19
Sie lag inmitten ruhiger Strassen, umgeben von hohen Bäumen: die Fakultät der schönen Künste, das hübsche Herz Samâliks. Es war neun Uhr vierzig am Morgen.
Die Minibushaltestelle war nicht weit entfernt. Achmad stieg aus, mit der Kameratasche und einer echt aussehenden Sonnenbrille ausgestattet. Die hatte er mal bei Muhammad Asfûra gekauft, einem Kommilitonen von der Handelsfakultät, dem Sohn des grössten Importeurs chinesischer Sonnenbrillen in Ägypten. Zwanzig Pfund hatte er dafür bezahlt, und er trug sie nur zu besonderen Anlässen.
Ebenso wenig hatte er das schwarze Hemd vergessen anzuziehen, das dem sehr ähnlich sah, das Amr Diâb im Videoclip zu Zwei Monde trug, und das gefälschte Hugo-Parfum hatte er auch aufgetragen. Als er sich der Fakultät näherte, zog er ein Papiertaschentuch heraus, wischte damit über seine glänzenden schwarzen Schuhe und vergewisserte sich, dass sein Haar sich an die vereinbarte Richtung hielt. Ungewöhnlich aufgeregt passierte er das Tor, nachdem er die Sicherheitsleute gefragt hatte, wo der Kurs »Entwicklung der künstlerischen Fähigkeiten« für Kinder abgehalten werde.
»Gehen Sie geradeaus, dann links unter der Pergola durch!«
Er ging so schnell, wie sein Herz schlug, bis er sie von weitem erblickte. Sie sass wie eine Meerjungfrau auf dem Boden, die eine Hand aufgestützt, in der anderen einen dicken Pinsel, mit dem sie dem neben ihr hockenden kleinen Mädchen etwas auf eine weisse Pappe malte. Inmitten von fünfzehn anderen Mädchen und Jungen schäkerte Ghâda mit dem Kind. Achmad konnte nicht lange widerstehen, holte die Kamera heraus und richtete sie von weitem auf sie. Er wartete, bis sie lächelte, und stahl sich einen Moment. Mehrere Momente.
Er stellte die Tasche auf den Boden und drückte auf den Wiedergabeknopf am Kameradisplay. Aber was er da sah, hatte mit dem, was er gerade fotografiert hatte, nichts zu tun. Es war eine Abfolge von Aufnahmen, ähnlich einem Videoband, von Hussâm – Hussâm Munîr, seinem Freund! Seine allerletzten Sekunden, bevor ihn sein Schicksal ereilte, aufgenommen aus der Balkonecke, wo Achmad sich versteckt hatte, durch die Fensterscheibe der Bar Vertigo. Auf der Fotoserie starrte Hussâm in das Kameraobjektiv und öffnete von Bild zu Bild den Mund ein Stück weiter zu einem stummen Schrei. Achmad überfiel ein heftiger Schauder, seine Haut sah bald aus wie die eines gerupften Huhns. Nervös betätigte er den Wiedergabeknopf. Immer mehr Bilder folgten, eins nach dem anderen, bis Hussâm zu Boden fiel und im Spiegel eine Reflexion zu sehen war. Das Bild des Mörders. Ängstlich wandte sich das Objektiv ab und machte drei Aufnahmen vom Nil. Da war jemand. Eine elegante Gestalt, mit dem Rücken zum Fluss an die Brüstung gelehnt. Lächelnd rauchte der Mann eine Zigarre. An der Hand trug er einen Ring, in den ein G eingraviert war. Er öffnete seinen Mund. Er sagte etwas. Ein Wort …
Achmad hörte, wie sich etwas laut an seinem Ohr vorbeibewegte.
Bremsenquietschen.
Es war ein Auto, das an dem Minibus vorbeiraste, in dem Achmad noch immer sass, wie er bemerkte, als er den Kopf hob. Eine Minute verging, bevor ihm klarwurde, dass er eingenickt war, den Kopf auf sein Handgelenk gelegt, das er an die Rücklehne des Vordersitzes gestützt hatte, die Kamera im Schoss. Er war noch immer unterwegs nach Samâlik zu seinem Treffen mit Ghâda. Ein seltsames Schweregefühl hatte ihn für ein paar Momente mit seinen Gedanken abschweifen lassen, und das war genug gewesen, ihn diese sonderbaren Visionen sehen zu lassen. Seine Stirn war rot, zwei Streifen und ein Kreis zeichneten sich darauf ab, weil sein Kopf auf dem Hemdärmel und dem Manschettenknopf gelegen hatte. Er musste länger als eine halbe Stunde in dieser Position verharrt haben und war völlig ausser Atem. Schliesslich setzte er seine Brille ab, putzte sie und rief sich dabei die Aufnahmen ins Gedächtnis zurück, die er in der Kamera betrachtet hatte. Er sah mitgenommen aus. Hussâms Gesicht, und dann noch dieser Teufel, der ihn anlächelte! Er versuchte sich zu erinnern. Irgendetwas hatte er zu ihm gesagt, irgendein Wort … Es fiel ihm nicht ein. Er bat Gott um Hilfe gegen den Teufel und rezitierte den Thronvers aus dem Koran.
Der Minibus war an der Endstation angelangt, der Abu-al-Fida-Strasse (benannt nach dem Kampfnamen Mustafa Kâmils36 zur Zeit der Unabhängigkeitsbewegung). Achmad ging zu Fuss weiter, bemüht, sich von dem Traum frei zu machen, der eine ähnliche Wirkung auf ihn hatte wie eine Betäubungsspritze beim Zahnarzt. Da trat er neben der Bordsteinkante in eine kleine Wasserpfütze. Er blieb stehen und wischte seine Schuhe ab, als wäre er wieder in seinem Traum. Dieselbe Szene, wie ein Film, der ein zweites Mal vor ihm ablief.
Er sah auf seine Uhr. Es war zehn. Also ging er ein bisschen schneller, so dass er noch rechtzeitig in der Fakultät ankam.
»Guten Morgen. Der Kurs ›Fähigkeiten der künstlerischen Entwicklung‹?«
»Sie meinen ›Förderung der künstlerischen Fähigkeiten‹?«, fragte der Wachmann zurück, der Leute wie ihn schon bis zum Überdruss kannte.
»Ja, den«, antwortete Achmad.
Der Wachmann machte ihm ein Zeichen, das so viel bedeutete wie: Verschwinde von hier, zur Hölle mit dir und denen, die dich geschickt haben!, sagte aber: »Drinnen, auf der linken Seite, bitte. Unter der Pergola.«
Achmad dankte ihm und ging eilig weiter, bevor er ihm eine Kugel in den Kopf jagen oder Ähnliches antun konnte.
Es war genau so, wie er es in seiner Vision gesehen hatte. Um Ghâda herum sassen die Kinder, und sie malte ihnen etwas, das er von seiner Position aus nicht erkennen konnte. Sie lachten und machten Zeichen mit den Händen, ähnlich der Gebärdensprache. Äusserst still waren die Bewegungen und selbst das Herumtoben. Eine hübsche Szene aus einem Stummfilm. Und Ghâda gebrauchte den Kindern gegenüber die gleichen Gebärden wie diese. Sie bemerkte ihn nicht, als er die Kamera herausholte und das Objektiv auf sie richtete. Und so fotografierte er sie, wie sie lachte, wie sie malte, mit der Hand Zeichen gab. Sie wirkte professionell. Die Kinder drängten sich um sie. Jedes von ihnen zeigte ihr seine Malerei, damit sie ihm weitere Anregungen geben konnte. All das fotografierte Achmad von weitem, dann nahm er die Kamera und ging auf sie zu.
Als er sie ansprach, nachdem er sich mit der Hand über das Haar gefahren war, wandte sie ihm gerade den Rücken zu. »Ich wusste gar nicht, dass du die Gebärdensprache beherrschst.«
Sie gab keine Antwort. Sie war gerade damit beschäftigt, einem kleinen Mädchen, das neben ihr stand, eine grosse gelbe Rose zu malen.
Achmad hüstelte gekünstelt und versuchte es noch einmal: »Man sieht, dass du eine echte Künstlerin bist.«
Hat jemand von Ihnen schon einmal einen Stein in einen Brunnen geworfen und danach keinerlei Geräusch gehört?
Das kleine Mädchen bemerkte, dass er sie sprechen wollte, und wies mit den Fingern hinter Ghâdas Schulter, um ihr zu verstehen zu geben, dass jemand hinter ihr stand.
Sie drehte sich zu ihm um. Wie froh sie aussah, als sie ihn erblickte! Sie lächelte und entblösste ihre Zähne, so regelmässig wie die Zinken eines Kamms. »Stehst du schon lange da?«, fragte sie.
Er schwieg kurz und sah ihr in die Augen. »Nun ja, fünf Minuten.«
»Was hältst du von diesem Ort?«
»Wundervoll! Ehrlich gesagt bin ich zum ersten Mal hier.«
»Das ist meine Fakultät, mein Herr.«
»Ich habe dich von weitem fotografiert. Schau mal!« Während er sich zur Kamera hinunterbückte, fragte er sie: »Aber wie hast du die Gebärdensprache gelernt?« Sie gab keine Antwort, und so hob er den Kopf und fragte weiter: »Willst du es mir nicht sagen? Ist das ein Berufsgeheimnis?«
»Was denn?«
Achmad wiederholte schnell seine Frage und griff dabei nach einem Tuch, um das Objektiv zu reinigen. »Ich habe dich nach der Gebärdensprache gefragt: Wie hast du sie gelernt?«
Sie machte ein Zeichen mit der Hand. »Ein Wort nach dem anderen, bitte!«
Achmad verstand nicht.
»Ich muss dich sehen, wenn du sprichst. Ich lese es dir von den Lippen ab.«
Plötzlich begriff Achmad. Sein Blick wanderte zu einem kleinen Schild, das an einer Staffelei hing: »Kurs zur Förderung der künstlerischen Fähigkeiten für gehörlose Kinder«.
Ghâda sah ihm direkt in die Augen. Sie wirkte stark und fest, als machte es ihr nichts aus, sollte er unangenehm berührt sein oder sich zurückziehen. Sie hatte noch immer das ruhige Lächeln auf den Lippen, während sie versuchte, jede noch so kleine Gefühlsregung in ihm wahrzunehmen, und wartete auf die weisse Fahne der Kapitulation.
Achmads Gesicht war die Antwort abzulesen, ein Lächeln, das ihr sagte: Es ist mir egal. Selbst wenn du von einem russischen T-62-Panzer mit Kanone überfahren worden wärst, würde ich dich nicht zurückweisen.
Er ging auf sie zu und sprach deutlich. »Ich habe dir sehr viel zu sagen.«
»Nach dem Kurs«, antwortete sie lächelnd.
Der Kurs dauerte etwa eineinhalb Stunden. Eine andere Welt, voll stiller Unschuld. Ghâda war dort seine Muse. Wohin immer er sich wandte, fand er ein Motiv. Alles an ihr hielt er fest, fotografierte die Kinder, die Bilder, ihre mit Farbe bespritzten Hände. Ghâdas Hände beim Malen, ihr Lächeln. Machte ein Foto von ihr, wie sie ein Mädchen kitzelte. Ihr Lachen war so unschuldig wie das der Kinder. Sie war wie ein weisses Blatt, nichts Böses war an ihr. Immer sah sie ihn mit lächelnden Augen an, dankbar, dass er da war. Sie brachte ihm ein paar Zeichen bei, damit er mit den Kindern kommunizieren konnte. Ein kleiner Frechdachs machte ihm einen roten Farbklecks auf die Nase. Zu seiner Verwunderung bemerkte er, dass er darüber lachte. Weil auch sie lachte. Unter anderen Umständen hätte er ihn für seine Tat lebendig begraben und ein Haus über ihm errichtet, wie man es in vorislamischer Zeit mit den Mädchen gemacht hatte, aber heute lachte er von Herzen.
Die eineinhalb Stunden vergingen so schnell wie zehn Minuten. Schliesslich suchte Ghâda die versprengten Farben und Pinsel zusammen, und die Eltern strömten herein, um ihre Sprösslinge wieder einzusammeln. Jedem Kind gab Ghâda, bevor es ging, noch einen Kuss. Sie unterhielt sich kurz mit ein paar Vätern und Müttern, die sehr vertraut mit ihr schienen, doch plötzlich stand sie vor ihm.
Ihm fiel nichts anderes ein, als zu fragen: »Magst du Eis?«
Das Café Cool lag in der Nähe der Fakultät, nur wenige Strassen entfernt. Sie gingen schweigend dorthin und fanden sich an einem Glastisch mit einer Blumenvase wieder, umgeben von Vanille-, Schokoladen- und Karamelldüften und vor sich zwei Eisbecher.
Achmad starrte die ganze Zeit auf den kleinen Erdbeerschnurrbart, der auf ihrer Oberlippe wuchs. Ghâda bemerkte seinen Blick, und er machte ihr ein Zeichen, sich den Mund abzuwischen.
Beschämt lächelte sie und fragte ihn dann: »Was hältst du von dem Kurs?«
»Glaub mir, ich habe mich noch nie so glücklich gefühlt wie heute.«
Ihre Augen verengten sich, als sie lächelte. »Kannst du mir dann deine Geschichte erzählen?«
»Ich heisse Achmad Kamâl, meine Dame, und wurde am 14. Februar 1977, am Valentinstag, in Sajjida Sainab geboren. Ich habe eine Schwester namens Âja. Von ihr werde ich dir später noch berichten.«
Sie hörte interessiert zu, während er ihr von seinem Leben erzählte, natürlich ohne die dunkle Seite zu erwähnen. Wenn er ihr dabei manch tragische Situationen, die er durchgemacht hatte, wie ein Komiker vor Augen führte, brachte er sie sehr zum Lachen. Wie die Geschichte, als er einmal im Bus auf der Rückfahrt von Hurghada Durchfall bekommen und keine Toilette zur Verfügung gehabt hatte. Wie ihm mal die Hose geplatzt war, als er sich in einem bekannten Restaurant zu einem Jungen bückte, um mit ihm zu spielen. Wie eine Taube unter allen Anwesenden ausgerechnet ihm die Ehre erwiesen hatte, etwas auf ihn fallen zu lassen. Und dann noch die Geschichte von seinem Onkel Atallah, dem Zazikiverkäufer, der so ähnlich aussah wie Al Pacino. Achmad zeigte ihr sogar ein Foto aus der Sekundarschulzeit, das er bei sich hatte, ein Anblick, der jedem nach ein paar Jahren absolut peinlich wäre: dieser gebüschartige Schnurrbart, die grosse Brille, die in dem totenschädelartigen Gesicht noch die halbe Wange bedeckte, die hochgeföhnte Haartolle, der wie ein orange Verkehrskegel vorstehende Adamsapfel und das weisse Winner-Shirt für einundzwanzig Pfund, bedruckt mit einem Bild von Iron Maiden oder Mariah Carey im Badeanzug.
Er erzählte Ghâda auch, wie er sie das erste Mal gesehen und dann ständig im Auge behalten hatte wie ein Kind ein Geschenk, das man ihm versprochen hat, um es zum Lernen zu motivieren. Ihre Wangen röteten sich, und das machte ihre Schönheit vollkommen. Schliesslich schwieg er, und ihre Augen glitten von seinen Lippen weiter über sein Gesicht.
»Ich hab dich zugetextet«, stellte Achmad fest.
»Nein, überhaupt nicht!«
»Dürfte ich denn auch etwas erfahren über dieses Mädchen, das mich so schwindelig macht? Aber falls dein Vater Minister sein sollte, gib mir bitte die Chance abzuhauen!«
»Mein Vater, Gott hab ihn selig …«
Ein neunzig Zentimeter breiter Butangaskocher fiel Achmad auf den Fuss. »Das tut mir leid«, sagte er.
»Er ist gestorben, als ich zwölf Jahre alt war. Meine Mutter arbeitet im Gesundheitsministerium, und ich habe eine Schwester, Mijâda, eine freche Kopie von mir. Meine Zwillingsschwester, wie du bemerkt hast.«
»O ja, das war ein sehr schwerer Tag! Ich war schon so weit gewesen aufzugeben.«
Ghâda lachte. »Ich fand ziemlich erstaunlich, was du da gemacht hast.«
»Mir blieb nichts anderes übrig, und ausserdem hatte ich Angst, du würdest mich blossstellen.«
»Deine Methode war richtig klassisch, old fashion.«
»Ergebensten Dank!«
»Das ist ein Kompliment.«
»Erzähl mir was von dir!«, bat Achmad.
»2003 habe ich mein Studium an der Kunstfakultät abgeschlossen. Ich war mit einem Cousin väterlicherseits verlobt. Aber nur für sechs Monate, wir kamen nicht miteinander aus. Er hätte mich nie verstanden, wir lebten in ganz verschiedenen Welten. Seit ich mit dem Studium fertig bin, gebe ich diese Kurse für Kinder. Das ist mir das Liebste in meinem Leben. Und ich arbeite in der Galerie. Ehrlich, ich versuche, immer etwas zu tun.«
»Du hast hinreissend ausgesehen mit ihnen.«
»Ich bin die Einzige, die sie versteht. Ich fühle mit ihnen, und das wissen sie. Wir sind sehr gute Freunde. Diese Sache« – sie zeigte auf ihr Ohr – »ist mir vor langer Zeit passiert, als ich noch klein war, ungefähr fünf …«
Achmad unterbrach sie: »Ich sehe es als Vorzug.«
Ghâda kam es so vor, als wolle er ihr bloss schmeicheln, und sie entgegnete sarkastisch: »Sicher, sicher.«
»Wirklich, ich meine das ernst. Erstens ist die Welt zu laut, und du hast eine Option, die Lautstärke zu kontrollieren. Du kannst sie leiser und lauter drehen, den Ton satter oder flacher klingen lassen, ganz wie es dir passt. Und ausserdem beherrschst du gleich zwei Fremdsprachen: Englisch und Gebärdensprache. Was willst du mehr? Damit kommst du überall durch.«
Ghâda lachte. »Das sage ich auch immer.«
»Weisst du, dass du sehr schön bist?«
Damit hatte er sie überrumpelt. Röte breitete sich über ihr Gesicht, und sie sagte nichts.
Damit ihre Wangen sich beruhigen konnten, versuchte Achmad, das Thema zu wechseln. »Haben dir die Fotos aus dem Studio gefallen?«
»Ja, sehr. Und meiner Mutter und Mijâda auch.«
In sanften Wellen plätscherte die Unterhaltung zwischen ihnen dahin. Sie erzählte ihm vieles über ihr Leben. Über ihre Einsamkeit, ihre Arbeit und ihre Träume, über ihr Sternzeichen Zwillinge, ihr Zuhause und ihren Vater und darüber, wie stark er sie beeinflusst hatte. Und Achmad berichtete ihr von seiner Schwester, von seinen wenigen Freunden, seiner Arbeit und seinen Lebensumständen. Sie sprachen viel, aber schliesslich versiegte die Unterhaltung.
»Sehe ich dich wieder?«, fragte Achmad.
»Nächste Woche. Aber dann geht der Kurs von drei bis fünf.«
»Dann um drei. Ghâda, bevor du gehst, wollte ich dir noch was sagen.«
Wortlos sah sie ihn an.
»Du musst dich zu nichts verpflichtet fühlen.«
Sie lächelte und nickte ihm zum Abschied zu, dann trennten sie sich auf ein baldiges Wiedersehen.
Ghâda nahm ein Taxi zur Kasr-al-Aini-Strasse, wo sie wohnte, und Achmad ging zu Fuss weiter, bis er sich schliesslich auf dem Tachrîrplatz wiederfand. Er war voller widersprüchlicher Empfindungen, einer Mischung aus Freude und Verzweiflung. Ein grosses Fragezeichen blinkte in seinem Kopf: Was jetzt? Ghâda? Seine Schwester? Seine finanzielle Lage? War seine Bekanntschaft mit Ghâda nur ein Versuch, einen Toten zum Leben zu erwecken? Es war eine Beziehung, deren Ende schon feststand, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Ein Film, in dem der Held schon in der ersten Szene stirbt. Eine sonderbare Schwere legte sich auf seine Brust. Dass er sich so schlecht fühlen würde, hatte er nicht erwartet. Er wusste, dass er nicht mehr besass als das Essen auf seinem Teller, dass er in unsicheren Verhältnissen lebte, ohne Rettungsanker. Eine Träne rollte ihm aus dem Auge und blieb am Brillenglas hängen, so dass die Strasse so verschwommen aussah, als sei er ein Fisch, der aus seinem Aquarium blickte.
Um seine Sorgen zu vergessen, drückte er das Telefon ans Ohr und wählte Alâas Nummer. Doch der nahm nicht ab, und Achmad legte wieder auf. Zwei Minuten später kam eine SMS: »In fünf Minuten rufe ich dich von einem anderen Apparat aus an.«
Zehn Minuten später kam ein Anruf von einer Festnetznummer. Alâa sprach mit gedämpfter Stimme. »Gut, dass du anrufst!«
»Was ist los?«, fragte Achmad. »Ist was passiert?«
»Hast du heute Zeitung gelesen?«
»Noch gar nicht. Warum denn?«
»Sie haben die Zeitung dichtgemacht. Eine gerichtliche Verfügung.«
»Die Freiheit?«
»Nein, die Freie Generation. Der Hundesohn hat seine Beziehungen. Ein Verleumdungsprozess in nur zwei Tagen? Das ist von ganz oben gekommen. Sie haben das Gebäude versiegelt und im Büro des Chefredakteurs alles konfisziert.«
»Und die Fotos?«
»Einen Grossteil haben sie in die Finger bekommen.«
»Warum rufst du mich von einem anderen Telefon aus an? Hast du einen Verdacht?«
»Der Chefredakteur der Freien Generation heisst Saîd Maamûn, nicht al-Schahât Mabrûk37.«
»Was soll das heissen?«
»Das, wovon dein Freund gesprochen hat: Noch vor der ersten Ohrfeige wird er reden.«
»Wo bist du jetzt? Kann ich dich treffen?«
»In den nächsten Tagen besser nicht, ich kann nicht garantieren, dass nichts passiert. Ich rufe dich an. Kontaktier mich bitte nicht!«
»Und falls was passiert, wie erfahre ich es dann?«
»Ich werde dich anrufen. Jetzt erst mal tschüss. Ach ja, Achmad, vergiss nicht den Geburtstag meines Vaters, sonst wird er sehr böse. Du musst zu ihm gehen. Und gib auch gut auf die Sachen acht, die du für ihn hast, in Ordnung?«
Achmad verstand, was Alâa meinte. »Natürlich. Ich denke dran. Ich denke dran, keine Sorge! Pass nur gut auf dich auf!«
»Grüss deinen dicken Freund von mir!«
»Schon geschehen. Tschüss!«
Achmad legte auf. Die rote Warnlampe in ihm begann zu blinken. Und die täuschte sich selten. Ihr blutrotes Licht breitete sich in ihm aus, und sie gab dabei einen an- und abschwellenden Warnton ab. Achmad versuchte, sie auszuschalten, leiser zu drehen, einzuschlagen. Doch es gelang ihm nicht. Sie heulte weiter, und seine Eingeweide erzitterten von diesem durchdringenden Ton, der ankündigte, dass etwas passieren würde. Etwas Grosses.