17

»Ich meine, so ist das beim Rudern. Es gibt extrem verlockende Gründe, während eines Rennens aufzuhören, und ich kann mich erinnern, dass ich bei fast jedem Rennen, an dem ich teilgenommen habe, irgendwann gedacht habe: ›Wenn ich jetzt nur aufhören könnte zu rudern, würde ich mir nie wieder irgendetwas wünschen. Ich würde mich nur noch ausruhen. Es ist mir egal, was es für Folgen hat, wenn ich jetzt aufhöre. Nichts kann so schlimm sein wie das hier.‹« (Jake Cornelius)

Mark de Rond, The Last Amateurs

»Ich will eine Schleife«, sagte Charlotte.

»Und du sollst eine haben, Schätzchen«, erwiderte Gemma. Sie saßen auf dem Boden in Betty Howards bunter, vollgestopfter Wohnung und wühlten in Bettys Sammlung von breiten Ripsbändern.

»Blau.« Charlottes zartes Gesichtchen zeigte einen entschlossenen Ausdruck. Das hier war eine ernsthafte Angelegenheit. Denn Gemma hatte, ohne recht zu wissen, worauf sie sich da einließ, Charlotte für ihren Geburtstag am Samstag eine Alice-im-Wunderland-Mottoparty versprochen.

Glücklicherweise hatte Betty sich erboten, ihr dafür ein Kleid zu schneidern – oder genauer gesagt, ein Kostüm. Charlotte war so hingerissen von den John-Tenniel-Illustrationen in Kits alter Alice-Ausgabe, dass sie sich stundenlang in die Farbdrucke vertieft hatte, auf denen Alice ein gelbes Kleid mit einer blauen Schürze trug und darüber noch ein gestärktes weißes Schürzchen.

Gemma hatte Betty das Buch mit einigem Bangen gezeigt, doch Betty hatte gelacht und gesagt: »Klar kann ich das machen, Gemma. Ist doch ein Kinderspiel für eine alte Häsin wie mich. Als ob ich früher nicht für meine eigenen Mädchen solche Sachen gezaubert hätte.«

Betty hatte schon als junges Mädchen das Schneiderhandwerk gelernt; mit sechzehn hatte sie bei einer Hutmacherin angefangen und nähte seither alles, von Kleidern über Vorhänge und Kissen bis hin zu den Kostümen für den Notting Hill Carnival. Ihre fünf Töchter waren alle schon erwachsen, und nur noch ihr Sohn Wesley, mit dem Gemma gut befreundet war, lebte mit ihr in der Wohnung in der Westbourne Park Road, wo sie eine gut gehende kleine Schneiderwerkstatt betrieb.

An diesem Nachmittag hatte Gemma Charlotte zur letzten Anprobe gebracht. Nur gut, dass es die letzte war, dachte Gemma, denn wenn Charlotte das Kleid nicht mit nach Hause nehmen dürfte, würde es mit Sicherheit Tränen und Geschrei geben, sobald sie es wieder ausziehen musste. Wenn Gemma sich gewünscht hatte, dass Charlotte mehr Interesse an Mädchenthemen zeigte, dann war ihr Wunsch jetzt doppelt und dreifach in Erfüllung gegangen.

»Wie wär’s mit dem hier?«, fragte Gemma. Sie hatte ein Stück Ripsband in Kornblumenblau entdeckt, das genau zu der blauen Schürze passte. »Können wir das nehmen, Betty?«

Betty blickte von der Nähmaschine auf und schätzte die Länge des Bands ab. »Müsste lang genug sein. Hast du einen Clip besorgt?«

Gemma griff nach ihrer Handtasche und nahm den Haarclip heraus, den sie in einem Kosmetikgeschäft gekauft hatte.

Betty nahm den Clip und das Band und sagte zu Charlotte: »Warte nur, gleich hast du deine Alice-Schleife, kleines Fräulein.«

Charlotte hatte inzwischen nach dem Buch gegriffen und war wieder in die Illustrationen versunken. Jetzt blickte sie zu Gemma auf. »Ich will gelbe Haare.«

»Also, Schätzchen, das ist eine Sache, die du nicht haben kannst. Und schau mal.« Gemma nahm das Buch und schlug eine andere Tenniel-Illustration auf. »Auf dem hier hat Alice rote Haare, genau wie ich. Alice kann also jede Haarfarbe haben, die sie will.«

Charlotte nickte zögerlich, doch ihre Stirn war in Falten gezogen. »Keine Locken.«

»Warum keine Locken?« Gemma wickelte sich eine Strähne von Charlottes üppigem Lockenschopf um den Finger. »Ich wette, Alice hätte gerne Haare wie deine gehabt.«

»Wirklich?«

»Ganz bestimmt.«

Betty blickte grinsend von der Nähmaschine auf. »Meinst du nicht, dass Alice gerne meine Haare gehabt hätte?« Ihr krauses Haar wurde langsam grau, und an den meisten Tagen band sie es mit einem bunten Kopftuch hoch. Heute trug sie ein Tuch im gleichen Gelb wie Charlottes Kleid.

Charlotte kicherte. »Das ist Quatsch.«

»Finde ich gar nicht«, entgegnete Betty lächelnd. Doch als sich ihre Blicke trafen, wusste Gemma, dass sie beide an den Tag dachten, an dem Charlotte sich vielleicht wünschen würde, sie hätte dieselbe Hautfarbe wie Alice.

Charlotte griff nach Gemmas Tasche und begann darin zu wühlen. »Ich will einen Clip«, sagte sie.

Sanft zog Gemma die Tasche weg, denn irgendwo da drin verbarg sich eine Überraschung, und sie würde besser darauf achten müssen, sie von neugierigen kleinen Händen und Augen fernzuhalten.

Vor ein paar Wochen hatte sie an einem Stand auf dem Portobello-Markt ein antikes Apothekerfläschchen aus braunem Glas gefunden. Dazu hatte sie ein hübsches Etikett gekauft, auf das sie von Hand die Worte Trink mich geschrieben hatte. Es sollte die Krönung der Torte werden, die Wes für die Party buk.

»Da sind sonst keine«, sagte sie. »Du wirst schon auf deine Schleife warten müssen. Und die darfst du ja erst am Samstag tragen. Vergiss das nicht. Willst du nicht Betty ein bisschen helfen?«, fügte sie hinzu, um die Kleine abzulenken.

Gemma sah Charlotte nach, als sie aufsprang und auf Söckchen zur Nähmaschine tappte. Der Gedanke, in wenigen Tagen von dem Kind getrennt zu werden, verschlug ihr schier den Atem. Wie sollte sie das nur aushalten?

Und doch – als sie heute Morgen auf dem Revier gewesen war, war es ihr vorgekommen, als käme sie nach Hause. Ihr war klar geworden, wie sehr ihr die Gesellschaft von Kolleginnen und Kollegen gefehlt hatte, die Routine und vor allem die intellektuelle Herausforderung. Würde es je einen goldenen Mittelweg geben?, fragte sie sich.

Nun, sie würde es bald genug herausfinden – wenn sie denn tatsächlich am Montag anfangen könnte. Sie hatte Alia gefragt, ob sie sich bereithalten könne, um vorübergehend als Tagesmutter einzuspringen – ein Plan B für den Fall, dass die Ermittlungen Duncan noch länger in Anspruch nehmen würden.

Und es sah zunehmend danach aus.

Besonders seit dem gestrigen Abend. Seine Reaktion, als sie ihm von ihrer Begegnung mit Angus Craig erzählt hatte, bereitete ihr Sorgen. Ihr Mann – sie hatte sich immer noch nicht ganz daran gewöhnt, ihn so zu nennen – ihr Mann war im Grunde ruhig und besonnen; jemand, der erst einmal gründlich nachdachte, ehe er handelte. Aber gerade weil es so lange dauerte, bis er wirklich wütend wurde, war seine Reaktion dann umso heftiger, und was sie gestern Abend in seinem Gesicht gesehen hatte, war kalter Zorn.

Sie konnte ihr Erlebnis mit Craig nicht herunterspielen – sie war sich so sicher wie nur selten in ihrem Leben, dass sie an jenem Abend in Leyton in echter Gefahr geschwebt hatte. Und sie hätte es Kincaid auch nicht verschweigen können. Aber nun hatte sie große Angst, dass er etwas Unüberlegtes tun würde.

Und sie fühlte sich hilflos und frustriert, weil sie von den Ermittlungen ausgeschlossen war und keinerlei Einfluss auf den Lauf der Dinge hatte.

Ihre Hoffnung, dass sie zusammen mit Melody etwas Brauchbares zutage fördern könnte, hatte sich bislang zerschlagen, wenngleich Melody versprochen hatte, weiter in den Akten zu suchen.

Gemma glaubte nicht, dass sie sich geirrt hatte, was Craigs Verhaltensmuster betraf. Aber vielleicht war sie zu optimistisch gewesen, als sie angenommen hatte, dass andere Polizeibeamtinnen, die zu Craigs Opfern zählten, die Vergewaltigung angezeigt hätten, ohne den Täter namentlich zu nennen.

»Bitte sehr, kleines Fräulein«, sagte Betty. Während Gemma ihren Gedanken nachgehangen hatte, hatte Betty das Band gerafft und auf der Maschine zu einer Schleife genäht, um diese dann mit ein paar raschen Stichen an dem Clip zu fixieren. Nun befestigte sie das Ganze in Charlottes lockigem Haarschopf.

Übers ganze Gesicht strahlend, betastete Charlotte behutsam die Schleife und lief dann zu Gemma. »Will sehen!«

»Oh, wow!«, rief Gemma und drehte Charlotte im Kreis, um den Effekt besser bewundern zu können. »Ich weiß gar nicht, ob du mehr wie Alice oder wie eine Prinzessin aussiehst. Komm, wir schauen uns das mal an, ja?« Sie kramte in ihrer Handtasche nach ihrem Taschenspiegel, als sie die Anzeige an ihrem Handy blinken sah. Wie hatte ihr der Anruf entgehen können?

Ihr Herz machte einen kleinen Satz, wie immer, wenn sie von den Kindern oder von Duncan getrennt war. Doch als sie in den entgangenen Nachrichten nachsah, stellte sie fest, dass es Melody war, die angerufen und dann eine SMS hinterhergeschickt hatte.

Der Text lautete: »Müssen reden, Chefin. Dringend!«

Gemma blickte auf. »Betty, hättest du etwas dagegen, wenn Charlotte noch ein bisschen hierbleibt? Mir ist etwas dazwischengekommen.«

Kincaid lenkte den Wagen aus Craigs gekiester Zufahrt auf die Straße, die nach Hambleden zurückführte. Die Dämmerung hatte sich auf die Dächer gesenkt und tauchte den Weiler in zarte Rosa- und Goldtöne. In den Häusern gingen die Lichter an und verwandelten die Fenster in leuchtende Inseln, und aus den Schornsteinen kringelten sich Rauchwölkchen gen Himmel.

Es war das reinste Klischee, dachte Kincaid, während er das Dorf betrachtete und versuchte, sich von der Wut, von der ihm immer noch die Hände zitterten, nicht überwältigen zu lassen. Eine perfekte Idylle, in deren Mitte ein Ungeheuer hauste.

Das Schöne und das Böse, untrennbar miteinander verwoben.

Ahnten die Menschen hier nichts von diesem Bösen? Oder wussten sie sehr wohl davon, waren aber machtlos?

Als vor ihm das Stag and Huntsman auftauchte, hielt er spontan an. Er würde sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, es herauszufinden. Und wenn er Craigs Alibi nicht jetzt gleich überprüfte, ehe sein Chef von seinem Besuch bei Craig erfuhr, würde er vielleicht keine zweite Chance mehr bekommen.

Er fand eine Lücke für den Astra, stieg aus und schloss den Wagen ab. Nach kurzem Überlegen schaltete er sein Handy aus, ehe er das Lokal betrat. Es konnte nicht schaden, wenn er sich ein bisschen Zeit verschaffte.

Das Stag and Huntsman war, wie er auf den ersten Blick sah, ein sehr einladendes Lokal, altmodisch im positiven Sinn und nicht künstlich auf urig getrimmt. Eine Kneipe, in der man gerne vor dem Abendessen auf ein Bierchen vorbeischaute.

Es war noch nicht viel los; die wenigen Gäste waren offenbar Einheimische, und dem Anschein nach fühlten sie sich hier wie zu Hause. Kincaid hoffte nur, dass Angus Craig heute ausnahmsweise auf seinen gewohnten Vorabenddrink verzichten würde.

Kincaid ging gleich in den kleinen Nebenraum, setzte sich auf einen Barhocker und bestellte ein Pint Loddon Hoppit. Der Schiefertafel hinter dem Tresen entnahm er, dass es ein regionales Bier war, und er fand den Namen einfach unwiderstehlich.

Die Flüssigkeit in dem Glas, das der Barkeeper ihm hinstellte, schimmerte rötlich bis bernsteinfarben, und Kincaid konnte den Hopfen schon riechen, ehe er den ersten Schluck kostete.

»Das ist ein gutes Ale«, sagte er zu dem Barmann, während er sich den Schaum von der Oberlippe wischte.

»Wird in der Nähe von Reading gebraut«, erklärte der Barkeeper, ein hagerer Mann, der nicht so aussah, als würde er von dem, was er hier servierte, selbst übermäßig in Versuchung geführt. »Sie sind nicht aus der Gegend, nehme ich an?«, fragte er, obwohl Kincaid sich sicher war, dass er die Antwort bereits kannte.

Nun ja, als Gesprächseröffnung taugte es immerhin, und außer ihnen beiden war niemand in dem kleinen Raum, was ein zusätzlicher Vorteil war. Kincaid beschloss, so nahe wie möglich an der Wahrheit zu bleiben.

»Nein, aus London.« Er trank noch einen Schluck von dem Loddon, wobei er sich ermahnte, dass er noch nach Henley zurückfahren musste und das Bier schließlich nur Mittel zum Zweck war. »Von Scotland Yard, genauer gesagt«, fügte er in vertraulichem Ton hinzu. »Ich bin hier wegen der Ruderin, die kürzlich ertrunken ist.«

Er hatte fast ein schlechtes Gewissen, weil er so unpersönlich von Rebecca Meredith redete. Inzwischen hatte er tatsächlich das Gefühl, sie gekannt zu haben, und es kam ihm fast so vor, als hätte er eine gute Freundin verloren.

»Schreckliche Geschichte.« Der Barkeeper klang ehrlich betroffen. »Die Frau von meinem Kumpel ist im Such- und Rettungsteam. So was nimmt sie immer enorm mit. Kann ich den Leuten auch nicht verdenken.«

»Nein, ich auch nicht.« Kincaid dachte an Kieran und Tavie; er fragte sich, wie es Kieran wohl inzwischen ging.

»Na, für Sie ist es ja sicher auch nicht einfach, bei Ihrem Job. Sie waren bestimmt drüben bei der Mühle, wo sie sie gefunden haben?« So, wie er den Satz betonte, war es eindeutig eine Frage. Der Mann war also durchaus an Klatsch interessiert – nach Kincaids Erfahrung eine Eigenschaft, die für einen erfolgreichen Kneipenwirt unabdingbar war. »Sonst verirrt man sich ja wohl kaum nach Hambleden.«

»Ich komme gerade von Deputy Assistant Commissioner Craig, wenn Sie es genau wissen wollen«, sagte Kincaid. »Ein reiner Höflichkeitsbesuch. Wir arbeiten ja praktisch vor seiner Haustür.«

»Ah. Na, da hat er sich bestimmt gefreut.«

Es war eine freundliche, unverbindliche Antwort. Aber Kincaid hatte die verräterische Veränderung in der Mimik des Mannes registriert, hatte gesehen, wie er unwillkürlich den Blick abgewandt hatte. Dieser Mann wusste genau, was für ein Mensch Angus Craig war.

»Er hat Sie mir übrigens empfohlen«, fuhr Kincaid fort. »Hier gäbe es das beste Bier, meinte er, und es sei sein Stammlokal.« Er nahm noch einen Schluck von seinem Ale. »Wirklich zu beneiden, der Mann. Er kommt wohl regelmäßig her, oder?«

Der Barmann wischte ein bereits sauberes Glas aus. »Fast jeden Abend.« Er sah zu der Uhr über der Tür. »Gewöhnlich um diese Zeit.«

Kincaid hielt es für das Beste, sich nicht allzu lange aufzuhalten. Er überlegte gerade, wie er unauffällig Craigs Alibi überprüfen könnte, als der Barmann hinzufügte: »Gestern Abend haben wir ihn allerdings vermisst. Da war er wohl nicht zu Hause.«

»Ich glaube, er sagte etwas von einer Sitzung in London … Nein, warten Sie« – Kincaid setzte eine verwirrte Miene auf – »er sagte, er sei am Montag weg gewesen. So war es.«

»Nein, da war er hier. Allerdings ist er ein bisschen später gekommen. Ich weiß es noch, weil wir am nächsten Tag alle darüber geredet haben – die Vorstellung, dass wir hier alle gemütlich im Pub gesessen haben, während diese arme Frau in der Themse trieb.« Der Barkeeper schüttelte den Kopf.

»Vielleicht ist er angeln gegangen«, mutmaßte Kincaid. »War ja ein guter Tag dafür.«

Der Barmann sah ihn fragend an. »Angeln? Wie kommen Sie denn darauf? Mr. Craig angelt nicht. Sein Hobby ist die Jagd.«

»Ah ja«, sagte Kincaid. Er hatte sich so weit aus dem Fenster gelehnt, wie es nur ging, ohne hinauszufallen. »Dann ist dieses Pub ja genau das Richtige für ihn, meinen Sie nicht auch?«

Der Barmann reagierte mit dem oberflächlichen Lächeln, das Kincaids lahmes Witzchen verdiente, und nickte. »Das hat er selbst auch schon oft gesagt.«

Kincaid hatte sich inzwischen damit abgefunden, dass der Mann ihn für einen Kriecher halten musste, der sich bei Craig einschleimen wollte und der zudem ein wenig unterbelichtet war. »Das Haus ist ja ein Traum«, wechselte er das Thema. »Ich habe gehört, es sei schon sehr lange im Besitz von Mrs. Craigs Familie. Schade, dass ich die Dame des Hauses nicht angetroffen habe.«

Die Züge des Barmanns wurden milder. »Nette Dame, Mrs. Craig. Ihre Familie lebt schon seit Generationen in Hambleden, und es gibt kaum jemanden, der so viel für die Leute hier tut wie Edie.« Er deutete mit dem Kopf in Richtung des Dorfplatzes. »Übrigens ist sie wahrscheinlich gerade in der Kirche; sie hilft da bei den Vorbereitungen für eine Hochzeit am Samstag.«

»Ach ja? Vielleicht schau ich mal rein und sage ihr guten Tag.« Kincaid sah übertrieben demonstrativ auf seine Uhr. »Verdammt. Hab gar nicht gemerkt, dass es schon so spät ist.« Er trank noch etwas von seinem Bier und stellte das immer noch halb volle Glas auf dem Tresen ab.

Während seines kurzen Besuchs im Stag and Huntsman hatte er sich nicht nur als Idiot und als Stalker präsentiert, sondern nun auch noch als Weichei, das noch nicht einmal ein Bier vertrug.

»Muss mich sputen«, murmelte er noch, ehe er einen alles andere als würdevollen Abgang machte.

Er ließ seinen Wagen auf dem Parkplatz des Pubs stehen und ging zu Fuß durch das Dorfzentrum. Ein kühler Wind wirbelte braune Blätter über den Asphalt. Kincaid schlug den Kragen seines Jacketts hoch und wünschte, er hätte den Mantel nicht im Kofferraum des Astra liegen lassen. Der schöne Tag war vorbei.

Er erinnerte sich, einen Wegweiser zur Kirche gesehen zu haben, als er durch das Dorf gefahren war. Wie die Kirche von Henley hieß auch diese St. Mary the Virgin, doch als er dort ankam, stellte er fest, dass sie längst nicht so prächtig war. Der langgezogene, niedrige Bau schien eher zum Wohl der Menschen als zum Lobpreis Gottes errichtet.

Als er an dem überdachten Friedhofstor anlangte, trat eben eine Frau aus dem Kirchenportal und drehte sich noch einmal um, um die Tür hinter sich abzuschließen. Für einen kurzen Moment konnte er sie im Schein der Portalbeleuchtung deutlich sehen, und er hielt überrascht inne.

Er fragte sich, was er erwartet hatte. Jedenfalls nicht diese groß gewachsene, schlanke Frau, deren ergrauendes Haar als kurzer, modischer Bob geschnitten war. Sie trug einen schwingenden Wollrock, dessen Saum die Schäfte ihrer kniehohen Lederstiefel berührte, dazu einen Anorak und um den Hals einen langen grünen Schal, der bis zum Rocksaum reichte. Die lebhafte Farbe des Stoffs ließ ihn an junges Laub und frische Äpfel denken.

Als sie sich mit dem Schlüssel in der Hand wieder umdrehte, erblickte sie ihn und hielt inne. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.

In ihrer Stimme lag keine Furcht, nur freundliche Teilnahme.

»Mrs. Craig?«

»Ja. Tut mir leid – sollte ich Sie kennen?«

Er trat aus dem Dunkel heraus. »Nein. Mein Name ist Duncan Kincaid. Detective Superintendent, Scotland Yard.«

Sie ging auf ihn zu, bis sie unter dem Torbogen vor ihm stand. »Wenn Sie zu meinem Mann wollen – der müsste eigentlich zu Hause sein.« Ihr Gesichtsausdruck war immer noch freundlich und offen, vielleicht auch ein wenig neugierig.

»Nein, eigentlich wollte ich Sie sprechen«, erwiderte er mit unwillkürlichem Zögern. »Können wir uns irgendwo unterhalten?«

Er sah, wie ein Schleier des Argwohns, vielleicht sogar der Verzweiflung sich über ihre Züge legte; dann drehte sie den Kopf so, dass der Schatten des Friedhofstors auf ihr Gesicht fiel. »Ich denke, das können wir hier genauso gut erledigen, Superintendent.«

»Mrs. Craig –« Kincaid war plötzlich verunsichert. Bei dieser Frau konnte man offenbar mit Vorwänden und Tricks nichts erreichen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Fragen zu stellen, die gestellt werden mussten. »Wissen Sie, wo Ihr Mann am Montagnachmittag etwa von vier Uhr an war?«

Eine Sekunde verstrich, dann noch eine. Er hörte den Wind in den Bäumen rauschen, sah, wie das Licht vom Kirchenportal auf ihren grünen Schal fiel, als sie die Hand hob, um ihn sich um den Hals zu schlingen. »Er war zu Hause«, sagte sie, »zusammen mit mir. Später ist er wie gewöhnlich ins Pub gegangen.«

War sie wirklich erleichtert über seine Frage, oder hatte er sich das nur eingebildet? Vielleicht lag es nur daran, dass Angus Craigs Pubbesuch für sie die beste Zeit des Tages war.

»Mrs. Craig, Sie haben bestimmt von der Polizeibeamtin gehört, die ertrunken ist – Rebecca Meredith.«

»Ja. Die Ruderin. Das ganze Dorf hat über nichts anderes geredet.«

»Hat Ihr Mann erwähnt, dass er sie kannte? Hat er Ihnen gesagt –«

»Superintendent.« Ihre Stimme schien ihm Einhalt gebieten zu wollen – die einzige Form des Einspruchs, die sie sich gestattete. »Was immer es ist, das Sie glauben fragen zu müssen, Sie dürfen nicht vergessen, dass er mein Mann ist.« Ihre Worte hatten trotz ihrer Verzweiflung etwas Endgültiges.

Sie drehte sich ein wenig, und als das Licht ihr Gesicht erfasste, glaubte er in ihren Zügen einen abgrundtiefen Schmerz zu erkennen. Dann ging sie an ihm vorbei. »Ich muss nach Hause. Ich hab Barney schon zu lange allein gelassen.«

»Barney?«, wiederholte er verwirrt. Es waren doch sicherlich keine kleinen Kinder mehr im Haus.

»Mein Hund. Angus kümmert sich nicht um ihn, wenn er allein zu Hause ist. Gute Nacht, Superintendent.«

»Gute Nacht, Mrs. Craig«, sagte er. Und obwohl sie denselben Weg hatten, erwies er ihr die Höflichkeit, sie allein gehen zu lassen, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden war.

Gemma hatte Melody sofort angerufen, nachdem sie Bettys Wohnung verlassen hatte. Sie wollte gleich aufs Revier kommen, doch Melody zögerte einen Moment und sagte dann: »Hm, ich glaube, das ist keine so gute Idee, Chefin. Wie wär’s, wenn wir irgendwo zusammen was trinken? Ich schlage vor, im Duke of Wellington. Ich bin bestimmt vor dir dort.«

Gemma kannte das Pub an der Ecke Portobello Road und Elgin Crescent recht gut, zumindest von außen. Bei schönem Wetter spielte dort am Samstagnachmittag ein Jazzgitarristen-Duo vor dem Lokal, und Gemma war schon oft stehengeblieben, um den beiden mit einem Lächeln auf den Lippen zu lauschen und ihnen ein oder zwei Pfund in den offenen Gitarrenkasten zu werfen.

Doch jetzt wurde ihr bewusst, dass sie das Pub noch nie betreten hatte. Und wenn Melody vor ihr da sein wollte, dann musste sie bei ihrem Anruf schon ganz in der Nähe gewesen sein.

Es war ein viktorianisches Haus mit blassrosa verputzter Fassade, das auf den ersten Blick nicht besonders einnehmend wirkte. Doch als Gemma von der Portobello Road kommend eintrat, fand sie eine angenehm lebhafte Atmosphäre vor. Sie entdeckte Melody sofort – sie saß an einem kleinen, hohen Tisch im hinteren Teil des Lokals. Gemma ging um die Theke herum auf sie zu und setzte sich auf den freien Barhocker.

Melody drückte ihr ein Glas in die Hand. »Ich habe dir einen Gin Tonic bestellt. Den wirst du brauchen.«

»Was ist passiert?«, fragte Gemma. »Und was tust du hier in der Gegend?«

»Als du nicht ans Telefon gegangen bist, habe ich bei euch zu Hause angerufen und mit Kit geredet. Er sagte, du seiest bei Betty. Da wollte ich dich abholen.«

Melody sah angespannt aus, und ihre dunklen Haare waren von dem kühlen Wind, der mit Einbruch der Dämmerung aufgekommen war, zerzaust. Es sah ihr gar nicht ähnlich, dass sie sich nicht die Zeit genommen hatte, ihre Frisur in Ordnung zu bringen. Sie trank einen Schluck aus ihrem Glas, das, wie Gemma sah, bereits halb leer war.

»Chefin, ich habe etwas gefunden. Ich bin, nachdem du heute Morgen gegangen bist, die Akten gleich noch einmal von hinten nach vorne durchgegangen. Nimm erst einmal das hier.« Melody griff in ihre Tasche und reichte Gemma ein Blatt Papier.

Gemma überflog die Namensliste.

»Sechs weibliche Polizeibeamte in den vergangenen zehn Jahren«, erklärte Melody. »Ihre Berichte weichen in Einzelheiten voneinander ab, aber sie folgen alle einem Grundmuster. Die Frauen waren alle entweder Singles, oder ihre Ehemänner beziehungsweise Partner – in einem Fall die Partnerin – waren gerade nicht zu Hause. Die Frauen kamen alle aus dem Pub oder von einer Feier zurück, und jedes Mal hatte der Anlass etwas mit ihrer Arbeit zu tun. Alle gaben an, sie seien von einem Mann überfallen worden, der in ihrem Haus oder Garten oder auf der Straße auf sie gewartet habe. Keine berichtete von offensichtlichen Anzeichen für einen Einbruch in ihrer Wohnung. Und keine konnte ihren Vergewaltiger identifizieren.«

Gemma starrte sie an. Hastig nahm sie einen Schluck von ihrem Drink, ehe sie sich die Liste noch einmal vornahm. Der Gin brannte ihr in der Kehle, und sie musste husten. »Unterschiedliche Bezirke?«, fragte sie, sobald sie wieder sprechen konnte.

»Ja. Und die meisten scheinen sich mit der jeweiligen Dienststelle zu decken, der Angus Craig zu der Zeit zugewiesen war. Die anderen Frauen hatten Veranstaltungen besucht, an denen jeder Beamte des höheren Dienstes hätte teilnehmen können.«

»Verdammt«, murmelte Gemma. »Ich hatte recht.«

»Oh, es kommt noch besser.« Melody zuckte mit den Achseln. »Oder schlimmer, je nach Standpunkt. Ich war gerade mitten im Recherchieren, als ich auf das hier gestoßen bin.« Diesmal drückte sie Gemma einen ganzen Stapel Papiere in die Hand. »Das ist sechs Monate her. Weil das Opfer vergewaltigt wurde, ist der Fall in unseren Akten gelandet.« Sie blickte sich um, doch an den anderen Tischen saßen nur Feierabendtrinker, die in ihre eigenen Gespräche vertieft waren, und der Geräuschpegel im Pub stieg immer weiter an.

»Ihr Name war Jenny Hart«, sagte Melody. »Sie war DCI in Tower Hamlets. Aber gewohnt hat sie in der Campden Street, genau auf der Grenze zwischen Holland Park und Kensington. Übrigens gar nicht so weit von mir.«

»Du sagst ›war‹. Und ›hat gewohnt‹. Vergangenheit.« Das Glas in Gemmas Hand fühlte sich kalt und feucht an.

Melody trank von ihrem Gin Tonic, bis nur noch die Eiswürfel übrig waren. »Jenny Hart war geschieden, vierzig Jahre alt und nach den Fotos in ihrer Akte zu urteilen eine attraktive Blondine. Sie stand auch in dem Ruf, gerne mal ein Gläschen zu trinken, mit Vorliebe im Churchill Arms, nur ein paar Schritte von ihrer Wohnung entfernt. Warst du mal dort?«

Gemma schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich bin schon mal vorbeigefahren. Das ist das mit den vielen Blumen.« Das Churchill Arms war ein wahres Bilderbuchpub, mit seiner dunklen Holzfassade, den Sprossenfenstern und der Fülle von Blumenampeln und -kästen, die fast die ganze Vorderfront bedeckten.

»Erdrückend gemütlich. Jeder Quadratzentimeter von dem Laden ist mit kitschigen Churchill-Souvenirs vollgehängt. Aber es ist größer, als man von außen meint – ein Labyrinth von kleinen Zimmern, das sich ewig hinzieht.«

»Wie deine Schilderung«, bemerkte Gemma spitz. Ihr Mund fühlte sich trocken an. »Melody, was ist mit Jenny Hart passiert?«

Melody klimperte mit den zwei verbliebenen Eiswürfeln in ihrem Glas, dann sah sie Gemma in die Augen. »Am ersten Mai erzählte Jenny Hart ein paar Kollegen, dass sie noch auf einen Drink im Churchill vorbeischauen und dann früh zu Bett gehen wolle. Sie hatte eine stressige Woche hinter sich. In ihrem Zuständigkeitsbereich war gerade ein Kind ermordet worden.

Als sie am Montagmorgen nicht zum Dienst erschien, machten ihre Kollegen sich Sorgen. Sie riefen bei ihr an, doch es meldete sich niemand. Am Dienstag beschwerten sich die Nachbarn schon über den Geruch.«

Gemma stiegen die Bratendüfte in die Nase, die sich von der Küche im ganzen Pub ausbreiteten. Sie schluckte, um gegen das plötzliche flaue Gefühl in ihrem Magen anzukämpfen – und sich gegen das zu wappnen, was nun folgte. »Wie?«, fragte sie nur.

»Sie wurde vergewaltigt. Und anschließend erdrosselt. Laut Obduktionsbericht waren die Blutergüsse an ihrem Hals mit Daumen- und Fingerabdrücken in Einklang zu bringen. Die Wohnungseinrichtung war erheblich beschädigt. Sie muss sich heftig gewehrt haben. Aber es gab keine Anzeichen für einen Einbruch.«

Gemma holte tief Luft. »Und?«

»Unsere alte Bekannte Kate Ling hat übrigens die Obduktion durchgeführt. Sie war natürlich sehr gründlich. Unter Jennys Fingernägeln waren Gewebespuren. Und in ihrer Vagina fand sich Sperma, ebenso wie auf ihren zerrissenen Kleidern. Der Täter hatte sich die Mühe gespart, ein Kondom zu benutzen.

Ich habe die Profile verglichen. Die DNS, die an Jenny Harts Leiche gefunden wurde, stimmt mit den Proben von den anderen Polizistinnen überein, die eine Vergewaltigung angezeigt hatten. Das Sapphire-Projekt hatte die Übereinstimmungen vermerkt, aber es hatte nie einen Verdächtigen gegeben, mit dem man sie hätte abgleichen können.«

Gemma tat es Melody gleich und trank ihren Gin Tonic in einem einzigen langen Zug aus. »Und den gibt es jetzt auch nicht. Nicht ohne unterstützendes Beweismaterial.«

Melody deutete mit dem Kopf auf die Papiere in Gemmas Hand und sagte: »Schau mal da rein.«

Gemma blätterte die Kopien von Jenny Harts Obduktionsbericht durch, die Labordaten, die Aussagen ihrer Kollegen und Nachbarn. Ganz hinten stieß sie auf etwas, das mit Sicherheit nicht in der Originalakte enthalten gewesen war – ein Foto von Angus Craig. Er trug einen Abendanzug und stand in einer Gruppe ähnlich gekleideter Männer, in denen Gemma zum Teil andere Polizeibeamte des höheren Dienstes erkannte.

»Der Commissioner’s Ball«, erklärte Melody, ehe Gemma nachfragen konnte. »Letztes Jahr. Aus den immer wieder nützlichen Archiven der Chronicle. Und jetzt kommt’s: Eine Angestellte des Churchill hat damals zu Protokoll gegeben, sie habe Jenny an dem bewussten Abend im Gespräch mit einem Mann beobachtet. Aber das Lokal war sehr voll, und sie konnte sich nur undeutlich erinnern. Die einzige Beschreibung, die sie liefern konnte, war, dass er ›mittleren Alters‹ gewesen sei. Nicht sehr hilfreich, wenn man keinen Vergleich hat.«

Gemma richtete sich so abrupt auf, dass sie mit dem Knie gegen den kleinen Tisch stieß, der darauf bedenklich ins Wanken geriet. Sie hielt ihr Glas fest. »Hast du mit der Frau gesprochen?«

»Ich bin gleich ins Churchill gegangen. Die Inhaberin sagte mir, der Name der Kellnerin sei Rosamond Koestler. Sie war die letzten paar Tage im Urlaub in Frankreich, aber morgen arbeitet sie wieder. Ihre Schicht beginnt um zwölf.«

Gemma schwirrte der Kopf. Konnte es wirklich so einfach sein, wenn Angus Craig sich schon seit so vielen Jahren an Frauen verging? Aber manchmal, wenn man sehr, sehr viel Glück hatte – manchmal war es so einfach. Alles, was sie brauchten, war eine solide Zeugenaussage, die ausreichte, um eine DNS-Probe zu beantragen.

Dann würde es keine Rolle spielen, ob die anderen Polizistinnen sich immer noch weigerten, gegen ihn auszusagen. Jenny Hart war alles, was sie brauchten. Und wenn die Proben übereinstimmten, dann würde Angus Craig sein ganzer Einfluss nichts mehr nützen – der Anklage wegen Mordes würde er nicht entgehen.