1

April 2005

Grand Hyatt Hotel, 22 Uhr 30

Die lärmende Hochzeitsprozession vor dem Festsaal kündete von einem neuen Opfer, dessen Name zusammen mit dem der Braut auf einem goldenen Schild an der Tür stand: »Tausend Glückwünsche, Châlid und Nancy!« Der Zug schritt so langsam vorwärts, dass die dickbäuchigen, gelangweilten Tänzerinnen, die auf ihren Köpfen Kerzenleuchter balancierten, sich zu ein paar pflichtschuldigen, allerdings kaum als Tanz zu bezeichnenden Bewegungen in der Lage sahen.

Angeführt wurde die Prozession von einem Drummer. Um sich vom grellen Pink der übrigen Bandmitglieder abzuheben und als ihr Maestro zu erscheinen, trug er eine Weste, deren leuchtendes Himmelblau sich mit den Farben der Ärmelrüschen biss, und langes, in die Stirn fallendes Kraushaar. Seine Kollegen bahnten ihm einen Weg durch die Gäste, damit er, sich ganz dem Trommeln hingebend, wie ein Astronaut seine Runden drehen konnte.

Achmad Kamâl war bloss der Hochzeitsfotograf. Wie alle Kollegen war er sich seiner Bedeutung für ein solches Ereignis zwar sehr wohl bewusst, erfuhr aber nie die ihm gebührende Anerkennung. Dabei nahm er Hochzeiten keinesfalls auf die leichte Schulter. Stets kämpfte er darum, den entscheidenden Augenblick, der lebenslang als Andenken dienen konnte, auf Film zu bannen. An ihn selbst allerdings würde sich später niemand mehr erinnern. Es ging ihm da wie einer Drohne, die nur den Befruchter spielt und anschliessend den Märtyrertod stirbt, damit das Leben weitergehen kann und andere Honig zu essen haben. In weinrotem Hemd, immer in Jeans und mit einem hellbraunen Jackett darüber, sah er aus wie ein Serienstar aus den Achtzigern. Nur dunkelbraune Lederflicken auf den Ellenbogen fehlten noch, sonst hätte man den perfekten Chuck Norris vor sich gehabt. In seinem Inneren allerdings war Achmad überzeugt von seiner grossen Ähnlichkeit mit Amr Diâb1, nur hatte davon noch nie jemand Notiz genommen, obwohl er ständig bemüht war, sich wie dieser Star zu kleiden, und sogar seine Art zu gehen imitierte. Auf elegantes Auftreten legte er viel Wert, und er gab den grössten Teil seines Einkommens, ja zur Not selbst sein letztes Pfund in der Tasche dafür aus. Ausserdem unterwarf er sich im Salâch Golden Gym gelegentlich einem Krafttraining, so dass er nun als recht sportlicher junger Mann dastand, mittelgross und mit Brille, hinter der sich ein Paar schelmische Augen verbarg. Darunter hingen die schwarzen Halbmonde, an denen man den Nachtarbeiter erkannte. Er sah so schlecht, dass selbst Taha Hussain2 Mitleid mit ihm gehabt hätte. Nie kam er vor sechs Uhr morgens ins Bett, und nie verliess er eine Hochzeit, ohne eine schöne junge Dame im Kopf zu haben, die ihn, wie er meinte, die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte. In der Hoffnung, sie vielleicht einmal wiederzusehen, hatte er sich allerdings damit begnügt, eine Porträtaufnahme von ihr zu machen. Die zeigte er später, nachdem er ein paar Retuschen vorgenommen hatte, seinen Kollegen und tat dabei so, als hätte das Mädchen dieses Foto und ausserdem seine Telefonnummer von ihm verlangt und sich unsterblich in ihn verliebt. Sie habe die Augen voll Tränen gehabt, erzählte er dann möglicherweise, weil sie nämlich schon gebunden sei und ihr Verlobter neben ihr gestanden habe, während sie sich doch nichts weiter wünschte, als die Zeit zurückzudrehen, um ihn, Achmad, kennenlernen zu können!

Er griff nach der Kamera, und um auf die Leute ringsum selbstbewusst zu wirken, packte er sie fest am Gurt, als sei er mit ihr in der Hand geboren worden. Damit sich das Geld für das Fitnessstudio auch bezahlt machte, benutzte er die Kamera dabei wie eine Hantel zum Anspannen seines Bizeps.

Die Hochzeitsprozession war vorüber, und nun begann der DJ mit der Arbeit, für die er wie geschaffen war. Um die bösen Geister auszutreiben, zelebrierte er für das Brautpaar und die Verwandten einen Sar3, damit der Bräutigam seine Kraft verlor und seine Träume von der Hochzeitsnacht aus dem Kopf bekam. Damit begann Achmad Kamâls täglicher Kampf, Braut und Bräutigam ohne störende Hände, Schultern oder Köpfe ins Bild zu rücken, und das trotz all der anstrengenden Gäste ringsum. Besonderes Augenmerk legte er dabei auf die Freundinnen der Braut, die sich extra für diesen Anlass in Wickelkleider geworfen und transparente Schals umgelegt hatten, als handele es sich um ein Defilee bei Coco Chanel. Wer weiss, vielleicht würden sie ja heute dem Mann ihres Lebens begegnen! Falls jedoch nicht, reichte ihnen auch ihr Spiegelbild in den Augen der jungen Burschen. Achmad wusste all diese Blicke und Andeutungen zu lesen, ja, inzwischen war er ein richtiger Experte darin, solche Verständigungssignale aufzufangen, ähnlich dem Funksoldaten im Zweiten Weltkrieg, dem es gelungen war, den Code der Deutschen zu knacken.

Schliesslich kam der Zeitpunkt für das Buffet. In diesem Moment zog Achmad sich normalerweise zum Rauchen auf den Balkon über dem Nil zurück, vor allem seit es einmal zu einer Auseinandersetzung mit Mister Rifat gekommen war, dem Saalmanager des Hotels, der ihn neben den Gästen beim Buffet hatte stehen sehen und in solch gellendes Geschrei ausgebrochen war, als stünde er vor dem Schlächter von Karmûs4: »Der Herr kann essen, wenn die Gäste fertig sind!!!« Seitdem kam Achmad nicht einmal mehr in die Nähe des Buffets. Allerdings schloss er sich zuweilen seinen Kollegen im Materialraum an, um ein paar Garnelen mit orientalischem Reis zu vertilgen und sich an seinem Lieblingsdessert Umm Ali gütlich zu tun.

Heute jedoch hatte er keinen Hunger. Er trat auf den Balkon, blies Rauchkringel und vielleicht noch ein paar geometrische Figuren in die Luft, die in der frischen Brise bald zerstoben, und dachte an seinen Vater Kamâl Ibrahîm, der, als Achmad neunzehn gewesen war, von ihm gegangen war und ihn mit seiner Mutter, seiner Schwester Âja, der Kamera und den Filmen allein gelassen hatte. Die Fotoausrüstung hatte Achmad verkauft und das Studio einem neuen Mieter überlassen, der in der Lage war, den monatlichen Zins aufzubringen. Sein Vater hatte noch einige Schulden gehabt, deshalb war Achmad nichts anderes übriggeblieben, als den Ort aufzugeben. Vom Rest des Geldes kaufte er, um auf der Höhe der Zeit zu sein, eine Digitalkamera und einen Computer, so schwer es ihm auch gefallen war, sich von der Ausrüstung zu trennen, an der noch der Geruch seines Vaters haftete. Das Einzige, was er behielt, waren dessen Kontakte zu den altgedienten Hotelangestellten. Sie waren immer sehr gerührt, wenn sie Achmad sahen, weil er sie an seinen Vater erinnerte und daran, was für eine gute Seele er gewesen war. Nur Mister Rifat hatte es darauf abgesehen, Achmad zu beleidigen. Aber der war zu seines Vaters Zeiten auch noch nicht da gewesen.

Es war schon Viertel nach drei, als Achmad den Saal verliess, überzeugt, genug Aufnahmen gemacht zu haben, um die gesamte Hochzeit zu dokumentieren, wie er es mit dem Bräutigam verabredet hatte. Wie üblich begab er sich nun in den vierzigsten Stock. Seine Ausrüstung hatte er in die Tasche gepackt und die Speicherkarten an Salîm übergeben, den Mann, der nach dem Tod seines Vaters die Fotolizenz des Hotels erworben hatte. Er war ein kleines, dickes Geschöpf, immer verschwitzt und stets mit einem feuchten Stofftaschentuch bewaffnet. Sommers wie winters trug er Anzug und Weste über einem zinnoberroten Hemd und glänzend schwarze Schuhe. Eine goldene Panzerkette baumelte ihm bis auf die haarlose Brust, und sein dicker Hängebauch sah aus wie der eines Lakritzsaftverkäufers. Die Kellnerinnen und Tänzerinnen, ja selbst die Geschäftsleute, die im Hotel verkehrten oder wohnten, traktierte er mit seinen Scherzen, in denen es an sexuellen Anspielungen nicht mangelte. Es fehlte nicht viel, und er hätte sich noch mit dem Treppengeländer angefreundet und damit ein Spionagenetz etabliert, das über jeden Gast bestens informiert war. Ausserdem war er ein begnadeter Selbstdarsteller und liebte es, im Mittelpunkt zu stehen. Ursprünglich Assistent eines Künstleragenten, hatte er sich mit sämtlichen privaten Telefonnummern der Klienten abgesetzt und, obwohl er keine Ahnung vom Fotografieren hatte, dieses Studio gepachtet, nur um im Hotel über eine Basis zu verfügen, von der aus er überallhin kriechen und seine Tentakeln in alle Richtungen strecken konnte. Er war mit zwei Frauen verheiratet und mit einer dritten liiert. Seine nächtlichen Abenteuer liess er sich einiges kosten, ebenso seine Vorliebe für in buntem Zellophan verpackte Drogen. Bei den Honoraren für die Fotografen, die für ihn arbeiteten, war er allerdings äusserst knauserig.

Nach dem Tod seines Vaters hatte Achmad begonnen, für Salîm zu arbeiten. Damals hatte dieser ihn mit offenen Armen empfangen, weil Achmad sich an dem Ort auskannte und wusste, wie der Job gemacht wurde. Da es einmal der Platz seines Vaters gewesen war und Salîm nicht wollte, dass Achmad erneut ein Auge darauf warf, war seine Zuneigung allerdings mit einer gewissen Vorsicht gepaart. Aus diesem Grund hielt er auch Achmads Honorar und das seiner Kollegen so niedrig, dass es kaum für das tägliche Leben reichte – sie sollten von ihm abhängig sein.

Vom vierzigsten Stock aus sah man hinunter auf die Kasr-al-Nil-Brücke, den Fernsehturm und den südlichen Zipfel von Samâlik, ausserdem auf die verschlafenen Strassen der Garden City. Leise Musik, ein paar Kerzen und Rosen trugen zu dem besonderen Ambiente des Lokals bei, der rotierenden Bar Vertigo, der exklusivsten und berühmtesten Bar Ägyptens. Hier fanden sich, neben ein paar Ausländern, die Crème de la Crème und Prominente ein. Und Hussâm Munîr hatte hier seinen Arbeitsplatz, Achmads beinahe einziger Freund. Jeden Tag trafen sie sich nach Feierabend, um die Stunden bis zum Morgengrauen gemeinsam zu verbringen. Schon lange waren sie richtige Nachteulen. Hussâm hatte äusserlich keinerlei Ähnlichkeit mit Achmad. Er besass feine Züge, eine Glatze, und das ihm noch verbliebene Haar am Hinterkopf trug er lang und mit einem Gummiband zusammengerafft. Hinzu kam ein kleiner Spitzbart, der wie ein Schiffsanker aussah. Offenbar fürchtete er, seine künstlerischen Fähigkeiten zu verlieren, sollte er auf eins dieser Details verzichten. Seine Hände arbeiteten so präzise wie das Skalpell eines Chirurgen und waren wie geschaffen für das Klavier. Neben einer Brille mit winzigen Gläsern trug er, wie es sich für seinen Job gehörte, abends stets Anzug und Krawatte. Zwar besass er nur zwei Anzüge, doch um trotzdem jeden Tag anders auszusehen, hatte er in Fausis Boutique im Stadtzentrum zwanzig verschiedene preiswerte, aber elegante Krawatten gekauft.

»Der Pianist«, wie er sich gern nennen liess, war unverheiratet und bis vor kurzem sogar noch völlig ungebunden gewesen, abgesehen von den wenigen Malen, an denen er sich mit der einen oder anderen Kellnerin aus dem benachbarten Restaurant eingelassen hatte. Aber diese Beziehungen waren nie ernsthaft geworden, sondern immer nach kurzer Zeit wieder vorbei gewesen, denn schon seit seiner Kindheit verlor er an allem schnell die Lust. Als ausgemachter Luftikus, der er war, gönnte er einer Sache kaum je einen zweiten Blick. Ganz besonders galt dies, wenn eine junge Dame, in dem Wunsch, ihn zu heiraten, ihn zu sehr verwöhnte und zu reichlich beschenkte. Von seinem Lohn legte Hussâm nie etwas zurück, hatte er doch noch für seine kranke Mutter zu sorgen, die in Bab al-Lûk lebte, in einer Altbauwohnung mit hohen Decken, für die sie sieben Pfund Miete bezahlte.

Eines Tages nun hatte Hussâms Agent, der auch sein Freund war, ihn zu sich gebeten, weil er ihn für eine gute Sache brauche, und ihm von Kristina erzählt, einer jungen Frau aus Moldau. Sie war mit den Russen gekommen, die, um der schwierigen wirtschaftlichen Lage in ihrem Land zu entfliehen, wie eine sommerliche Ameiseninvasion in Ägypten eingefallen waren. Diese junge Frau sollte Hussâm heiraten. Sie sei anständig und arbeite nicht in einer Tanzshow. Wie er sei sie Musikerin, sie würden also miteinander auskommen. Für ihren Unterhalt werde sie selbst aufkommen, Hussâm solle ihr nur zu einer Aufenthaltsgenehmigung verhelfen. Und so nahm alles seinen Lauf. Zum ersten Mal begegnete Hussâm Kristina bei einem Meeting. Und obwohl er von der Schönheit der Frauen aus diesen Ländern wusste, hätte er sich nie träumen lassen, dass aus diesem Genpool ein Kunstwerk wie Kristina hervorgehen könnte: Mit ihrem durchscheinend weissen Teint, dem kastanienbraunen Haar und ihrem schlanken Wuchs hätte sie auf Make-up glatt verzichten können. Obwohl ihn ihr Lächeln, bei dem sich in den Wangen kleine Grübchen bildeten, sofort gefangen nahm, lag doch auch eine leise Melancholie in ihrem Blick. Und alles um sich herum konnte man vergessen, wenn sie einen in ihrem geschliffenen Englisch ansprach, das ihren russischen Akzent kaum durchscheinen liess – wäre sie nicht immer wieder über den Buchstaben H gestolpert, der sich bei ihr wie ein Kh anhörte: »I don’t know khow.« Zudem wohnte sie in einem gemieteten Apartment, wo Hussâm sich jederzeit ausruhen konnte.

Also stimmte er dem Heiratsplan zu, allerdings unter der Bedingung, zuvor noch einen Monat mit Kristina zu verbringen, damit sie sich besser kennenlernen konnten. Doch zum ersten Mal in seinem Leben verliebte er sich. Mit Kristina wurde ihm nie langweilig. Sie war anders als alle Frauen, die er bislang gekannt hatte, emanzipiert und unkompliziert. Und obwohl sie um ihre Attraktivität wusste, bildete sie sich nie etwas darauf ein. Ein ägyptisches Mädchen von solcher Schönheit wäre sicher total oberflächlich, dachte Hussâm bei sich. Noch wichtiger allerdings war: Sie ging ihm nicht mit lästigen Kommentaren auf den Wecker, wie »Wo warst du?«, »Komm nicht zu spät, ich kann nicht schlafen, wenn du nicht da bist!«, »Ruf kurz durch, wenn du kommst!« und dergleichen.

Obwohl äusserlich so ganz anders als Achmad, war Hussâm doch sein bester Freund. Gerade in ihrer Verschiedenheit schienen sie einander wunderbar zu ergänzen. Sie entstammten derselben Gesellschaftsschicht und hatten die gleiche Schulbildung genossen, bis das Leben sie getrennt hatte: Achmad hatte ein Handelsstudium absolviert und Hussâm an der Pädagogischen Fakultät Musik studiert. Nach seinem Abschluss hatte er zunächst keine Arbeit gefunden, bis der Künstleragent, der auch mit Achmad befreundet war, nach einem Pianisten suchte. Da hatte Achmad ein gutes Wort für ihn eingelegt.

Jetzt kam Achmad zu Hussâm ans Klavier, legte wie üblich seine Hand auf die Tastatur und schlug einen ziemlich misstönenden Akkord an. Hussâm ignorierte das, wusste er doch, dass sich das nur einer erlaubte.

»Was ist denn mit dir los, mein Lieber, spielst du für die Wände?«

»Hinten sitzt noch ein ausländisches Pärchen, das aussieht, als wolle es hier übernachten«, antwortete Hussâm.

»Ich sterbe vor Hunger, kannst du nicht Schluss machen?«

»Mister Morgan ist hier, da kann ich mir keinen Mist erlauben.«

»Gut«, sagte Achmad, »mach du nur weiter, ich bin dann an der Bar.«

»In Ordnung, aber bestell dir nichts! Mir hat das Glas Orangensaft gereicht, das ich beim letzten Mal übernehmen durfte.«

»Komm du noch mal zu mir nach Hause! Bei meines Vaters Seele, dann kriegst du nicht mal ein Glas kaltes Wasser.«

»Du kommst ja eh kaum über die Runden!«

Achmad ging zur Bar, legte seine Kameratasche ab, begrüsste Hâni, den Barmann, und setzte sich. »Na, wie läuft’s denn so bei dir?«, fragte er.

»Alles super, Kumpel, wunderbar.«

»Hast du den Blödmann da gehört? Der will nicht, dass ich bei dir was trinke.«

»Warte noch kurz, bis das Pärchen weg ist, dann bring ich dir einen Saft. Klar, man?«

»Klar, aber möchtest du wirklich mit dem ganzen Fusel hinter dir fotografiert werden?«, fragte Achmad. »Dann fährst du ja auf geradem Weg zur Hölle!«

»Mach ein Ganzkörperporträt, aber warte noch!«, rief Hâni.

Er brachte seinen Hemdkragen in Ordnung und stellte die Flaschen vor sich in eine Reihe. Dann nahm er die Haltung eines Kängurus an, falls ein Känguru so etwas wie eine Haltung hat, und vergass dabei auch nicht, sich die Hand unters Kinn zu legen. Achmad trat ein paar Schritte zurück, wählte den Bildausschnitt und machte zwei Fotos, eine Nahaufnahme und eine in der Totalen, auf der man die ganze Bar sah. Bald kam auch Hussâm dazu, versuchte, Hâni mit zwei Fingern Hasenohren zu machen, und legte ihm dann die Hand auf die Schulter – und Achmad fing diesen Moment in ihrem Leben ein.

»Hast du mal ’ne Zigarette?«, fragte Hussâm.

Achmad gab ihm eine und zündete sie ihm an. »Und wie geht’s dir so, Junge?«

Hussâm nahm einen tiefen Zug, dann gingen sie beide zum Fenster und schauten auf Kairo hinunter, das wie üblich unter einer Dunstglocke lag. Nur die Spitzen der Hochhäuser am Nilufer schauten heraus.

»Ich weiss nicht – ich glaub, ich mach was ganz Verrücktes, Achmad.«

Der sah ihn mit grossen Augen an. »Wieso denn?«

»Kristina.«

»Wie, ist sie schwanger?«

»Nee, Junge, wir wollen heiraten.«

»Na endlich, du Teufelskerl!«, rief Achmad. »Ich dachte schon, du würdest es nie so weit bringen. Wie kommt’s?«

»Ich liebe sie, Achmad, wirklich!«

»Isch liebe sie, Achmad, wirklisch!«, äffte er ihn nach. »Und seit wann?«

»Wenn du dich über mich lustig machst, erzähl ich dir gar nichts.«

»Reg dich nicht so auf, deine Glatze wird ja schon ganz rot! Also spuck’s aus!«

»Du weisst ja«, meinte Hussâm, »sie ist genau mein Typ. Und welche andere Frau würde mich unter diesen Umständen schon nehmen? Meine Mutter steht mit einem Bein im Grab, und auf die Wohnung haben die Hauseigentümer ein Auge geworfen. Die warten nur drauf, dass sie das Zeitliche segnet und die Wohnung frei wird, damit sie das Grundstück verkaufen können. Wir haben ja noch einen Vertrag mit Mietpreisbindung, der auf den Namen meines Vaters läuft. Und die Lage ist top. Das heisst, es ist absolut hoffnungslos. Ich kann meine Hemden nicht selbst bügeln, Achmad, und ausserdem liebe ich sie sehr. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass ein anderer Mann sie anrührt.«

»Dass sie deine Hemden bügeln wird, bezweifle ich ja. Aber sie scheint wirklich ein gutes Mädchen zu sein, und ein bisschen in dich verliebt ist sie auch. Und ’ne richtig hübsche Schnecke dazu. Hat sie nicht vielleicht noch jüngere Schwestern?«

»Wie sehr, sagst du, ist sie in mich verliebt? Ein bisschen? Sie bringt sich für mich um, mein Freund!«

»Junge …«

»Ja, weisst du, vorgestern hat sie mir sogar ein Parfum geschenkt.«

»Aber doch nur, weil du so stinkst, Mann.«

»Pass auf, was du sagst!«

Achmad blies einen Rauchkringel in die Luft. »Und du meinst, du bist bei ihr gut aufgehoben?«, fragte er dann.

»Sie ist ein gutes Mädchen«, antwortete Hussâm, »und schön wie der junge Morgen. Zwar ist sie Russin, aber aus einer Bauernfamilie, genau wie es sie hier auch gibt. Also ganz unverdorben.«

»Noch Jungfrau?«

»Das spielt für mich überhaupt keine Rolle. Ihre Vergangenheit gehört ihr. Wichtig ist nur, wie sie sich jetzt bei mir verhält.«

»Also keine …«

»Du bist ganz schön engstirnig, Freundchen!«, fiel Hussâm ihm ins Wort. »Ich mache was ganz Neues aus ihr, ich werde sie verändern. Sie ist nicht mehr wie früher, und ausserdem sind wir uns in allem einig. Das Mädchen schlägt mir keine Bitte ab.«

Schmunzelnd stellte Achmad fest, dass er seinem Freund hart genug zugesetzt hatte, denn jetzt leuchtete ihm die Liebe nur so aus den Augen. Er konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, und auch Hussâm liess sich davon anstecken. Achmad umarmte ihn. »Herzlichen Glückwunsch, Junge!«

»Gott segne dich, du Mistkerl!«

»Wirst du deinen Sohn nach mir nennen?«

»Achmadow Kamâlowitsch, klingt gar nicht schlecht.«

»Das wird ein richtiges Genie.«

Hussâm zog ein dunkelblaues Schächtelchen aus der Tasche, blickte nach rechts und links, um sich zu vergewissern, dass niemand sie beobachtete, und meinte dann: »Sag mir, was du davon hältst!«

Achmad öffnete die Schachtel und sah den bescheidenen Goldring darin. »Glückwunsch, Huss«, sagte er. »Aber sie verdient mehr.«

Im selben Moment öffnete sich gegenüber der Bar die Tür des Aufzugs, und heraus traten zwei Männer in den Vierzigern. Der erste stoppte vor der Tür und zündete sich eine teure Zigarre an. Sie passte gut zu seinem dunklen Nadelstreifenanzug, dem breitkragigen Hemd, den vergoldeten Manschettenknöpfen und seiner Armbanduhr von der Grösse eines Geigerzählers. Man kennt diese Typen, immer elegant und wie aus dem Ei gepellt, grelle Krawatte, helle, vom Wein gerötete Haut, dichtes rötliches Haar, schlank, stets das neueste Handy. Einer von denen, die über Satellit telefonieren, um sich über die Tulpenpreise in Holland zu informieren oder darüber, was man in einem Pariser Restaurant zum Diner serviert. Und sie heissen entweder Âsim oder Schukri. Der zweite Mann, offenbar sein Assistent, trat an die erstbeste Kellnerin heran und flüsterte ihr ein paar Worte ins Ohr. Sie zeigte daraufhin auf Mister Morgan, den Barmanager, der gerade herbeigeeilt kam. Er wechselte ein paar Worte mit ihm, dann ging Mister Morgan schnellen Schrittes auf den anderen Mann zu, der ausserhalb der Bar stehen geblieben war, und streckte ihm schon aus zwei Metern Entfernung seine Hand entgegen, um ihn überschwänglich willkommen zu heissen. Der Mann drehte sich zu ihm um, fasste ihn an der Schulter, ging mit ihm zwei Schritte Richtung Aufzug und sprach dabei fast im Flüsterton mit ihm. Dann verabschiedete er sich und ging.

In dem Moment, in dem sich die Aufzugtür schloss, durchfuhr es Mister Morgan, als hätte er an ein blankes Elektrokabel gefasst. Er stürmte wieder herein, geradewegs auf den Chef de Rang zu. »Târik, mach mir sofort einen Tisch mit Nilblick fertig, und lass keine Gäste mehr rein, Schluss für heute! In einer Viertelstunde kommt ein VIP. Los!«

»Okay, Mister Morgan, wie viele Gäste?«

»Zwei, vielleicht auch mehr.«

»Und was ist mit den Ausländern drinnen?«

»Regle das, Târik! Sieh zu, dass du sie loswirst, sag ihnen, wir schliessen!«

»Okay.«

Mister Morgan inspizierte die Bar samt allen Angestellten und gab hier und da Anweisungen. Ringsum wurden Blumen arrangiert, ein Angestellter kam, um den Boden zu wischen, und der Manager begutachtete höchstpersönlich die Positionierung des Tisches und alles, was sich darauf befand, setzte sich probeweise auf die Stühle und versprühte ein Duftspray. Es fehlte nicht viel, und er hätte für die Kebabbestellung des VIP noch den Fussboden mit Petersilie ausgelegt. Dann fiel sein Blick auf Achmad Kamâl, der bei Hussâm stand, und er machte ein Gesicht, als hätte er in seiner Suppe eine geflügelte Amerikanische Grossschabe gefunden.

Achmad, der seinen Blick richtig zu deuten wusste, verschwand nach draussen, während Hussâm sich ans Klavier schwang.

»Ich warte auf dem Balkon auf dich, ich rauche eine«, sagte Achmad.

»Wenn es zu lange dauert, geh nur nach Hause!«, meinte Hussâm. »Es scheint ein wichtiger Gast zu sein, der wird sich Zeit lassen.«

»Ich warte auf dich.«

Achmad zog sich zurück, und auch das ausländische Pärchen verliess engumschlungen den Raum. Auf dem Balkon legte Achmad die Kamera neben sich ab, zog eine Schachtel einheimischer Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine davon an.

Zehn Minuten verstrichen, dann öffnete sich die Tür des Lifts, und zwei Männer in dunklen Anzügen, unter denen seitlich die hungrigen Mäuler von Maschinenpistolen hervorsahen, kamen heraus. Theatralisch postierte sich der eine neben dem Aufzug, während der andere in die Bar trat und prüfend in alle Gesichter blickte, als stünde dort geschrieben, ob jemand etwas im Schilde führte, oder als hielte da grinsend einer eine Dynamitstange in der Hand. Selbst Hussâms Klavier blieb nicht von einem raschen Blick verschont, ebenso wenig der Platz hinter der Bar. Schliesslich verharrte der Mann bei dem reservierten Tisch, zog ein kleines Mikrofon aus dem Ärmel und sprach etwas hinein wie: »Alles in Ordnung, Sicherheitscheck beendet. Wir haben eine Terrorzelle ausgehoben und Bin Lâdin unter dem Tisch festgenommen.«

Achmad in seiner Ecke hinter der stets geschlossenen und mit bodenlangen Stores verhängten Balkontür blieb für alle unsichtbar. Hierher kamen sonst nur die Hotelangestellten, um Blumen abzustellen oder die Glühbirnen für die Barbeleuchtung auszuwechseln.

Zur selben Zeit verschlang Kristina im Licht ihrer Bettlampe einen Roman, wie sie es immer tat, wenn sie nach ihrem aufreibenden Tag noch Energie dazu hatte. Zwischen den Zehen ihrer kleinen Füsse steckten mit Hautcreme bestrichene Wattepads, und auf ihrem Gesicht lag eine dunkelgrüne Crememaske, so dass sie wie eine Indianerin aussah. Ihr Haar hatte sie zu einem Knoten geschlungen und mit einem Bleistift festgesteckt. Sie wusste, welche Rolle ihr Äusseres für ihren Job spielte, denn mit Talent allein kam man in der Männerwelt nicht weit. Zusätzlich zu ihrer nächtlichen Tätigkeit im Hotel arbeitete sie morgens als Übersetzerin in einem Touristikunternehmen. Als die Sowjetunion während des Kalten Krieges und vor dem Fall der Berliner Mauer im Jahre 1989 noch in voller Blüte stand, nutzte man in den ihr angehörenden Ländern gern eine Kunst oder Sportart, die man gut beherrschte, beispielsweise Ballett oder Gymnastik, als Ticket hinaus aus diesem eisernen Käfig. Unvergesslich in diesem Zusammenhang bleiben die Bolschoi-Kompanie oder das einzigartige rumänische Däumelinchen Nadia Coma˘neci. Die meisten Familien machten es sich zur Pflicht, jedwede Begabung ihrer Kinder zu fördern, die eventuell als Rettungsring in Frage kam. Und auch nach dem Zerfall der Sowjetunion konnte der misslichen Wirtschaftslage nur entfliehen, wer über besondere künstlerische oder sportliche Fähigkeiten verfügte. Wie Ameisenvölker, die vor einem Wasserschlauch davonkrabbeln, um sich ein trockenes Fleckchen im Garten zu suchen, machten sich diese Menschen nun auf den Weg. Für viele von ihnen wurde die arabische Welt zur Zufluchtsstätte. Und wenn eine Frau sonst nichts konnte, reichte auch ihr Körper, um ihr Überleben zu garantieren. Der liess sich wie ein Taxi vermieten und galt in einigen arabischen Ländern als weisse Kostbarkeit für die ebenfalls weissen, dickbäuchigen Gilbabs. Kristina allerdings besass glücklicherweise nicht nur ihre sanfte Schönheit, sondern auch ihre Musikerhände, und so machte sie sich zusammen mit den weissen Ameisen auf den Weg gen Süden. In Ägypten hatte sie sich nach eineinhalb Jahren harter Arbeit fest genug etabliert, um den Lebensunterhalt auch noch für ihre Mutter und ihre beiden kleinen Schwestern zu bestreiten.

Hussâm begegnete sie zum ersten Mal bei einem Treffen mit dem Künstleragenten im Hotel, wo man ihnen die Arbeit zeigen wollte, die man ihnen zuweisen würde. Die ganze Zeit über starrte er Kristina durch seine Brillengläser an wie ein Röntgenapparat. Dann begann er den klassischen Dialog: »Bist du zum ersten Mal in Ägypten? Brauchst du was? Ich stehe zu deinen Diensten. Keine Ursache, schliesslich sind wir Kollegen. Neinneinnein, du musst um die Preise feilschen, du kennst die Händler nicht! Nach der Arbeit zeige ich dir einen sehr preiswerten Ort, wo man dich nicht übers Ohr haut. Ich bring dich nach Hause, du bist ja noch neu hier. Ich lade dich zu einem ägyptischen Gericht ein, das du nie vergessen wirst. Es heisst Fûl. Nein, Fûl! Fûl, nicht Fuel!«

Zwar hatte ursprünglich der Agent sie ihm ans Herz gelegt, damit das Prozedere um ihre Aufenthaltserlaubnis abgeschlossen werden konnte, aber Hussâm wäre ihr auch von sich aus so willenlos gefolgt wie ein Bauer dem Ruf der Nadâha5.

Im Augenblick jedoch klingelte Kristinas Handy und zerriss die Stille des Zimmers.

»Bist du noch wach?«, fragte Hussâm am anderen Ende. Seit er ein Jahr im Hotel Cataract in Assuan gearbeitet hatte, sprach er gut Englisch. Allerdings hatte er inzwischen auch angefangen, Russisch zu lernen.

»Und du, bist du noch im Hotel?«

»Ich wollte dir nur sagen, dass ich später komme, ein VIP ist im Anmarsch.«

»Okay«, sagte Kristina, »ich bin zu Hause. Wenn du möchtest, komm vorbei, Essen ist im Kühlschrank.«

»Gehst du morgen früh so wie immer?«

»Um acht.«

»Wenn du mich neben dir liegen siehst, weck mich! Ich hab dir was sehr Wichtiges zu sagen.«

»Ist was passiert?«

»Absolut nicht«, antwortete Hussâm. »Ich vermisse dich bloss. Ausserdem hab ich was für dich.«

»Ich vermisse dich auch. Und was hast du für mich?«

»Nicht am Telefon!«

»Okay, ich wecke dich morgen. Take care.«

»Okay, bye.«

Hussâm legte auf, und über seine Lippen huschte ein Lächeln. Er tastete nach der kleinen Schachtel, die ihren Platz in seiner rechten Anzugtasche gefunden hatte und auf der, wie anzunehmen war, Name und Adresse eines Juweliers standen. Dann setzte er sich ans Klavier. Im selben Moment öffnete sich die Tür des Aufzugs, und heraus trat in seinem Nadelstreifenanzug Âsim al-Sîssi (ich wusste doch, dass er Âsim heisst!), der Mann, der eine Viertelstunde zuvor mit dem Barmanager gesprochen hatte. Diesmal allerdings wirkte er sehr dienstbeflissen, wie er mit grossen Schritten der Person hinter ihm den Weg frei machte.

Mister Morgan ging zur Aufzugtür und streckte, wie es seine Art war, schon eindreiviertel Stunden vorher seine Hand zu einem überschwänglichen Willkomm aus, bis er endlich aus seiner Wartestellung erlöst wurde, als Muchî Dhannûn aus dem Lift trat.

1956 war Muchî Dhannûn nur ein normaler Sechsundzwanzigjähriger gewesen, Sohn Atallah Dhannûns, des ältesten Gipsers und Stuckateurs in Alt-Kairo, vor dessen Werkstatt an der Strasse lauter römische und altägyptische Säulen, Deckenrosetten, Engelfiguren und Brunnen lagen. Atallah war ein wirklicher Künstler gewesen. Er war bei einem Griechen in die Lehre gegangen, der seine Kenntnisse erst an ihn weitergegeben hatte, nachdem Atallah ihm versprochen hatte, diese Berufsgeheimnisse niemandem zu verraten. Schliesslich starb der Grieche, und Atallah eröffnete seine eigene Werkstatt. Er war mager, hochgewachsen wie eine Palme, hatte freundliche Gesichtszüge und besass, obwohl ohne Bildung, ein angeborenes Talent für sein Handwerk und den Handel. Gott hatte ihm seinen Beruf und seinen Sohn Muchî geschenkt. Seine Frau Nagîja jedoch war, bevor sie ihn mit einer grösseren Nachkommenschaft hätte beglücken können, während der Choleraepidemie 1947 verstorben, die mit den englischen Soldaten aus Indien ins Lager von Tall al-Kabîr gekommen war und sich von dort aus wie der Wind in ganz Ägypten ausgebreitet hatte. Muchî wuchs als Halbwaise auf. Er half seinem Vater, doch hatte er das Handwerk nicht wie dieser im Blut. Deshalb goss er nur die Gipsmischung, reinigte die Gussformen oder arbeitete im Verkauf. In seinem tiefsten Inneren wusste er, dass er für diesen Beruf nicht geschaffen war. Schliesslich begann die Flucht der Ausländer und der Juden aus Ägypten. Zurück blieben Omar Effendi und weitere Kaufhäuser: Benzion, Adès, Hannaux, Cicurel, Rivoli, Sednaoui, Chemla. Sie wurden verstaatlicht und mit der Zeit in Shoppingcenter umgewandelt. Allerdings waren die Geschäfte nicht das Einzige, was die Ausländer und die Juden bei ihrer Ausreise aus Ägypten zurückliessen: Auch ihre Gräber waren noch da. Jeder Bewohner Alt-Kairos kannte diese prächtigen Marmormonumente, über denen Figuren trauernder Engel, der Jungfrau oder der Heiligen wachten, auf den Friedhöfen der römisch-katholischen Christen und der Juden in der Gegend der Sieben Kirchen. Nach der Sueskrise wurde den Friedhofsbesuchern, die ihr Eigentum zurückgelassen hatten und in ihre Länder heimgekehrt waren, der spirituelle Zugriff auf diese Grabstätten entzogen. Und nun machten sich die Hungerleider daran, diese Mausoleen zu erforschen. Marmor und Statuen rissen sie herunter, um sie zu verkaufen. So verbreitete sich Wohlstand unter den neuen Besuchern der Gräber. Ganz besonders galt dies für Muchî Dhannûn. Er war der Aktivste und Gierigste unter ihnen, ganz wie Howard Carter, der Tutanchamuns Grab entdeckt hatte. Sein Vater lehnte es eigentlich ab, sich an Toten zu bereichern, liess sich schliesslich aber doch erweichen, Muchî für den Marmorverkauf einen Platz im Lager einzuräumen. Die Zeit verging, der Vater starb, und Muchî übernahm das Geschäft. Als Erstes gab er das Gipser- und Stuckateurhandwerk auf und spezialisierte sich auf Marmor. Dann legte er sich einen Kran zu, eine Blocksäge, mehrere Lastwagen und eine Ehefrau: Thuraja. Durch sie kam er in Kontakt mit ihrem Vater Fathi Kandîl, einem der grössten Marmorhändler der Gegend, ging eine Geschäftsbeziehung mit ihm ein und verhinderte so aufs effektivste, dass er ihm zum Konkurrenten wurde. Thuraja war eine Ehefrau, wie man sie oft in ägyptischen Filmen sieht: die typische Tochter des reichen Kaufmanns, die längst weiss, dass ihr Mann sie nur aus Geschäftsinteresse geheiratet hat, die aber den Fortbestand ihrer Ehe einem Dasein als Geschiedene vorzieht. Ihr Vater war inzwischen ohnehin nicht mehr so bedeutend. In zwei glücklichen Momenten gebar sie ihrem Mann die beiden Söhne Saîd und Kamâl. Über die Geschichten ihres Mannes mit seiner Sekretärin war sie bestens informiert, ebenso über die mit Nawâl, der Frau seines Freundes Maamûn. Doch genauso bewusst war ihr die Grösse des Diamantrings, den er ihr für jede neue Affäre schenkte, um damit stumm seiner Reue Ausdruck zu verleihen und ihrem strafenden Blick zu entgehen, denn auch er wusste, dass sie im Bilde war. Es war, als bestünde zwischen ihnen eine stille Übereinkunft zu beiderseitigem Nutzen. Sie stritten nicht oft, sie wusste, dass sie in seiner Umarmung kalt blieb und ihn nie würde befriedigen können, und ihm war klar, dass sie die Mutter seiner Kinder war und er nicht auf sie verzichten konnte. Sein Ehrgeiz kannte kein Ende, bis er schliesslich der grösste Marmorhändler in der Gegend des Steinbruchs Schakk al-Taabân war. Seinen endgültigen Durchbruch erlebte er, als er den Auftrag bekam, den Palast eines Paschas, der eine wichtige Rolle im Revolutionsregime innehatte, mit Marmor auszukleiden. Er tat alles, um seine Beziehung zu diesem unendlich mächtigen Mann zu festigen. Dieser wiederum profitierte von Muchîs Geldmitteln und von dessen Wunsch, den hohen Herren im Revolutionären Kommandorat und später in der Sozialistischen Union nahe zu sein. Während des Krieges überredete er ihn zu einem Waffenhandel zur Unterstützung der Armee. Hier nahm die dritte Phase in Muchî Dhannûns Leben ihren Anfang. Sie begann damit, dass er in die waffenexportierenden Länder reiste, sich mehr und mehr aus dem Marmorwerk zurückzog und seinen Söhnen die Verantwortung dafür überliess, während er selbst sieben Jahre lang auf Achse war. Dabei lernte er neben dem Italienischen, das er sich über den Handel mit Italien angeeignet hatte, auch noch Russisch und Englisch. In dieser Zeit schloss Muchî Freundschaft mit Präsidenten, Ministern und Geschäftsleuten und überschüttete sie mit verschwenderischen Wohltaten, teilweise allerdings mit der Absicht, sein Gegenüber moralisch unter Zugzwang zu setzen, um eines Tages ebenfalls um einen Gefallen bitten zu können. Schlaflose Nächte, Geschenke und Beziehungen ohne Ende. Später schloss sich ihm auch sein Sohn Saîd an, um ihm bei den Waffengeschäften zur Seite zu stehen, die ihn über alle Grenzen hinwegtrugen und ihm unzählige Türen öffneten. Trotzdem versuchte er, sich vor den Medien verborgen zu halten. Er wollte keine dicke Fliege sein, die im hellen Sonnenlicht auf einer Fensterscheibe sitzt und ohne weiteres totgeschlagen werden kann. Klüger war es, im Schatten zu wirken. Und so brauchte ein Funktionär nur einen Blick auf Muchî Beys Visitenkarte zu werfen, schon waren alle Hindernisse aus dem Weg geräumt, denn jeder wusste, dass er politische und finanzielle Rückendeckung genoss. Auf diese Weise entstand das Dhannûn-Imperium, das bald eine zentrale Rolle im Regime spielen sollte und zusammen mit den Luxuskarossen, Dienern und Palästen zu der Erbmasse gehörte, die auf das neue Regime überging. Die Insassen der Gräber indes, die ihres Schmucks beraubt worden waren, damit Muchî und seinesgleichen sich daran bereichern konnten, hatten das Nachsehen.

Fünf Minuten bevor der Aufzug sich öffnete, hatte Achmad auf dem Balkon seine zweite Zigarette ausgedrückt, die Kamera aus der Tasche genommen und sie auf ein Nilschiff unter seinen Füssen gerichtet, auf dem man gerade eine Party gab. Es war eine Hochzeitsfeier mit lauter Musik, von der man hier oben allerdings nur ein leises Summen wahrnahm. Ein paar Leiber in schillernden Roben tanzten und umschmeichelten mit vollem Einsatz ihrer Körperformen das Publikum. Mittendrin der Bräutigam, in Schweiss gebadet, und die erschöpfte Braut. Einer der Gäste zog sich, eine Rose in der Hand, mit seiner Freundin von den anderen zurück, um ihr honigsüsse Worte ins Ohr zu säuseln. Währenddessen passierten sie die Kasr-al-Nil-Brücke mit ihren Liebespaaren und Papiertaschentuchverkäufern, dann das Hotel gegenüber, wo die Paare sich gern bei zum Nil hin geöffneten Fenstern liebten, um später einmal ihren Nachkommen sagen zu können, sie seien an den Ufern des grossen Flusses gezeugt worden. All das beobachtete Achmad durch sein Objektiv, und was es wert war, später zu Hause seinem Computer einverleibt zu werden, lichtete er ab. Er besass schon eine ganze Menge Aufnahmen von den Nilbooten mit ihren Liebespaaren, dazu etliche journalistische Leckerbissen, wie zum Beispiel solche von der Fahrzeugeskorte des Präsidenten, vom Premierminister auf der Hochzeitsfeier seines Sohnes, von Rangeleien und Unfällen. Hinzu kamen Fotos von ihm selbst mit libanesischen Sängerinnen, nicht zu vergessen das hochberühmte Bild, das ihn zusammen mit Amr Diâb zeigte und einen Ehrenplatz an seiner Schlafzimmerwand innehatte. Der Star hielt ein Mikrofon in der Hand und sang hingebungsvoll hinein, während seine andere Hand auf Achmads Schulter ruhte. Der sah sehr glücklich aus, mit einem Grinsen im Gesicht, das sich von einem Ohr bis zum anderen zog. Allerdings hatte er die Augen geschlossen.

Am Eingang schüttelte Mister Morgan diesem Machmûd al-Malîgi6 herzlich die Hand und sagte, Palästina gehöre den Palästinensern, Ägypten den Ägyptern und Uganda den Ugandern. Ausserdem betonte er, die Streitkräfte seien der Schutzschild der Nation. Jawohl, Machmûd al-Malîgi, denn wäre Muchî Dhannûn nicht Geschäftsmann gewesen, so hätte er auch als Double für diesen Filmbösewicht arbeiten können, nur dass er etwas grösser war.

Muchî schüttelte Mister Morgans Hand ab und ging mit ausgreifenden, federnden Schritten hinein, flankiert von seinem Sekretär Âsim al-Sîssi und seinem persönlichen Leibwächter, der am Aufzug gestanden hatte. Nachdem Muchî an seinem Tisch Platz genommen und, seine dünnrandige Brille auf der Nase, begonnen hatte, das Display seines Handys zu studieren, dauerte es kaum ein paar Minuten, bis sich die Aufzugtür erneut öffnete und Hischâm Fathi zum Vorschein kam, die dicke Fliege auf der Fensterscheibe des Regimes. Hischâm war ebenfalls ein schwergewichtiger Geschäftsmann. Er hatte einen Grossteil seines Lebens in Generalvertretungen und Vertragsunternehmen des Autohandels verbracht, bis er schliesslich den Markt beherrschte und zu einer der fettesten Katzen auf dem Teppich der ägyptischen Wirtschaft wurde. Er war, wie es hiess, ein Frauenflüsterer und Schürzenjäger und trieb es in dieser Hinsicht so weit, sich selbst mit der Videokamera aufzunehmen, um seine Heldentaten im Bett für die Nachwelt zu erhalten. Wenn eine Frau es so wollte, heiratete er sie nach Gewohnheitsrecht, ohne die Ehe offiziell registrieren zu lassen. Die Künstlerinnen jedoch, die sich von ihren Freundinnen hatten zureden lassen, begleitete er nur heimlich, und wenn ihr Vertrag mit ihm auslief, winkte ihnen ein Wagen des neuesten Modells. Seine Phosphatwerte hielt Hischâm mit Hilfe importierter Vitaminpräparate dauerhaft unter Kontrolle, die er, um auf der Höhe seiner Leistungskraft zu bleiben, mit blauen Pillen, Shrimps und Hummer ergänzte. Er war schwerer Alkoholiker, korpulent, reizbar und gutaussehend, mit aristokratischen türkischen Zügen. Anders als Muchî Dhannûn war er nämlich nicht mit schwerer körperlicher Arbeit gross geworden, sondern hatte seinen Reichtum vom Vater geerbt. Das war einer der Faktoren für die gegenseitige Aversion, von der die Beziehung der beiden Männer geprägt war, abgesehen davon, dass sie an der Börse und beim Aktienkauf rivalisierten. Das Regime jedoch störte dies alles nicht weiter – bis eines Tages Hischâm Fathi den Eindruck gewann, dass der Anteil seiner Nutzniesser zu gross geworden war und er inzwischen mehr für sie arbeitete als für sich selbst. Er beschloss daher, ihre Beteiligungen peu à peu zu reduzieren, und berief sich dabei auf den stagnierenden Markt und verschiedene grössere Veruntreuungen. Die Folge war allerdings, dass man nun ihn selbst genauer unter die Lupe nahm. Sein Telefon wurde überwacht und alles, was er sagte, mitgeschnitten, sei es bei der Arbeit oder zu Hause, selbst bei seinen Geliebten. Einen ersten Warnschuss erhielt er, als eine Künstlerin ihn beschuldigte, sie belästigt zu haben. Dann versuchte man, ihm mit dem Vorwurf, geschmuggelten Alkohol zu besitzen, die rote Karte zu zeigen. Aber dieser Konflikt machte ihn nur noch eigensinniger. Nachdem er die Regierung nun von ihrer hässlichen Seite kennengelernt hatte, verschanzte er sich hinter seinem Imperium, von dem er glaubte, es werde ihn schon vor ihren Hieben bewahren. Als jedoch die Polizei zum ersten Mal seine Villa durchsuchte und auf ein Archiv schlüpfriger Videos stiess, war dies ein schwerer Schlag für ihn. Erst jetzt wurde ihm klar, was für gefährliches Zeug er auf einem der Bänder zu einer Prostituierten gesagt hatte, und das machte ihn noch kopfloser und nervöser. Schliesslich kam ein Anruf von Muchî Dhannûns Sekretär, der ihn zu einem dringenden Treffen einbestellte. Und hier war er nun.

Das Handy am Ohr, trat er aus dem Lift und blieb vor der Tür zur Bar stehen, in cremefarbenem Anzug, mit blaugestreifter Krawatte und einer goldenen Uhr mit Krokodillederarmband. Elegant war er, mit der weissen Strähne in seinem weichen schwarzen Haar, die wie eine Klaviertaste aussah. Sie war eines der Geheimnisse seiner Attraktivität, ganz anders als in ägyptischen Fernsehserien, in denen kein Schauspieler ergraut, es sei denn, er trägt Nassers Frisur. Auch die Schauspielerinnen können unter einer Nierenkrankheit, Malaria und Kindbettfieber leiden und zusätzlich zwei Kugeln zwischen die Augen kriegen, ihr Make-up sitzt trotzdem stets perfekt, selbst noch auf dem Totenbett!

Absichtlich zog Hischâm Fathi das Telefongespräch in die Länge und liess genussvoll seinen Rivalen warten, eine Taktik, die er bei seinen Angestellten, Gefolgsleuten und selbst bei seinen Affären ständig anwandte, ganz besonders aber wenn Muchî Dhannûn ihn zu einem Treffen einlud, von dessen Beziehungen zum Regime er schon wusste. In seinem Inneren jedoch war er der Feindschaft mit den Herren müde, deshalb beschlich ihn das heimliche Gefühl, wie es ein Sohn haben muss, der von seinem Vater hinausgeworfen worden ist und nun darauf wartet, dass dieser ihn anruft und bittet, wieder nach Hause zu kommen. Langsam ging Hischâm auf die Bar zu, blieb stehen und beobachtete Muchî, um, wann immer der zu ihm hinsah, sein Gesicht wieder abzuwenden und ein paar unzusammenhängende Worte ins Telefon zu murmeln, wie zum Beispiel, er werde bei diesem Geschäft nicht unter fünfzig Millionen gehen, die Aktien an der Börse stiegen und die Bank werde ihm die Hand küssen, wenn er ein Konto bei ihr eröffne.

Muchî indessen blickte durch seine Brille erst zu ihm hinüber, dann auf die Uhr, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass er nicht die ganze Nacht Zeit habe, sich dieses Telefonat anzuhören. Schliesslich hob Hischâm entschuldigend die Hand, schaltete sein Handy aus und ging zu Muchî Dhannûns Tisch. »Tut mir leid, Muchî Pascha«, sagte er, »aber wenn man sich nicht selbst um alles kümmert, läuft gar nichts.«

Muchî erhob sich so schwerfällig wie eine gestopfte Gans und streckte Hischâm seine Hand entgegen, der sie schüttelte und ihn dann voll falscher Liebenswürdigkeit umarmte.

»Sie haben mir gefehlt.«

»Welch eine Freude, Sie zu sehen, Hischâm Bey.«

»Die Pflichten, Muchî Bey.«

»Ich höre ständig von Ihnen.«

»Aber nicht zu vergleichen mit Ihrem Bekanntheitsgrad, Pascha.«

Nachdem sie diese banalen Floskeln ausgetauscht hatten, setzten sie sich, und Mister Morgan tischte ihnen allerhand erlesene Köstlichkeiten auf. Hätte man sich noch im Zeitalter der Sklaverei befunden, hätte er auch noch eine Sklavin herbeigerufen, damit sie für ihr Amüsement sorgte. Währenddessen liessen die Bodyguards der beiden sich an der Bar nieder. Hussâm spielte am Klavier ein ruhiges Stück, das seine Finger auswendig konnten. Achmad war aufmerksam geworden, als er bemerkt hatte, dass sich im Inneren der Bar etwas bewegte. Durch sein Zoomobjektiv schaute er zu dem Tisch hinüber, um den sich so viel Reichtum versammelt hatte, sah sich die Anzüge der beiden an, ihre Handys und Armbanduhren, ihre Lippen, die sich bewegten, und dachte sich einen Dialog für sie aus:

»Haben Sie den jungen Künstler gesehen, der da auf dem Balkon steht?«, fragte Muchî.

»Das ist doch kein Künstler, das ist nur ein Hochzeitsfotograf.«

»Aber schauen Sie, wie er die Kamera hält, daran sieht man doch, was für ein einmaliges Genie er ist!«

»Ich weiss nicht, was Ihnen an dem so gefällt«, entgegnete Hischâm. »Das ist bloss ein hübscher Kerl, der wie Amr Diâb aussieht, sonst nichts.«

»Wollen wir wetten, dass dieser Junge, wenn er ein bisschen Geld hätte, die Welt aus den Angeln heben könnte?«

»Abgemacht.«

»Ich gebe ihm eine Milliarde Pfund, und Sie geben ihm eine Milliarde Pfund, und dann sehen wir, was er macht.«

»Und wenn er gar nichts macht?«

»Und wennschon, Hischâm, was ist denn schon eine Milliarde Pfund?«

Sich seinen Tagträumen hinzugeben war Achmads Lieblingsbeschäftigung, bei der er sämtliche Sorgen und Probleme vergass. Er heiratete dann die schönsten Frauen Hollywoods, brach mit jemandem, der ihn ärgerte, einen Streit vom Zaun und stellte ihn vor allen Leuten bloss, fuhr die edelsten Wagen, fand eine Million Pfund auf dem Gehsteig, forderte den Boxweltmeister heraus und besiegte ihn, besass ein Hotel, das seinen Namen trug, das InterContinental Abu Kamâl, und verbrachte den Sommer an der Riviera. Dabei wusste er nicht einmal, wo die liegt.

Achmad richtete die Kamera neu aus und stellte eine längere Belichtungszeit ein, um keinen Blitz zu brauchen. Dann machte er mehrere Nahaufnahmen von den luxuriösen Uhren und Handys der beiden Männer, von ihren Gesten und Gesichtern, hinter deren äusserlicher Liebenswürdigkeit sich Skepsis und Wachsamkeit verbargen.

»Was macht das Business, Pascha?«, fragte Hischâm.

»Sie werden schon bald Gutes davon hören. Und wie läuft’s mit Ihrem Prozess?«

Diese Frage schien Hischâm nicht zu gefallen. »So Gott will, geht alles gut. Dieses Mädchen wird ja nur vorgeschoben, ich weiss sehr wohl, wer dahintersteckt. Und ausserdem kocht man die Gerüchte absichtlich ein bisschen hoch. Sie kennen ja die Zeitungen: Über uns berichtet man haarsträubendere Dinge als über die Filmstars. Und es braucht bloss in Kairo jemand zu niesen, schon sagt man in Assuan ›Gesundheit!‹.«

»Nein, ich meine die Sache mit dem Alkohol!«, warf Muchî spöttisch ein.

Hischâm zündete sich eine Zigarre an und entgegnete: »Das ist doch bloss konstruiert! Wer von uns trinkt denn keinen Alkohol? Ausserdem ist das eine Frage persönlicher Freiheit. Es gibt immer missgünstige Leute, Muchî Bey, die nichts Besseres zu tun haben, als den Inhalt unserer Gläser zu kontrollieren.«

»Der Herr schenke Ihnen Kraft, Hischâm Pascha!« Muchî sah auf seine Uhr und fügte hinzu: »Entschuldigen Sie, dass ich so wenig Zeit für Sie habe, aber ich habe am Morgen ein Meeting und muss früh ins Bett.«

»Wie es Ihnen beliebt.«

»Was ist denn das nun für eine wichtige Sache, über die Sie mit mir sprechen wollten?«

»Ich wollte mit Ihnen sprechen? Ich bin doch auf Ihren Wunsch hergekommen, Muchî Bey.«

»Sie machen wohl Witze!«

Die Tür des internen Aufzugs, der vom Drehrestaurant nach unten fuhr, war nicht weit entfernt. Wer hinunterwollte, musste zunächst an der Bar vorbei, der man eine magische Anziehungskraft zusprach, bevor er direkt vom vierzigsten Stock aus in die Lobby fahren konnte. Genau in dem Moment, als nun von dem einzigen besetzten Tisch neben dem Fenster die Fragezeichen aufstiegen wie Heliumballons, öffnete sich der Lift und entliess drei muskulöse Männer in schwarzen Anzügen und Krawatten und mit starren Mienen. Einer von ihnen zog eine Zigarette aus der Tasche, der Zweite zündete sie ihm an, und der Dritte schlenderte zum Fenster, lehnte sich gegen die Scheibe und blickte hinunter auf den Nil. Einer von den Bodyguards an der Bar stand auf und ging, gefolgt von Mister Morgan, zu den beiden Männern, um ihnen in aller Höflichkeit klarzumachen, dass sie hier zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht willkommen waren. Doch während er noch redete, explodierte plötzlich sein linkes Ohr und nahm sich als Andenken auch noch einen Teil des Schädels mit. Der Leibwächter plumpste zu Boden wie ein Bügeleisen. Dann ging alles ganz schnell. Was sein Ohr dazu gebracht hatte, sich vom Kopf zu lösen, war nichts anderes gewesen als ein Schuss aus einer schallgedämpften Pistole, abgegeben von dem Mann, der noch kurz zuvor in den Anblick des Nils versunken beim Fenster gestanden hatte. Nun zogen auch die beiden anderen Männer ihre Pistolen und platzierten ihre Schüsse in Mister Morgans Brust, so dass dieser mit voller Wucht nach hinten geworfen wurde und mit dem Nacken auf einen Barhocker schlug. Vermutlich wurde er dadurch getötet, nicht durch die Kugeln. Sein Sturz reichte, den anderen Leibwächter, der noch an der Bar sass, zu einer verspäteten Reaktion zu animieren. Auch er zog seine Pistole und gab zwei Schüsse ab, von denen einer die Aufzugtür traf, während der andere rechts von dem Angreifer, der neben dem Fenster stand, einschlug. Dann allerdings wurde der Bodyguard von zwei Kugeln aus unterschiedlichen Richtungen in die Brust und den Hals getroffen. Sie kamen von den beiden Männern, die sich getrennt und verschiedene, offenbar wohlüberlegte und im Voraus festgelegte Positionen eingenommen hatten. Nun ging einer von ihnen zur Bar, die beiden anderen zu dem Tisch, den Hischâm Fathi inzwischen umgeworfen hatte. Dieser zog seinen silbernen Colt und gab eine Kugel auf den ihm am nächsten stehenden Angreifer ab, der der Anführer zu sein schien. Sie riss ihm einen Streifen von der Schulter, begegnete aber in der Luft einer anderen Kugel, die in entgegengesetzter Richtung unterwegs war und Hischâm genau über dem Mund traf. Er sank in die Knie und stürzte vornüber auf sein Gesicht, das sich ziemlich verändert hatte. Eine weitere Kugel verirrte sich, durchschlug die Scheibe und surrte an Achmad vorbei, der den Auslöser der Kamera die ganze Zeit gedrückt hielt. Durch die aktivierte Serienbildfunktion würde die Aufnahme erst abbrechen, wenn er ihn wieder losliess. Diese Funktion verwandte Achmad nur bei besonderen Gelegenheiten, in Augenblicken, in denen man nicht um eine Sekunde zu spät sein durfte.

Seit der erste Leibwächter gefallen war, hatte er instinktiv den Auslöseknopf gedrückt gehalten und so von Hischâm Fathi die letzte Aufnahme seines Lebens gemacht. Doch schliesslich kam besagte Kugel an ihm vorbeigeflogen, es pfiff ihm in den Ohren, und er wurde kurzzeitig taub. Achmad schreckte aus seiner Konzentration auf den Kamerasucher auf, und panische Angst befiel ihn, dass ihn jemand bemerken könnte. Er riss die Kameratasche an sich und drückte sich an die Wand. Im selben Moment streckte der dritte Angreifer den Barmann, der zum Bad gelaufen war, mit zwei Schüssen in den Rücken nieder und ging dann auf Hussâm zu, der wie festgenagelt hinter dem Klavier stand. Einen Moment lang, der sich wie eine Stunde anfühlte, sah er ihm in die Augen, dann richtete er die Mündung seiner Pistole auf ihn. Hussâm blickte suchend zum Balkon, wo Achmad stand. Vorsichtig, mit halb abgewandtem Gesicht, schaute der zurück, und für einen Sekundenbruchteil trafen sich ihre Blicke. Dann schloss Hussâm die Augen und empfing eine Kugel in seine linke Gesichtshälfte. Sie durchdrang den Schädel und schlug in die Glaswand des Aquariums hinter ihm ein, die mit einem Zischen zerbarst. Wie eine Stosswelle ergoss sich das Wasser über Hussâm. Achmad fühlte sich, als hätte ihn eine Artilleriegranate ins Herz getroffen. Mit dem Rücken zur Wand kauerte er sich auf den Boden und fühlte nichts mehr ausser einem Kribbeln im Gesicht. Eine ungewöhnliche Kälte kroch ihm in die Glieder. Übrig waren in der Bar jetzt nur noch Târik, der Chef de Rang – und der gerade, von der Kugel des zweiten Angreifers getroffen, neben dem externen Aufzug zu Boden ging –, einer der Kellner, der in der Küche festsass, und Muchî Dhannûn. Auf den ging nun der Angreifer zu, der Sekunden zuvor Hischâm Fathi getötet und dabei ein solches Blutbad angerichtet hatte, dass dessen cremefarbener Anzug sich in das Büsserhemd eines Exekutierten verwandelt hatte. Schweigend richtete er seine Pistole auf Muchî, wartete noch das Zischen der letzten Kugel ab, die gerade in der Küche auf den dort gefangenen Kellner abgegeben wurde, und schoss dann dreimal gezielt auf Muchîs Knie. Schreiend und die Hände auf die Wunde gepresst, stürzte dieser zu Boden. Obwohl er mit Waffen handelte, hatte er noch nie etwas zum eigenen Schutz bei sich getragen. Danach herrschte Stille, abgesehen von Muchîs gellenden Schreien. Sein Angreifer trat an ihn heran, legte beide Hände um sein Gesicht und flüsterte ihm ein paar unhörbare Worte ins linke Ohr. Das brachte Muchî zum Schweigen, und man vernahm nur noch seinen keuchenden Atem. Er lauschte aufmerksam, bis der andere fertiggesprochen hatte, und bedachte ihn mit einem ungläubigen Blick. Dann rollte er auf den Rücken und schaute zur Zimmerdecke auf, die allmählich schwarz wurde. Schliesslich erstarben sämtliche Laute um ihn herum.

All dies hatte nicht länger als eine Minute gedauert. Die nacheinander aufblitzenden Schüsse warfen ihr Licht an die Decke der Bar, so dass es aussah, als würde hier eine Party gefeiert. Einer, der auf der Kasr-al-Nil-Brücke sass und dies sah, sagte zu seinem Begleiter: »Die Leute da oben machen sich ein schönes Leben, mein Freund.«

Die drei Mörder sammelten die Waffen der Opfer in eine schwarze Plastiktüte, bis auf Hischâm Fathis Colt, mit dem sie mehrmals auf die Wände schossen, bevor sie ihn seinem Besitzer wieder in die kalte Hand drückten. Ihre eigenen Waffen wischten sie eilig ab und legten sie neben die Hände der Toten, der Menschen, die kurz zuvor noch geatmet und geträumt hatten.

Einer schleifte den Kellner aus der Küche bis an die Bar und legte ihn vor die Tür des internen Aufzugs, damit sie offen blieb und so verhinderte, dass der Lift hinuntergerufen werden konnte. Dann nahmen sie Hischâms Handy an sich, warfen einen letzten Blick auf die Bar und verschwanden über die Nottreppe.

Aller Wahrscheinlichkeit nach war Achmad Kamâl nicht bei Bewusstsein, zumindest hatte er keinerlei Vorstellung von dem, was passiert war. Als er einen Teil der Geschehnisse fotografiert hatte, hatte ihn allein sein Überlebenswille getrieben. Nur Farben nahm er wahr, die schliesslich alle zu Rot wurden, sein Denken war vollständig abgeschaltet. An die Balkonwand gelehnt, neben den Einschusslöchern und den Blutspritzern an der Scheibe, die zähflüssig herabzurinnen begannen, versuchte er aufzustehen. Hischâm Fathis Hand geriet in sein Blickfeld. Einer der Finger zuckte noch durch die in den Nerven verbliebene Elektrizität, als wolle er Morsezeichen geben. Nichts war zu hören als Achmads eigene Atemzüge. Seine Linke begann heftig zu zittern, und seine Herzschläge gerieten ausser Kontrolle. Eine oder zwei Minuten vergingen, bis er sich wieder einigermassen in der Gewalt hatte und an die Scheibe treten konnte. Er richtete das Kameraobjektiv nach unten, machte schnell eine Aufnahme, zog dann seine Hand wieder zurück und blickte auf das Display. Er sah nur einen umgestürzten Stuhl und einen Teil von Hischâm Fathis Körper. Erneut versuchte er es, diesmal mit etwas erweitertem Bildwinkel, um mehr Details einzufangen. Er hielt die Kamera vor die Scheibe, machte eine Aufnahme, zog die Hand wieder zurück, blickte auf das Display und sah nur Chaos. Wenigstens aber konnte er erkennen, dass alles zur Ruhe gekommen war. Vorsichtig öffnete er nun die Balkontür und schob langsam den Vorhang zurück. Er bemerkte, dass der Leichnam von Muchî Dhannûns Sekretär Âsim al-Sîssi ihm den Weg versperrte. Das Handy hielt er noch in der Hand, und seinen Anzug schmückten drei rote Flecken. Vorsichtig arbeitete Achmad sich bis zur Bar vor. Zwischen den Beinen des Klaviers sah er seinen Freund liegen. Auf dem Weg zu ihm erschauerte er, aber der Anblick war so schrecklich, dass er beim Näherkommen die Augen abwenden musste. Die Wohltat des Weinens jedoch blieb ihm versagt. Bemüht, seinen Atem unter Kontrolle zu halten, stolperte er davon. Dabei übersah er Muchî Dhannûn, der viel Blut verloren hatte und bewusstlos war. Er ging zum externen Aufzug, den der Leichnam, der davor Wache hielt, blockierte, zog ihn beiseite und wollte schon hinein. Aber dann trat er noch einmal zurück, um eine Weitwinkelaufnahme von der Bar zu machen. Erst danach betätigte er den Knopf, damit die Tür des Lifts sich öffnete. Glücklicherweise war er leer. Über die Leiche hinweg sprang Achmad hinein und drückte auf LL für Lobby. Als sein Blick auf ein rotes Kästchen mit der englischen Aufschrift »Alarm« fiel, unter dem stand: »Scheibe im Brandfall einschlagen«, hielt er den Aufzug noch einen Moment auf, indem er seinen Fuss in die Tür klemmte. Mit dem Ellenbogen zertrümmerte er das Glas, und der laute, intermittierende Ton einer Sirene brachte alles zum Vibrieren. Auch die Sprinkleranlage in der Decke schaltete sich ein. Der Aufzug schluckte ihn, sank mit ihm hinab, und genauso sackte ihm das Blut in die Füsse. Er nahm die Speicherkarte aus der Kamera, zog sein Hosenbein hoch und steckte sie sich in die rechte Socke.

Auf halbem Weg abwärts drückte er auf den Knopf mit der Aufschrift »Restaurant«, um den Lift im dritten Stock zum Halten zu bringen. Dort stieg er aus und ging durch das libanesische Restaurant hindurch weiter zur Treppe. Schliesslich trat er aus dem Hotel und schmuggelte sich in die Menge der herandrängenden Passanten. Die Sirenen der Feuerwehrautos kamen näher, und ihre roten Lichter streiften die Gesichter all derer, die stehen geblieben waren und sich suchend nach einem Brand oder einem Unfall umsahen, der spannend genug war, um später im Café davon erzählen zu können.