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Zwei Wochen vergingen. Achmad nutzte die Zeit dafür, sich wieder in den Griff zu bekommen. Die Wohnung war klein, aber für einen jungen Mann, der nichts zu verlieren hatte, gerade richtig. Ein, zwei Nächte blieben verdächtiger Geräusche wegen schlaflos: der alte Ventilator an der Decke, die Zweige des Baums, die gegen die mehrfach gesprungenen Fensterscheiben klopften, die abgenutzten Möbel, die ihre nächtlichen Diskussionen über den neuen Bewohner führten. Ein paarmal kam der Klempner, und der Zustand des Bads und der feuchten Fussböden wurde eingehend erörtert. Achmad tauschte mehrere durchgebrannte Glühlampen aus und unternahm eine Expedition, um ein Restaurant in der Nähe zu finden. Sehr erleichtert wurde diese Mission durch die Nahrungsmittelspenden von Omars Mutter. Omar selbst verbrachte inzwischen mehr Zeit in Achmads Wohnung als er selbst. Dieses plumpe, fette, verschwitzte, hingebungsvolle Geschöpf, das so viel Freude für Achmad bereithielt. Er mochte ihn wirklich.
Omar rüstete Achmads Computer nach und fütterte ihn mit lauter leckeren Filmchen und Programmen. Um die Langeweile zu vertreiben und sich sein Junggesellendasein zu versüssen sowie aus dem tiefen Glauben heraus, damit jegliche Krankheit kurieren zu können, befanden sich darunter auch ein paar Sexstreifen aus seinem Privatarchiv, in dem noch Pornofilme aus den Geburtsstunden des Kinos lagerten. Mit verschiedenen Methoden versuchte er, Achmad aus seiner Erstarrung und Apathie zu reissen: Er witzelte, scherzte, übernachtete, falls nötig, auch bei Achmad, schnarchte gleichmässig und verbreitete den Geruch seiner Füsse, mit dem man einen Studentenprotest hätte auflösen können, alles nur, um Achmad zu helfen, sich an seine neue Situation zu gewöhnen.
Unterdessen trat dieser seine neue Arbeit an. Er wurde Fotograf in einem Studio, und manchmal ging er, um sein Einkommen aufzubessern, auch hinaus: Hochzeiten in Hotels und Klubs, eine häusliche Verlobung oder eine Hochzeitsprozession auf der Strasse, Posieren auf der Universitätsbrücke und Felukenfahrten, nicht zu vergessen das Foto von dem berühmten Springbrunnen auf dem Universitätsplatz vor dem Ormangarten.
Gûdas kleinen Schrank hatte Achmad darüber vollkommen vergessen. Hinzu kam, dass Omar mit seinem Plunder fast das halbe Zimmer besetzt hielt. Ausserdem erlaubte sein Zustand es Achmad nicht, sich so intensiv mit den Dingen zu beschäftigen, die ihn an Gûda erinnerten, vor allem an das, was in der Nacht vor dessen Tod geschehen war. Er wusste sehr gut, dass das Schicksal vorherbestimmt ist, aber er konnte sich nicht damit abfinden, dass er ihn mit einer von ihm verursachten Verstimmung hatte sterben lassen. Hatte Gûda ihm verziehen? Gottes Fluch über Habîb Amîn! Wäre er nicht gewesen, wäre die Welt nicht unwiderruflich auf den Kopf gestellt worden.
Eines Tages jedoch sah Achmad den Schrank vor sich stehen. Alt, voller Schrammen, dunkelbraun. Gûda hatte alle möglichen Aufkleber von Filmherstellern daraufgepappt, die ihm gefielen und die es schon längst nicht mehr gab, wie Sakura, Tudor, ORWO und Forte, ausserdem das verschossene Foto eines japanischen Mädchens mit einem Sonnenschirm.
Achmad zog das Schränkchen heraus und setzte sich im Schneidersitz davor auf den Zimmerboden, steckte den Schlüssel ins Schloss, den er an denselben Ring gehängt hatte wie den zur Wohnung, und öffnete es.
Die erste Schublade enthielt neben ein paar Essenskrümeln und kleinen Nägeln einen Ordner mit vergilbten Papieren: Gûdas Geburtsurkunde (ausgestellt im Oktober 1940 in Amirîja), einen alten Personalausweis, die Sterbeurkunde seiner Frau und Arztberichte, den Mietvertrag für seine Wohnung, eine alte Damenuhr, einen antiken Ring und ein paar Fotos seiner Frau, offenbar aus den sechziger Jahren, sowie Schwarzweiss- und Farbfotografien von ihnen beiden zusammen.
Die zweite und dritte Schublade war mit Filmdöschen vollgestopft, schwarzen und transparenten. Auf jedem Döschen klebte ein kleiner Zettel. »Sally« stand auf einigen. Auch Karîm Abbas, ihr Manager und toleranter Ehemann, hatte zwei Döschen, Galâl Mursi sechs, Fathi al-Assâl und Habîb Amîn mehr als acht. In der Mitte der dritten Schublade standen vier Döschen mit dem Namen Hischâm Fathis, dieses cremefarbenen Anzugs, dessen Tod bei dem Massaker im Hotel er dokumentiert hatte. Über dessen verdorbene Vergangenheit hatte er schon viel gehört. Hinzu kamen weitere Namen, die ihm grösstenteils unbekannt waren oder über die er teilweise etwas hatte raunen hören, sowie andere, die in den Zeitungen viel Platz einnahmen, die meisten von ihnen Schauspieler und Schauspielerinnen, daneben ein paar Politiker und zwei, drei Militärs, im Rang nicht über dem Oberst. Ausserdem einige ohne Namen, und mitten in der Schublade stand ein in weisses Papier gewickeltes und sorgfältig verschlossenes Döschen mit der Aufschrift »Hochzeit«. Das Schränkchen enthielt Gûdas ganzes Leben. Sein Archiv, seine Frau, seine Auftraggeber und Kunden.
Was Achmad am meisten interessierte, waren natürlich die Negative von Galâl Mursi. Er öffnete eins der Döschen und rollte den Film aus. Im schummrig gelben Licht des Zimmers konnte er nichts Genaues erkennen. Darum liess er sein Handydisplay aufleuchten und hielt es hinter den Streifen, um in dem schwachen Lichtschein vielleicht mehr zu sehen. Auf dem Film waren Bilder von Personen, die um einen Tisch im Kasino sassen und unter denen er die Silhouette Galâl Mursis ausmachte, Fotos von ihm mit Männern und Frauen, deren Gesichter verschwommen waren. Achmad öffnete Sallys Döschen: Fotos von ihr, wie sie tanzte, weitere Bilder, auf denen sie mit jemandem an einem Tisch sass. Dasselbe bei Karîm Abbas: Seine Bilder wirkten zwielichtig, viele waren Einzelporträts von Mädchen, die sich in offensichtlich aufreizenden Posen räkelten. Dann kamen Hischâm Fathis Döschen an die Reihe: eine chronologische Dokumentation seiner Besuche im Kasino.
Die Negative schienen, abgesehen von den schlechten Sichtverhältnissen, nicht in gutem Zustand, deshalb gab sich Achmad so weit zufrieden und räumte alle Filme wieder in die Schubladen. Kurz darauf hörte er, wie sich ein Schlüssel im Türschloss drehte, und gleich darauf einen Rülpser, aus dem er schloss, dass Omar gekommen war.
»Wohl bekomm’s, du ungehobelter Kerl. Das Nilpferd kommt zu Besuch!«
»Hamûa« – Omar nannte ihn bei seinem Kosenamen –, »bist du wach?«
»Nein, ich schlafe.«
»Los, setz dich in Bewegung, und hilf mir tragen!«
Achmad stand auf, ging zur Tür und sah, dass Omar einen Computerbildschirm auf dem Arm hatte. »Was ist das denn, Junge?«
»Mein Computer.«
Achmad half ihm, den Monitor hineinzutragen, dann ging Omar noch einmal hinaus und brachte die restlichen Geräte. »Was ist los, hat deine Mutter dich rausgeschmissen oder dich dabei erwischt, wie du dir irgendwelchen Schweinkram angesehen hast?«
»Weder noch, mein Guter. Wir bauen ein Netzwerk auf. Ich verfrachte dich in die Gegenwart! Wir legen ein Kabel zu Kukus Internetcafé nebenan. Dann können wir bis in den Morgen gamen.«
»Sag mal, das da – ist das ein Scanner?«, fiel Achmad ihm scharf ins Wort und zeigte auf ein Gerät, das Omar zusammen mit anderen Dingen hereingetragen hatte.
»Ja, und er ist sogar besser als der bei uns im Studio.«
Achmad sah sich den Apparat genauer an. »Kann ich damit Negative scannen?«
»Ja, mein Lieber. Aber was soll das? Ist das ein Verhör? Brauchst du Beschäftigung? Mach morgen bei der Arbeit, was du willst! Ich hab hier mit Kuku noch ’ne ganze Menge zu tun. Leg du dich doch aufs Ohr, ich mach hier alles fertig und erzähl dir später davon, aber steh mir um Gottes willen nicht im Weg.«
Also zog Achmad sich zurück, legte sich gemütlich auf die Matratze und liess Omar, der vor Schweiss triefte, in Frieden. Der begann, an den Drähten und Strippen zu ziehen, bis ihm der Bauch aus der Hose hing, den man, trüge man so etwas unter dem Hemd, für einen Schwimmring hätte halten können. Ausserdem sah man jedes Mal, wenn er sich bückte, seine breite Unterhose, die ihrer Grösse nach auch als Schutzplane für einen Kleintransporter geeignet gewesen wäre. Dabei keuchte und schnaufte er, schimpfte und fluchte und trat um sich, als wäre er dabei, einen Satelliten neu zu montieren, der aus seiner Umlaufbahn gefallen war. Er war wie ein Gabelstapler ohne Gabel.
Achmad zündete sich eine Zigarette an und war versunken in einen Einfall, der ihm ganz plötzlich gekommen war und der sein Wesen und seine Sinne vollkommen besetzt hielt.
Währenddessen riss Omar das Fenster sperrangelweit auf und hängte sich hinaus: »Los, Kuku, wirf das Kabel rüber!«
Am nächsten Morgen erwachte Achmad von einem Trecker, der den Boden des Zimmers pflügte. Das Geräusch kam von Omar, der wie ein Nilkrokodil mit aufgesperrtem Maul neben ihm lag und schnarchte. Dabei hielt er achtzig Prozent der Besitzanteile an der Matratze. Leise stand Achmad auf und setzte sich die Brille auf die Nase, um die NASA-Weltraumstation in Augenschein zu nehmen, die Omar aufgebaut hatte, während er selbst schlief. Er hatte beide Computer miteinander verbunden und etwas Schwarzes mit blinkenden Lämpchen danebengestellt. Über den Boden wanden sich so viele Drähte und Strippen, wie es in Afrika Schwarze Mambas gibt.
Es war Sonntag, das Studio war geschlossen. Ein Tag, wie geschaffen für eine Unternehmung, die er immer wieder aufgeschoben hatte: Er wollte bei der Galerie vorbeischauen.
Achmad wusch sich das Gesicht und tunkte seine Finger in das Gel, das er immer dabeihatte, frisierte sich und achtete darauf, dass sein Haar wirklich glänzte. Er griff sich etwas von der Leine, zog sich an und schrieb Omar, der noch in tiefem Koma lag, einen Zettel: »Besorg uns was zu essen! Ich gehe aus, bleibe aber nicht lange. Und mach wieder sauber, was du da angerichtet hast! PS: Wasch dir die Füsse!«
Den Zettel klebte er an einen der Monitore, ging hinaus und machte leise die Tür hinter sich zu. Er vergass auch nicht, Gûdas Schränkchen gut abzuschliessen und es von Omars Sachen so weit wie möglich wegzurücken, man wusste schliesslich nie, wofür der es vielleicht gebrauchen könnte.
Vor der Galerie wartete Achmad eine halbe Stunde und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er hatte Ghâda noch nicht kommen sehen, als ein Auto vor dem Gebäude hielt. Am Steuer sass ein gutaussehender junger Mann. Die Autotür öffnete sich, und heraus stieg Ghâda. Sie war wirklich schön, ihr gewelltes Haar wehte auf ihrem Rücken … Ihr Haar? Trug sie nicht Kopftuch? Sie zwickte den jungen Mann in die Wange und hüpfte graziös in die Galerie hinein. Die Kamera hatte Achmad nicht mitgenommen. Hätte er sie dabeigehabt, dann hätte er den Richter fotografiert, wie er ihm in aller Öffentlichkeit und vor allen Leuten sein Todesurteil verkündete. Er sah sich diesen hübschen Kerl genauer an, der ihn mit einem entscheidenden Schlag ausgeknockt hatte. Mit dem konnte er es nicht aufnehmen: ein Tiger gegen eine Garnele. Achmad setzte sich auf die Bank, und ihn fröstelte, als Ghâda wieder zum Auto ging – gefolgt von Ghâda.
Achmad brauchte ein paar Sekunden, doch dann war er so glücklich wie Archimedes nach der Entdeckung des Auftriebsprinzips. Ghâda hatte eine Zwillingsschwester! Eine Zwillingsschwester, die ihr sehr ähnlich sah. Bei dieser frohen Nachricht jubelte sein Herz und gab Freudenschüsse in die Luft ab, während seine Adern trillernd vor Glück das Blut durch seinen Körper pumpten. Die Zwillingsschwester rutschte neben ihren Freund ins Auto, und die echte Ghâda ging, nachdem sie sich von dem Leinwandschönling verabschiedet hatte, in die Galerie zurück.
Achmad sah sich suchend nach einem Buch- oder Schreibwarenladen um, bis er nicht allzu weit entfernt einen entdeckte. Dort kaufte er einen Block, einen Stift und einen weissen Umschlag und setzte sich wieder auf die Bank, um wie der Schreiber im alten Ägypten ein paar Worte zu Papier zu bringen.
Eine Stunde verstrich, während er dort sass, schrieb und dabei einen Haufen zerknüllter Blätter auftürmte, der geeignet war, unter den Müllsammlern einen Aufstand auszulösen. Schliesslich faltete er den Zettel zusammen, steckte ihn in den Umschlag und überquerte in seinem Trojanischen Pferd die Strasse.
Im Inneren war die Galerie äusserst geschmackvoll eingerichtet: leuchtende Farben, ein angenehmer Geruch, Blumen in grossen, transparenten Vasen und Sonnenstrahlen, die durch die Fenster fielen. Man verkaufte dort hauptsächlich moderne Luxusmöbel.
Ghâda sprach gerade mit einer offenbar wohlhabenden Kundin. Aus solcher Nähe hatte Achmad sie noch nie gesehen. Sie war wirklich schön. Und ihre Stimme! Auch die hatte er noch nicht direkt gehört. Ihr kaum wahrnehmbares, herrliches Lispeln bewirkte, dass Wörter wie selection oder gar basbûsa bei ihr klangen wie Umm Kulthûms berühmtes Lied Du bist mein Leben.
»Guten Morgen. Ich bin Abîr Haggâg. Darf ich fragen, wer Sie sind?«
Vor Achmad stand ein schönes Mädchen, das als Model hätte arbeiten können. Er versuchte sich zu konzentrieren und sich die Rolle wieder ins Gedächtnis zu rufen, die er einstudiert hatte.
»Guten Morgen. Eigentlich warte ich auf Fräulein Ghâda. Herr Ingenieur Kamâl hat mich zu ihr geschickt.« Er versuchte, den Namen zu verschlucken, vielleicht liesse sie ihn dann in Ruhe.
Aber das Mädchen fragte weiter: »Wer, bitte, mein Herr?«
»Ich warte, bis Fräulein Ghâda fertig ist. Vielen Dank.«
»Gern, machen Sie es sich bequem!«
Achmad begann seine Kreise um Ghâda und ihre Kundin zu ziehen. Er beobachtete ihre Lippen, wenn sie sprach, hörte ihre zarte Stimme, sah ihre Handbewegungen, ihre kleinen Finger, die Farbe ihres Kopftuchs, ihre Augen, in denen heimliche Trauer zu liegen schien.
Dann beendete Ghâda das Gespräch und verabschiedete sich von ihrer Kundin, als ihre Kollegin sie darauf aufmerksam machte, dass jemand auf sie wartete. Lächelnd wandte sie sich ihm zu. Sein Herz rutschte bis auf den Boden und rollte unter eines der Sofas.
»Guten Morgen.«
»Guten Morgen. Ghâda?«
Sie nickte lächelnd.
»Ich komme von Herrn Ingenieur Kamâl.«
Wieder nickte sie, immer noch lächelnd. »Willkommen!«
»Herr Kamâl wollte eigentlich selbst kommen, doch die Umstände erlauben es ihm nicht«, fuhr Achmad fort. »Aber in dem Brief hier erklärt er alles. Er bittet Sie darum, ihn aufmerksam zu lesen.« Er hielt ihr den Umschlag hin, und Ghâda nahm ihn.
»Entschuldigung, ich verstehe nicht«, sagte sie. »Hat Herr Kamâl Ihnen bestimmte Angaben mitgegeben? Ich erinnere mich nicht mehr. Er hat mich angerufen, aber ich …«
»Er erklärt alles in diesem Brief«, unterbrach Achmad sie. »Tut mir leid, ich muss jetzt gehen. Die Telefonnummern stehen alle drin. Bitte denken Sie gut nach, es ist eine schwierige Sache, die Konzentration erfordert. Danke noch mal!«
Er zog sich zurück, während sie zum nächsten Schreibtisch ging, um den Brief zu öffnen. Unterwegs fiel ihr noch etwas ein: »Darf ich Ihren Namen erfahren?«
Bond. James Bond. Gott schenke Ihnen ein glückliches Alter, Mister Sean Connery!
»Kamâl. Achmad Kamâl«, antwortete er und verschwand, bevor sie den Brief geöffnet hatte oder ihn mit dem Rosenstrauss in Verbindung bringen konnte, an den er die Karte mit seinem Namen gehängt hatte. Er spurtete los, sprang die Stufen hinunter, rannte auf die Strasse und blickte sich um wie ein Dieb. Dann lief er mit grossen Schritten weiter, bis er dem Verräter von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.
Der Kleine spielte so friedlich mit seinen Gefährten, als wäre er einer von ihnen. Keiner von ihnen wusste, dass er Staatsgeheimnisse verkauft hatte, als Doppelagent arbeitete und sogar über ein hochentwickeltes Funksprechgerät verfügte! Aber jetzt war nicht die Zeit, abzurechnen, jetzt hiess es fliehen. Das hinderte Achmad allerdings nicht daran, dem Verräter ein Bein zu stellen, als dieser beim Versteckspiel auf ihn zugelaufen kam, so dass er stolperte und auf den Gehsteig flog. Eine kleine Lektion bis zum Wiedersehen.
Überrascht und verwirrt setzte Ghâda sich an den Schreibtisch und öffnete den Brief. Es war eine seltsame Vorgehensweise, dass ein Kunde ihr einen Brief schickte, statt selbst zu kommen, um seine Möbel auszusuchen. Und dann dieser Achmad Kamâl, der wie ein Postbote nur eben kurz hereingeschaut hatte. Alles war mysteriös, bis sie die erste Zeile des Briefes las:
Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmers
Hallo, meine Dame! Ich bin Achmad Kamâl, der Ihnen auch schon den Rosenstrauss geschickt hat. Ja, so ist das. Haben Sie nur ein bisschen Geduld mit mir, damit ich es Ihnen erklären kann. Ich beobachte Sie schon sehr lange. Jedes Mal, wenn ich hier vorbeikomme, sehe ich Sie in Gedanken versunken dastehen. Ich verehre Sie und weiss nicht, wie ich Ihnen das sagen soll. Ich habe Angst, mich vor Ihnen zu blamieren. Schliesslich weiss ich ja nicht, ob Sie nicht schon gebunden sind. Deshalb habe ich beschlossen, Ihnen zu schreiben. Wenn Hoffnung besteht, warte ich heute in einer Woche um Viertel nach fünf auf Sie bei dem Blumenladen neben der Galerie. Wenn es aber keine Hoffnung gibt und Hopfen und Malz verloren sind, kommen Sie nicht! Ist doch einfach, oder? Aber fragen Sie dann nicht nach dem jungen Mann, der sich von der Teppichkante gestürzt oder mit Guavensaft übergossen hat! Ich arbeite übrigens als Fotograf bei Kodak Express in der Manjalstrasse. Nehmen Sie sich die Zeit nachzudenken, aber geben Sie acht: Wenn ich jemanden liebe, bin ich sehr anhänglich.
Achmad Kamâl
Die Handschrift war so fürchterlich, als hätten vom Rinderwahnsinn befallene Hühner, die zuvor ein Glas Salzsäure getrunken hatten, auf dem Papier gescharrt. Als Ghâda den überraschenden Brief dieses schlanken jungen Mannes, der so gewaltsam in ihr Leben gestürmt war, zum fünften Mal las, schoss ihr das Blut in die Wangen. Sie konnte einfach nicht glauben, dass jemand auf solch altmodische Art heute noch seine Verehrung bekundete. Und das in einer Form, die Julia, hätte Romeo sie angewandt, dazu genötigt hätte, ihn für geistig minderbemittelt zu halten. Aber bald trat ein mildes Lächeln in ihre Mundwinkel, das zeigte, wie sehr das Ganze ihrer Eitelkeit schmeichelte. Wieder fühlte sie den kühlen, erfrischenden Schauer. Dass so etwas passieren würde, und dann auch noch auf solch romantische Art, hatte sie nicht erwartet. Sie rief sich Gesicht und Stimme dessen, der sie beobachtet, überrascht und sich auf sie gestürzt hatte, wieder ins Gedächtnis. Wie schön war es, sich dieser Empfindung hinzugeben! Aber Ghâda war keine Mittelschülerin mehr, die gleich beim ersten Wink auf jemanden hereinfiel. Hinzu kam das bittere Gefühl des fehlenden Kontakts zu den anderen, der enttäuschten Blicke auf sie, wenn man ihren Schwachpunkt entdeckt hatte. Mijâda dagegen war für sie ein lebendiges Experimentierfeld, durch ihre kessen Augen sah sie das Leben. Sie war ihr Fenster zur Welt.
Ghâda faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Handtasche. Dann blickte sie allen ringsum in die Augen, in der Hoffnung, dass niemand sie beobachtete. Aber natürlich war da jemand: Abîr, ihre treue Freundin und Wahrerin ihrer Geheimnisse. Sie hatte, während Ghâda den Brief las, keinen Blick von ihr gewandt, hatte beobachtet, wie besorgt sie anfangs gewesen war und wie sie später ihre Beute in der Handtasche versteckte. Nun kam sie auf sie zu.
»Ghâda, ich verstehe nicht.«
Ghâda zog sie an der Hand mit sich ans Fenster. »Du wirst es nicht glauben.«
»Der Rosenstrauss, stimmt’s?«
Um Abîrs Worten folgen zu können, achtete Ghâda auf ihre Lippenbewegungen. »Komm«, sagte sie, »ich erzähl’s dir.«
Sie drückten sich in ein stilles Eckchen, steckten die Köpfe zusammen und tauschten ihre Frauengeheimnisse aus – die Geheimnisse um Achmad Kamâl.