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Ganz im Norden, am Ufer des Mittelmeers, reihten sich die Chalets wie Zuckerwürfel auf dem weichen Sand. Das regelmässige Rauschen der Wellen bestimmte den Rhythmus, und eine frische, salzige Brise trug den Duft des Meeres heran und besänftigte die Nerven. Um diese Jahreszeit gab es hier keine Besucher. Ausser in dieser Nacht.
In dieser Nacht zeichnete sich die Silhouette eines Mannes vor dem Meer ab. Die Füsse im Sand versunken, die Hände in den Taschen vergraben, blickte er geistesabwesend auf die mondbeschienenen Wogen. Es war niemand anderes als Târik, Târik Hassan Abdallah, der Mann, der die Operation in der Bar Vertigo durchgeführt hatte.
Im Chalet sass seine Frau Sumajja auf einem Bambussofa. Sie war nicht mehr schwanger, Gott hatte ihr Habîba geschenkt, die zarte, neun Monate alte Kleine, über die sie, wenn sie lächelte, die Welt vergass. Den winzigen Daumen im Mund, schlief sie friedlich auf dem Schoss ihrer Mutter, deren Gesicht vom ständigen Weinen ganz vergrämt war.
Auf einem kleinen Tisch vor ihr lagen etliche Zeitungen. Dort prangte ein Foto ihres Mannes – das Foto aus der Bar Vertigo. Ihre Augen wehrten sich, es anzusehen.
Schliesslich stand sie auf, legte Habîba sanft in ihr Bettchen, öffnete die Tür des Chalets und ging hinaus. Sie lief auf die Silhouette zu, die dastand wie ein unbeweglicher und unerschütterlicher Fels, als sei sie von jeher ein fester Bestandteil der Landschaft.
Sumajjas weiche Füsse versanken im Sand, während sie weiterstapfte, bis sie hinter ihm stand. Sanft legte sie ihm die Hand auf die Schulter. Ohne sie anzusehen, streckte er die Arme nach hinten und umschlang sie.
Da konnte sie sich nicht länger beherrschen und brach in Tränen aus, wie sie es nie zuvor getan hatte.
»Beruhige dich, Sumajja!«, sagte Târik.
»Wie soll ich mich denn beruhigen?«, schluchzte sie.
»Wir gehen weg, an einen Ort, wo uns niemand kennt.«
»Du sagst das, als wäre es so leicht.«
»Es bleibt uns nichts anderes übrig.«
»Siehst du, wohin das alles geführt hat?«
Er gab keine Antwort, ihm fiel keine ein. In den zwei Tagen, seit sein Bild auf den Titelseiten der Zeitungen erschienen war, war sein Leben auf den Kopf gestellt worden.
Das Foto von ihm in der Bar. Es war nicht richtig scharf, aber es hatte gereicht, damit seine Bekannten nachfragten. Auf der Arbeit hatte man ihn einbestellt, und daraufhin hatte er sich zwei Tage freigenommen, um seine Angelegenheiten zu regeln, bis man einen Ausweg gefunden hätte. Das ganze Büro war inzwischen zusammengebrochen, und alle hatten »den Pyjama anziehen müssen«. So hiess es bei ihnen, wenn man von einem Tag auf den anderen entlassen wurde. Safwân al-Buhairi, Mustafa Ârif und ihre Untergebenen: Die ganze Belegschaft wurde beseitigt, als hätte es sie nie gegeben.
Die Lösung, die auf der Hand lag, war, Târik für zwei Tage zu verstecken, bis man ein Gastland gefunden hätte, das bereit war, ihn, seine Frau und seine Tochter aufzunehmen. Zwei Tage, die sie fern aller Blicke an der Nordküste verbringen sollten.
»Mein Handy ist seit zwei Tagen abgeschaltet«, klagte Sumajja weiter. »Nicht mal meine Mutter weiss, wo ich bin. Das ist nicht das Leben, wie ich es mir mit dir vorgestellt habe. Ich wusste doch nicht … Und Habîba? Habîba, Târik, was machen wir mit ihr?«
»Beruhige dich, Sumajja! Weinen bringt uns auch nicht weiter.«
»Was soll ich meinen Eltern sagen?«
»Wenn wir abgereist sind, rufen wir sie jeden Tag an, sei unbesorgt!«
»Nie im Leben hätte ich mir vorgestellt, dass so was passieren würde. Nie im Leben hätte ich gedacht, du könntest so was Scheussliches tun.«
»Sumajja, es war ein Fehler. Ich arbeite schon länger in dem Büro, reine Verwaltungsarbeit. Was hätte ich denn sonst tun sollen? Das waren Befehle, daran hab ich doch keine Schuld.«
»Alles hat seinen Preis. Und bezahlen werden wir den jetzt gemeinsam. Selbst Habîba.«
Durch das Wellenrauschen hindurch hörte man Habîba schreien.
»Geh und schau nach ihr!«, sagte Târik. »Sie hat sicher Angst.«
Bevor Sumajja ging, nahm er sie bei der Hand und zog sie in eine Umarmung, die er selbst nötiger hatte als sie.
»Komm mit!«, sagte sie.
»Nur noch ein Weilchen. Gleich komme ich nach.«
Sie verschwand im Chalet, während eine Flut von Gedanken über ihm hereinbrach und gegen ihn anbrandete wie Wellen gegen einen Felsen. In dem Versuch, seine neue Situation zu regeln, arbeitete sein Verstand auf Hochtouren.
Plötzlich erschien am Horizont ein glühend rotes Pünktchen, das sich auf ihn zubewegte. Es war eine Zigarette in der Hand eines Mannes in den Dreissigern, dessen Züge im Näherkommen erkennbar wurden. Er war relativ gutaussehend, schlank und trug ein dunkelblaues T-Shirt mit der Abbildung einer Jacht und ein paar englischen Wörtern darauf, dazu khakifarbene Shorts und Turnschuhe. Offenbar einer der Chaletbesitzer.
Als er bis auf ein paar Schritte an Târik herangekommen war, sagte er: »Seltsam, um diese Zeit jemanden hier anzutreffen.«
Târik drehte sich zu ihm um, wandte dann jedoch, nachdem er tief eingeatmet hatte, den Blick gleichgültig wieder zum Meer. »Wirklich seltsam.«
Der Mann stellte sich neben ihn und sah ebenfalls aufs Meer hinaus. »Eine schöne Aussicht«, sagte er.
»Ja, wirklich«, entgegnete Târik kühl.
»Sind Sie allein hier?«
»Wer sind Sie?«, fragte Târik, drehte sich um und blickte in die Mündung einer Pistole mit aufgesetztem Schalldämpfer.
»Muchî Dhannûn lässt Sie grüssen.«
Meer und Mond verschwanden, und mit einem Mal verstummte auch das Rauschen der Wellen.