Gefühl, dass Milo den nächsten Spielzug immer schon vorausahnte.

Die verbliebenen Ruderer schienen Milos Körpersprache oder auch seinen veränderten Tonfall richtig gedeutet zu haben. Sie ließen die Reste ihrer Mahlzeiten stehen und trollten sich einer nach dem anderen – jedoch nicht ohne zuvor neugierige Blicke in Dougs Richtung geworfen zu haben.

Sobald sie allein waren, nickte Milo, und seine Miene wurde wieder undurchdringlich. »So. Und wie wollen Sie nun weiter vorgehen, Sergeant?«

»Die Vorstellung, dass Rebecca Meredith ermordet wurde, überrascht Sie gar nicht?«, fragte Doug.

»Ich bin schockiert, doch«, antwortete Milo. »Aber ich glaube, ich wäre es noch mehr, wenn Sie zu dem Schluss gekommen wären, dass Becca durch einen dummen Fehler oder durch Leichtsinn ertrunken ist.«

»Sie haben sie trainiert«, sagte Doug und versuchte Milos Miene zu lesen. »Ein Unfall aus Dummheit oder Leichtsinn hätte ein schlechtes Licht auf Sie geworfen.«

»Das ist ein Teil der Erklärung.« Milo zuckte mit den Achseln und sah Doug herausfordernd an. »Jetzt wirken Sie geschockt, Mr. Cullen. Aber das ist die menschliche Natur. Wir denken immer zuerst an uns selbst, und wer das nicht zugibt, lügt sich nur in die eigene Tasche.

Aber das heißt nicht, dass ich nicht zutiefst betroffen bin wegen Becca«, fuhr er fort, und seine Stimme klang plötzlich hart. »Und wegen Freddie und wegen allem, was Becca noch hätte erreichen können. Oder werden können. Oder dass ich nicht denjenigen umbringen würde, der ihr das angetan hat.«

»Ist vielleicht nicht besonders ratsam, so etwas gegenüber einem Polizeibeamten zuzugeben, Mr. Jachym«, bemerkte Doug vorsichtig.

»Dann wollen wir hoffen, dass Sie den Kerl erwischen, ehe ich ihn in die Finger bekomme.«

Doug betrachtete ihn nachdenklich. »Würden Sie auch so denken, wenn der Schuldige Ihr Freund wäre?«

»Mein Freund?« Milo sah ihn fragend an, dann schien er zu begreifen, und seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Wenn Sie damit Freddie meinen, dann kann das ja wohl nicht Ihr Ernst sein. Er hätte Becca niemals etwas zuleide getan. Er hat sie angebetet.«

Jetzt war es an Doug, mit den Achseln zu zucken. Er fragte sich, ob Jachyms ungläubige Reaktion nicht ein wenig gekünstelt war. Er musste doch selbst schon auf die Idee gekommen sein, dass Freddie Atterton zu den Tatverdächtigen zählte. »Eben, die menschliche Natur, wie Sie sagten«, erwiderte er. »Manchmal ist es nur ein schmaler Grat zwischen Liebe und Hass. Niemand kann sicher sagen, wie das Verhältnis der beiden wirklich war.«

»Ich habe sie gekannt«, sagte Milo trotzig. »Und ich glaube es nicht.«

Doug gab sich für den Moment geschlagen. »Haben Sie dann vielleicht eine Idee, wer Rebecca Meredith sonst nach dem Leben getrachtet haben könnte?«

»Nein.« Milo schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Wissen Sie schon … Wie ist sie –«

»Das wird noch untersucht. Ebenso wie der Anschlag gestern Abend auf ein Mitglied des Suchteams, das ihre Leiche gefunden hat.«

»Was?« Hatte die Nachricht, dass Becca nach den Erkenntnissen der Polizei ermordet worden war, Milo noch nicht sonderlich überrascht, so schien er über diese Neuigkeit ehrlich erschrocken. »Was für ein Anschlag? Und auf wen?«

»Der Mann heißt Kieran Connolly. Er und seine Partnerin bildeten das Team am Wehr. Jemand hat gestern Abend seinen Bootsschuppen in Brand gesetzt – mit ihm drin. Kennen Sie ihn?«

Milo dachte einen Moment nach. »So ein stiller Typ? Repariert Boote? Ich habe ein paar Mal mit ihm geredet. Er hat gelegentlich für die Crew und auch für verschiedene Mitglieder Aufträge übernommen. Leistet gute Arbeit«, fügte er anerkennend hinzu. »Ist er okay?«

»Ich glaube ja. Wussten Sie, dass Connolly ein Verhältnis mit Rebecca Meredith hatte?«

»Ein Verhältnis? Was meinen Sie mit Verhältnis?« Milo schien verdutzt.

»Was man gewöhnlich damit meint, Mr. Jachym. Die beiden haben miteinander geschlafen.«

Milo zog nachdenklich die Stirn in Falten. »Möglich wäre es schon, ich habe sie im Sommer ziemlich oft zusammen auf dem Fluss gesehen«, sagte er gedehnt. »Aber sie sind beide Einer gerudert, und ich bin nie auf die Idee gekommen, dass da mehr dahinterstecken könnte. Sind Sie sicher? Hat Freddie –?« Er brach ab, und Doug erkannte an dem plötzlichen Argwohn in seinem Blick, wohin Milos Gedankengang ihn geführt hatte.

»Ob Freddie davon gewusst hat?«, vollendete Doug für ihn. »Wenn ja, wäre er eifersüchtig gewesen?«

»Ich – Nein, ich weiß nicht. Ich glaube nicht.« Milo starrte in seine Tasse, als ob die braune Brühe am Boden ihm eine Antwort geben könnte. »Becca und Freddie – sie hatten ein unkompliziertes Verhältnis. Manchmal kamen sie einem eher wie Geschwister vor. Und es war schließlich Freddie, der es mit der ehelichen Treue nicht so genau genommen hat, und nicht Becca.«

»Aber sie hat doch ihn verlassen?«

»Nach seinem Seitensprung, ja. Oder vielleicht sollte ich lieber sagen, nach seinen Seitensprüngen.«

»Freddie Atterton hatte mehr als eine Affäre?«

»Freddie kann ja auch nichts dafür, dass er Charme hat«, meinte Milo. Angesichts seiner Nachsicht stellte Doug sich die Frage, ob alle anderen Freddie Atterton ebenfalls einen solchen Freifahrtschein für sein Fehlverhalten ausgestellt hatten. »Und fairerweise muss man sagen, dass Becca bei ihrem Job auch nicht viel Zeit für ihn hatte.«

»Was ist mit dem Rudern? Das hat bei ihr doch sicher auch einen sehr großen Raum eingenommen?«

»Erst seit etwa einem Jahr. Ehrlich gesagt, ich dachte schon, sie hätte es endgültig aufgegeben, auch wenn sie ihre Mitgliedschaft im Leander wohl eher aus alter Verbundenheit nicht gekündigt hat. Und dann hat sie im Frühjahr ein Boot gekauft. Aber sie hat ein ziemliches Geheimnis um ihr Training gemacht. Sie hat ihr Skiff hier abgestellt, aber sie ist nicht mit der Crew gerudert. Na ja, das eine oder andere Wettrennen am Wochenende, aber da konnte ich sehen, dass sie sich zurückhielt, dass sie nur locker paddelte. Inzwischen glaube ich, dass sie nur die Konkurrenz austesten wollte.«

»Und wann ist Ihnen dann klar geworden, dass es ihr ernst war?«, fragte Doug.

»Vor ein paar Wochen.« Milo blickte zum Fenster hinaus auf den Fluss, und Doug hatte den Eindruck, dass er sich unbehaglich fühlte, vielleicht sogar ein wenig verlegen war. »Ich habe sie gestoppt.«

»Ohne ihr Wissen?«

»Es ist schließlich nicht verboten«, entgegnete Milo mit einer gewissen Schärfe. Er schien die Fassung recht schnell wiedergefunden zu haben. »Es war nur eine kleine Verschwörung mit einem unserer Ruderer. Einer der Jungs hatte zuvor ausgeplaudert, dass sie ein paar von ihnen bestochen hatte, damit sie ihr halfen, Gewichte und ein Ergo in ihr Cottage zu schaffen. Ich war … neugierig. Es ist schließlich mein Job, die Konkurrenz meiner Crew zu kennen.«

»Und?«

»Sie war besser.« Er sah Doug wieder in die Augen.

»Wäre sie für Ihr Team gerudert?«

»Vielleicht. Aber Becca war nie wirklich eine Teamspielerin. Und die anderen Frauen wären auch nicht gerade begeistert gewesen, wenn sie plötzlich dahergekommen wäre und sie von ihren Positionen verdrängt hätte.«

»Also eine ziemlich komplizierte Situation.«

»Nicht wirklich. Wenn Becca es sich in den Kopf gesetzt hätte, auf eigene Faust anzutreten – immer vorausgesetzt, die nötigen Mittel wären vorhanden –, dann hätte sie keinen Gedanken daran verschwendet, ob sie damit irgendjemandes Gefühle verletzte, meine eingeschlossen.«

»War sicher eine Enttäuschung für Sie, nachdem Sie mit Ihrer eigenen Crew so hart gearbeitet haben«, meinte Doug in einem beiläufigen Ton, der eindeutig an Kincaid geschult war.

»Was?« Milo reagierte mit schallendem Gelächter. »Sie glauben, ich hätte Becca umgebracht, um die Chancen meines eigenen Teams zu steigern?« Als Doug ihn nur unverbindlich anstarrte, schlug Milos Belustigung in Verärgerung um. »Das ist doch lächerlich. Ich habe mehr als eine gute Kandidatin für den Einer. Noch nicht absolute Spitze, aber warten wir’s ab. Und wenn nicht, dann werden andere nachrücken.«

»Dann haben Sie sicher nichts dagegen, mir zu verraten, wo Sie am Montagabend waren«, sagte Doug.

»Hier natürlich. Ich habe gerade meine abendliche Runde gemacht und überall abgeschlossen, als ich sah, wie Becca das Filippi vom Ständer nahm. Nachdem ich mit ihr gesprochen hatte, bin ich zurück in den Kraftraum, um das Abendtraining zu beaufsichtigen. Anschließend habe ich mit der Crew zu Abend gegessen.«

Doug hielt es für nahezu unmöglich, dass Milo Jachym, nachdem er noch mit Rebecca Meredith gesprochen hatte, bevor sie vom Leander ablegte, rechtzeitig das Versteck am anderen Flussufer hätte erreichen können, ehe sie Temple Island umrundet hatte und wieder flussaufwärts ruderte. Dabei ging er natürlich davon aus, dass Milo die Wahrheit sagte, was sein Gespräch mit Becca betraf, ebenso wie den Zeitpunkt, zu dem er sie angeblich vom Leander hatte losrudern sehen.

Aber Doug bezweifelte, dass Milo ein falsches Alibi angeben würde, wo es doch ein Leichtes wäre, seinen Terminplan zu überprüfen. Und wenn Kieran Connollys Geschichte sich bestätigte, dann hatte der Mann am anderen Flussufer an zwei Abenden jeweils zu einer Zeit auf der Lauer gelegen, als Milo Training hatte.

Da ihm die Theorie wenig aussichtsreich erschien, verwarf er sie fürs Erste und konzentrierte sich auf den Anschlag gegen Kieran. »Mr. Jachym, wissen Sie, ob gestern Abend gegen zwanzig Uhr eines Ihrer Skiffs ausgeliehen war oder vermisst wurde?«

»Ein Skiff? Wieso?«

»Kieran Connollys Bootsschuppen befindet sich auf der Insel gegenüber dem Rudermuseum. Falls also derjenige, der ihn überfallen hat, nicht zufällig auch dort wohnt, muss er wohl ein Boot benutzt haben. Und warum nicht ein Rennruderboot?«

»Da haben Sie recht«, pflichtete Milo ihm bei. »Also, wenn es ein Boot war, kam es jedenfalls nicht vom Leander. Auf dem Bootsplatz stehen nur einige wenige Einer, und wir passen hier sehr gut auf unser Material auf.« Der Blick, den er Doug zuwarf, drückte Mitleid aus. »Aber, Sergeant, wenn Sie bei jedem Skiff entlang dieses Flussabschnitts überprüfen wollen, wo es zu einer bestimmten Zeit war, dann kann ich Ihnen nur viel Glück wünschen.«

Kincaid stand vor dem Eingang des Malthouse in der New Street und wartete auf Cullen. Die exklusive Wohnanlage war in einem Gebäude der ehemaligen Brakspear-Brauerei untergebracht. Direkt gegenüber nahm das Hotel du Vin einen anderen Teil des Brauereikomplexes ein, und Kincaid stellte fest, dass er weit mehr Begeisterung für einen netten Lunch in der Hotelbar hätte aufbringen können als für die bevorstehende Vernehmung.

Es sah nicht gut aus für Freddie Atterton. Kincaid hatte den versammelten Pressevertretern vor dem Polizeirevier Henley einen kurzen, unverbindlichen Zwischenbericht geliefert. Anschließend hatte er Chief Superintendent Childs angerufen, der sich mit dem Eifer eines Terriers auf Beutejagd auf die Nachricht von Rebecca Meredith’ Lebensversicherung gestürzt hatte. Wobei in Childs’ Fall die Demonstration solcher Begeisterung sich in einem leichten Anheben der Stimme erschöpfte, begleitet – wie Kincaid vermutete – von einem entsprechenden Anheben der Augenbrauen.

Er war eigentlich ganz froh, dass ihm der Anblick erspart geblieben war.

Das Gespräch hinterließ einen bitteren Nachgeschmack bei ihm, doch er versicherte seinem Vorgesetzten widerstrebend, dass er alles daransetzen würde herauszufinden, ob Freddie Atterton für den fraglichen Zeitraum ein Alibi hatte oder nicht.

Nachdem er aufgelegt hatte, war DC Imogen Bell hereingekommen, um ihm zu sagen, dass die Spurensicherung an der von Kieran bezeichneten Stelle am Ufer einen partiellen Fußabdruck gefunden hatte, dazu Textilfasern an einem Zweig sowie Anzeichen eines Kampfes in unmittelbarer Nähe des Ufers. Die Suche nach weiteren Spuren dauerte noch an.

Wie es aussah, hatte Kieran Connolly also recht behalten, was die Stelle betraf, wo Rebecca Meredith ermordet worden war, und Childs wäre überglücklich, wenn sie nachweisen könnten, dass der Fußabdruck oder die Fasern von Atterton stammten.

Doch wenngleich Kincaid sehr wohl bewusst war, dass sein Auftrag lautete, Rebecca Meredith’ Mörder zu fassen, hatte er das Gefühl, in Attertons Richtung gedrängt zu werden, und das aus Gründen, die mit dem Streben nach Gerechtigkeit nichts zu tun hatten.

Und das gefiel ihm ganz und gar nicht.

Vielleicht war er ja nur verbohrt, dachte er, wie Kinder, wenn sie unbedingt ihren Kopf durchsetzen wollten und sich weigerten, Vernunft anzunehmen.

Oder hatte er etwa zu viel Verständnis für einen Mann, der um die Frau trauerte, die er geliebt hatte, ganz gleich, wie kompliziert die Beziehung gewesen sein mochte? Oft genug hatte er Gemma vorgeworfen, dass sie allzu schnell bereit sei, sich in die Lage eines Verdächtigen zu versetzen – jetzt beging er vielleicht den gleichen Fehler.

Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen, während er die Passanten beobachtete, die alle den Sonnenschein zu genießen und sich aufs Mittagessen zu freuen schienen. Die rote Backsteinfassade des Hotels bildete einen lebhaften Kontrast zu den weißen Tür- und Fensterrahmen, und an der Fassade eines Cottage auf der anderen Straßenseite blühten späte pinkfarbene Rosen in einer Fülle, die wie ein letztes Aufbegehren gegen den nahenden Winter wirkte. Es schien ein Tag für letzte Chancen zu sein.

Er wollte gerade sein Handy aus der Tasche ziehen, um Cullen noch einmal anzurufen, als er ihn am Ende der Straße um die Ecke biegen sah.

Der Sergeant machte einen beschwingten Eindruck, als hätte ein wenig vom Glanz des Leander auf ihn abgefärbt.

»Was erreicht?«, fragte Kincaid, als Cullen vor ihm stand.

»Also, mit einem fehlenden oder gestohlenen Skiff kann ich leider nicht dienen«, antwortete Doug. »Milo Jachym sagt, sie würden immer ganz besonders darauf achten, dass abends alle Boote wieder da sind.«

»Nun ja, das konnte man ja auch nicht unbedingt erwarten. Ich habe DC Bell noch zu den beiden anderen Clubs geschickt, nur für alle Fälle. Sonst noch etwas?«

»Ich glaube nicht, dass Milo Jachym als Täter in Frage kommt. Was ich allerdings glaube, ist, dass er Freddie Atterton schützen würde, außer wenn er hundertprozentig von seiner Schuld überzeugt wäre. Aber eine Sache fand ich merkwürdig«, fügte Doug hinzu. Er nahm seine Nickelbrille ab und putzte die Gläser mit seiner Krawatte. »Er hat ganz bereitwillig zugegeben, dass Atterton derjenige war, der durch seine Untreue die Ehe zerstört hat. Offenbar hatte er eine ganze Reihe von Affären. Rebecca Meredith ist früher unter Milo Jachym gerudert, und sie waren befreundet. Da sollte man doch meinen, dass er sich über Attertons Verhalten ihr gegenüber viel stärker aufregen würde.«

»Ein Loyalitätskonflikt? Oder einfach Solidarität unter Machos?«, spekulierte Kincaid. »Nach dem Motto ›Wir Männer sind nun mal so‹.«

»Jedenfalls scheint Atterton selbst wegen seiner Eskapaden ein ziemlich schlechtes Gewissen gehabt zu haben«, meinte Doug, während er die Brille wieder aufsetzte. »Mal sehen, was er so zu seiner Verteidigung vorzubringen hat.«

Die Malthouse-Apartments waren durch ein eindrucksvolles Eisengitter von der Straße abgeschottet, doch an der Seite war eine dezente Tafel mit Klingeln für die einzelnen Wohnungen angebracht. Kincaid warf noch einmal einen Blick auf den Zettel, den er in seine Jackentasche gesteckt hatte, und drückte dann den Knopf neben Attertons Wohnungsnummer.

Kincaids erster Gedanke war, dass Freddie Atterton fürchterlich aussah.

Sein zweiter Gedanke war, dass so ziemlich jeder sich in Freddie Attertons Wohnung fürchterlich gefühlt hätte. Alles war schwarz und grau und minimalistisch, und nicht einmal die gute Beleuchtung und die architektonischen Details, die bei der Renovierung erhalten geblieben waren, konnten die bedrückende Atmosphäre aufhellen.

Und dazu kam noch das Chaos. Im ganzen Wohnzimmer lagen zerknitterte Klamotten herum. Auf dem Couchtisch stand eine leere Whiskyflasche, daneben eine als Aschenbecher zweckentfremdete Müslischale, die vor Kippen überquoll. Und aus der offen angelegten Küche schlug ihnen ein unangenehmer Geruch nach verdorbenem Essen entgegen.

»Tut mir leid«, sagte Atterton, und er schien sich für mehr als nur den Zustand der Wohnung entschuldigen zu wollen. Er war nur mit einer Trainingshose bekleidet, seine Haare waren ungekämmt und an einer Seite plattgedrückt, als wäre er eben erst aus dem Bett aufgestanden. »Ich – ich komme irgendwie nicht mehr nach. Warten Sie, ich such mir nur schnell ein Hemd –« Er blickte sich um, als ob das gewünschte Kleidungsstück plötzlich aus dem Nichts auftauchen könnte, und entdeckte schließlich ein Anzughemd, das über einer Stuhllehne hing. Er schlüpfte hinein, nestelte zwei Knöpfe jeweils ins falsche Loch und fragte: »Kann ich Ihnen einen Kaffee machen?«

Er nahm den improvisierten Aschenbecher und blickte sich um, offenbar auf der Suche nach einem Platz, wo er ihn abstellen könnte. Schließlich entschied er sich für den Kaminsims, über dem zwei dunkelblaue Oxford-Ruder hingen, die einzigen Farbtupfer im ganzen Raum. »Tut mir leid«, sagte er noch einmal, als er zum Sofa zurückkam. »Ich hatte eigentlich mit dem Rauchen aufgehört, aber nachdem – Ich wusste nicht, was ich sonst –«

»Mr. Atterton«, unterbrach ihn Kincaid, »wir müssen uns mit Ihnen unterhalten. Dürfen wir Platz nehmen?«

Freddie Attertons ohnehin schon blasses Gesicht wurde aschfahl. Er tastete mit der Hand nach der Sofalehne und ließ sich darauf niedersinken, ohne das Jackett zu beachten – oder auch nur zu bemerken –, das noch auf dem Kissen lag. »O Gott, was ist passiert?«

Kincaid nickte Cullen zu, und sie setzten sich beide; Doug nahm den Sessel, während Kincaid sich einen der massiven grauen Esszimmerstühle aus geschnitztem Holz heranzog, um nahe bei Freddie sitzen zu können. Wer um alles in der Welt hatte nur diese potthässlichen Möbel ausgesucht?, fragte er sich. Das Zeug hätte aus der Zeit der französischen Schreckensherrschaft stammen können.

»Mr. Atterton, es geht um Ihre Exfrau. Wir haben jetzt Grund zu der Annahme, dass sie ermordet wurde.«

»Ermordet.« Die dunklen Ringe unter Attertons Augen sahen aus wie mit Ruß verschmiert. »Warum – Wie kann sie –« Er brach ab, schluckte. »Als Scotland Yard eingeschaltet wurde, da dachte ich, es wäre nur, weil Becca eine Kollegin von Ihnen war. Aber so etwas – nein, niemals. Wieso hätte irgendjemand Becca umbringen sollen?«

»Deswegen sind wir ja hier, um das herauszufinden. Und wir wurden ursprünglich hinzugezogen, weil die Umstände des Verschwindens Ihrer Exfrau nicht geklärt waren«, sagte Kincaid. »Aber inzwischen liegen neue … Erkenntnisse vor.«

»Sie wissen, was mit ihr passiert ist, nicht wahr?« Freddies Stimme war brüchig. »Sie wissen, wie sie gestorben ist. Warum hat mir niemand –« Er schüttelte den Kopf und schien sich mühsam zusammenzureißen. »Okay. Tut mir leid. Ich weiß, Sie können es mir wahrscheinlich nicht sagen.« Er holte tief Luft. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich weiß Ihre Mitwirkung zu schätzen, Mr. Atterton. Fürs Erste können Sie uns einmal sagen, wo Sie am Montagabend waren.«

»Montag?«

Kincaid hatte den deutlichen Eindruck, dass Attertons Erstaunen über die Frage zum Teil gespielt war. »Der Abend, an dem Ihre Frau starb. Das können Sie doch nicht vergessen haben.«

»Nein. Nein, natürlich nicht. Es ist nur – nach allem, was passiert ist, bin ich nicht – Lassen Sie mich nachdenken …« Er klopfte auf die Brusttasche seines Hemds, stellte fest, dass sie leer war, und ließ die Hand wieder in den Schoß sinken. Die Benson-&-Hedges-Schachtel auf dem Couchtisch war zerknüllt und leer.

»Sagen wir, zwischen vier und sechs Uhr«, half Kincaid nach.

Freddie blinzelte einmal, dann noch einmal und griff wieder an seine Brusttasche. »Ich – Ich war hier.«

»Allein?«

»Ja.«

»Kann das jemand bestätigen? Hat vielleicht ein Nachbar Sie gesehen?«

»Nein. Nein, ich kann mich nicht erinnern, irgendwem begegnet zu sein. Ich war zum Mittagessen im Club. Da hat Milo mir von Becca erzählt – ich meine, er hat mir erzählt, dass sie ernsthaft trainiert. Ich wusste natürlich, dass sie wieder rudert, aber sie hatte gesagt, sie wolle nur wieder in Form kommen und ein bisschen Stress von der Arbeit abbauen.«

»Aber Sie wussten, dass sie ein Boot gekauft hatte – das Filippi«, sagte Kincaid.

»Ja, nun, aber man konnte auch nicht erwarten, dass Becca in einem Club-Boot rudert.«

»Das ist ein sehr teures Boot«, warf Doug ein. »Spitzenqualität.«

»Sie konnte es sich leisten.«

Hatte er da gerade einen Anflug von Bitterkeit aus Freddies Antwort herausgehört?, fragte sich Kincaid. Nun, er würde noch darauf zurückkommen. »Was genau hat Milo Jachym Ihnen an diesem Montag erzählt?«

»Dass sie ein paar von den Jungs aus dem Team engagiert hätte, die ihr halfen, in meinem – in einem Zimmer in ihrem Cottage einen Kraftraum einzurichten. Sie hatte sich Gewichte und ein Ergometer bringen lassen. Und Milo hatte sie gestoppt. Sie ging ab wie der Blitz.«

»Er hat sie ohne ihr Wissen gestoppt«, bemerkte Doug.

»Ja, schon.« Freddie sah verlegen drein. »Aber sie konnte eine ziemliche Geheimniskrämerin sein, und ich kann es Milo nicht verdenken, dass er es wissen wollte.«

»Weil sie besser war als seine eigene Crew?«, fragte Kincaid.

»Nein. Weil sie, wenn sie bereit gewesen wäre, für ihn zu rudern, alles hätte erreichen können. Und die Medien lieben nichts mehr als eine gelungene Comeback-Story. Es wäre gute Publicity für das ganze Team gewesen.«

Kincaid dachte darüber nach. »Als wir Mr. Jachym das erste Mal befragten, da sagte er, Sie seien wütend gewesen, als Sie erfuhren, dass Ihre Exfrau trainierte. Und die Nachricht, die Sie auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen haben, klingt auch so, als hätten Sie sich über sie geärgert. Wieso das, wenn Sie ihre Chancen als so gut einschätzten?«

»Ich –« Freddie rieb mit den Handflächen über sein stoppliges Kinn. »Ich habe mir wohl Gedanken darüber gemacht, was passieren würde, wenn sie scheiterte. Das letzte Mal … sie war danach nie mehr die Alte. Sie hat sich nie verziehen.«

»Aber sie hatte sich doch das Handgelenk gebrochen, nicht wahr?«, fragte Kincaid. »Das war ja wohl nicht ihre Schuld?«

»O doch, das war es«, entgegnete Freddie. »Und auch meine, weil ich mich von ihr hatte überreden lassen. Es war Weihnachten vor den Olympischen Spielen, und das Team hatte ein strenges Trainingsprogramm. Milo wollte nicht, dass irgendjemand eine Verletzung riskierte, aber Becca mochte nicht auf den Skiurlaub in der Schweiz verzichten. Sie hielt sich für unbesiegbar. Aber das war sie nicht. Sie ist auf der Piste gestürzt und hat sich einen komplizierten Handgelenkbruch zugezogen.

Milo war unglaublich wütend. Und obwohl Becca in der Reha wirklich hart an sich arbeitete in der Hoffnung, ihre Position wiederzuerlangen, glaubte er einfach nicht, dass der Bruch schon so weit ausgeheilt war, dass er die Belastung bei ernsthaftem Training aushalten würde.« Freddie seufzte. »Sie waren beide stur, und sie fühlten sich beide gerechtfertigt in ihrem Groll auf den anderen. Vielleicht waren sie es auch, ich weiß es nicht. Aber es hat lange gedauert, bis sie wieder Freunde wurden.«

»Ich kann verstehen, dass sie ein wenig zögerte, ihm von ihrem Training zu erzählen«, sagte Doug. »Sie hatte etwas zu beweisen, und sie wollte sich ganz sicher sein.«

»Genau.« Freddie warf Doug einen dankbaren Blick zu.

»Sie haben sich also Sorgen um sie gemacht?«, fragte Kincaid. »Das war alles?«

Freddie musste die Skepsis in seiner Stimme gehört haben, denn er wurde rot. »Was sollte ich sonst für einen Grund gehabt haben?«

»Vielleicht hatten Sie Sorge, dass sie ihren Job verlieren würde.« Kincaid stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen, sodass Freddie den Kopf drehen musste, um ihm zu folgen. »Oder dass sie kündigen würde«, fuhr er fort. »Vielleicht fürchteten Sie, dass Ihre Exfrau zu Ihnen kommen und Sie um ein Almosen anbetteln würde, und Sie fanden, dass Sie schon großzügig genug gewesen waren – wenngleich Ihre Frau, wenn man gewissen Gerüchten glauben schenken will, durchaus eine großzügige Abfindung verdient hatte.«

»Was – Wer hat Ihnen das erzählt?«

»Milo Jachym zum Beispiel. Und die Anwältin Ihrer Exfrau. Und auch ihr Versicherungsmakler.« Kincaid wusste, dass er ein wenig übertrieb, aber es ging ihm um die Wirkung.

Die Röte war wieder aus Freddies Wangen verschwunden. »Das ist nicht wahr. Ich meine, ja, sie hatte die Abfindung verdient. Selbstverständlich. Aber ich habe nie etwas davon zurückhaben wollen.«

»Man munkelt auch, dass Sie finanziell arg in der Klemme stecken«, sagte Doug, indem er Kincaids Platz auf dem Esszimmerstuhl einnahm und sich nahe zu Freddie hinüberlehnte. »Es wäre nur zu verständlich, wenn es Ihnen leidtäte, dass Sie Ihrer Exfrau so viel überlassen haben. Auch wenn man die Rezession berücksichtigt, muss das Cottage in Remenham noch eine hübsche Stange Geld wert sein.«

»Aber Ihre Exfrau wusste zu schätzen, was Sie für sie getan hatten, nicht wahr?« Kincaid ging langsam um die Sitzgruppe herum und blieb neben Atterton stehen, sodass sie ihn in die Mitte nahmen. »Das war doch nur fair. Und sie war fair, nicht wahr? Ein bisschen kratzbürstig, ehrgeizig, oftmals ziemlich schwierig. Aber fair.«

»Was? Wovon reden Sie?« Freddie drückte sich an die Sofalehne, als ob er sich am liebsten in die Polster verkrochen hätte.

»Sie hat dafür Sorge getragen, dass es Ihnen an nichts fehlen würde, sollte ihr etwas zustoßen«, sagte Doug. Er warf Kincaid einen fragenden Blick zu, worauf dieser zustimmend nickte.

»Sie hat Sie nicht nur als Alleinerben und Testamentsvollstrecker eingesetzt«, fuhr Doug fort, »sie hat Sie auch zum Begünstigten einer Lebensversicherung in Höhe einer halben Million Pfund gemacht.«

In der folgenden Stille konnte Kincaid das rasselnde Geräusch von Freddies Atem hören, dazwischen undeutliche Gesprächsfetzen, die von der New Street durch das halb offene Fenster drangen. Er beobachtete Attertons Miene – wartete auf jenes nervöse Zucken, mit dem er verraten würde, dass er es bereits gewusst hatte, jenes unwillkürliche Abwenden des Blicks, das oft ein Zeichen für Unaufrichtigkeit war.

Doch Freddie Atterton verzog nur entsetzt das Gesicht und hielt sich die zitternde Hand vor den Mund. »O nein«, flüsterte er. »Nein, bitte sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist.«

»Ich fürchte doch.« Kincaid verspürte einen Anflug von Mitleid.

»Aber ich kann nicht – Ich will –« Freddie schnappte nach Luft wie ein Ertrinkender. »Ich kann ihr ja nicht mehr sagen, sie soll es zurücknehmen.«

Und in diesem Moment glaubte Kincaid ihm. Wenn Rebecca Meredith sich je an ihrem untreuen Exmann hatte rächen wollen, dann war es ihr jetzt gelungen. Sie hatte ihm ein wahrhaft vergiftetes Geschenk hinterlassen.

»Nun, das dürfte auf jeden Fall Ihre finanziellen Schwierigkeiten beheben«, meinte Doug trocken und offenbar ungerührt. »Es sei denn, Sie werden wegen Mordes verurteilt.«

»Nein. Nein. Ich wäre schon klargekommen«, protestierte Freddie. Er drehte den Zipfel seines Hemds in den Händen. »Ich habe da ein Projekt am Laufen, eine Luxuswohnanlage unterhalb von Remenham. Und ich hatte einen neuen Investor an der Hand. Deswegen war ich am Dienstagmorgen im Leander. Ich hatte mich mit ihm zum Frühstück verabredet, aber er ist nicht erschienen. Das ist ein Grund, weshalb ich immer wieder bei Becca anzurufen versucht habe. Ich wollte sie fragen, ob man sich auf ihn verlassen kann.«

»Woher hätte sie das wissen sollen?«, fragte Kincaid. War ihm da etwas entgangen?

»Weil er auch Polizeibeamter ist. Oder genauer gesagt, ein ehemaliger Polizeibeamter. Sein Name ist Angus Craig.«