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Bevor es Abend wurde, war Achmad unterwegs nach Manjal, wo Omar, sein alter Schulfreund und Nachbar aus Sajjida Sainab, in einer Filiale von Kodak Express arbeitete. Er war einer dieser treuen Typen, die auf deiner Hochzeit so wild tanzen, dass sie in Schweiss ausbrechen, sich das Hemd aus der Hose reissen und überhaupt ihr Allerletztes geben, die sogar fähig sind, vor lauter Freude, dir behilflich sein zu können, sich selbst in die Luft zu sprengen!

Bei ihm, einem echten Computergenie mit abgeschlossenem Informatikstudium, suchte Achmad in guten wie in schweren Zeiten Zuflucht, um Kummer und Sorgen zu zerstreuen und sich mit dem Ton- und Bildarchiv auf seinem Rechner zu amüsieren, das hauptsächlich Pornofilme enthielt. Achmad erfreute sich seiner Gesellschaft und Liebenswürdigkeit, die ihn all seine Probleme vergessen liessen, er mochte seine Leibesfülle, seine Güte, seine merkwürdige Brille, sein Gesicht, das gar nicht in der Lage war, böse auszusehen, und sein lautes Lachen. Nach der üblichen Umarmung, bei der Achmad normalerweise eine seiner Rippen einbüsste und eine leichte Gehirnerschütterung sowie ein paar Prellungen und Schürfwunden davontrug, meldete sich Omar beim Betreiber des Studios ab und ging, nachdem beide in der Konditorei La Reine ihre gewohnte Eiswaffel erhalten hatten, mit Achmad, wie sie es schon als kleine Jungs getan hatten, zur Corniche, in die Abdalasîs-Al-Saûd-Strasse.

»Was sind dir da bloss wieder für Sachen passiert, du Chaot!«, rief Omar. »Und was war mit mir? Konntest du mich nicht anrufen?«

»Das ging alles viel zu schnell, Alter, wie in einem Film! Ich wär ja nicht mal auf die Idee gekommen, mich selbst anzurufen!«

»Und Âja? Aus und gut?«

»Du hast es ja gehört. Was kann ich da noch tun?«

»Du nichts. Aber ich könnte sie anrufen und ihr erklären, dass du sauer bist, oder vielleicht meine Mutter zu ihr schicken. Du weisst ja, wie sie an ihr hängt, sie hat sie ja praktisch aufgezogen.«

»Sie wird dich nicht empfangen, mein Lieber, und dass deine Mutter da mit reingezogen wird, möchte ich auch nicht. Dieses Tier dort könnte ihr ein Problem machen. Das ist ein gemeiner Kerl, ich kenne ihn und möchte ihn nicht verprügeln müssen.«

»Und was ist mit dem Job, den du da hast? Warum hast du nicht mit mir gesprochen, als du das Hotel und Salîm verlassen hast?«

»Nun ja … es ist halt so gekommen.«

»Egal, ich weiss einen Ausweg. Meister Wahîd, der Eigentümer, will eine zweite Niederlassung in einer Parallelstrasse eröffnen. Ich frag ihn mal wegen dir. Der Mann ist sehr anständig und schlägt einem nichts ab.«

»Und die Unterkunft? Wenn ich im Paris kündige, kann ich nicht in dem Zimmer bleiben.«

»Du kannst bei mir wohnen.«

»Zusammen mit deiner Mutter? Niemals!«

»Doch nicht bei mir zu Hause. Überlass das mir, ich regle das, darum brauchst du dich nicht zu kümmern.«

»Mach dir doch um mich keine Sorgen! Kümmer dich nur um dich selbst! Wie ist es, hast du nicht hier oder da was am Laufen?«

»Jede Menge Mädchen, mein Lieber. Aber die Frage ist, ob ich das überhaupt will.«

»Ob sie wollen, meinst du wohl!«

Sie lachten laut, und jeder schüttete dem anderen sein Herz aus, bis es schliesslich halb sieben geworden war.

»Genug jetzt damit«, meinte Achmad. »Steh auf, und kümmer dich um deine Arbeit! Ich bin auch schon spät dran. Ich muss zu Gûda, er kommt um diese Zeit.«

»Und dann auch noch dieser Gûda, das ist vielleicht ’ne Nummer! Wie schaffst du es bloss, nicht zu lachen, wenn du mit ihm zusammen bist?«

»Er ist doch ein guter Kerl, und er mag mich. Aber sag mal ehrlich, wenn ich dir Fotos auf einer CD bringe, kannst du sie mir ausdrucken, ohne dass jemand sie sieht?«

»Kommt ganz drauf an. Wenn hübsche Mädchen drauf sind, stehe ich zu deiner Verfügung.«

»Nein, im Ernst: Kannst du sie mir selbst ausdrucken?«

»Ich könnte dir sogar ihren Vater ausdrucken! Weisst du denn nicht, wen du vor dir hast, mein Lieber?«

»In Ordnung. Ich ruf dich an, bevor ich komme.«

Und sie gingen auseinander mit dem Versprechen, sich bald wiederzusehen.

Unterwegs kam Achmad an einem Zeitungsverkäufer vorbei, der seine Blätter in der Nähe des Fâtin-Hamâma-Kinos auf dem Gehsteig ausgebreitet hatte. Die Schlagzeile der Freiheit fiel ihm gleich ins Auge, und er kaufte ein Exemplar. In der Mitte war ein Foto von einem lächelnden Châlid Askar, die Augenbrauen in Demut schräg gestellt, um seinem Gesicht den Ausdruck grösster Frömmigkeit zu geben, als wollte er vor Hingebung weinen. In der grellroten Bildunterschrift hiess es: »Prediger Châlid Askar eröffnet das Feuer auf Amr Hâmid!« Dann folgte, in kleiner schwarzer Schrift, ein Zitat von Châlid Askar:

Amr Hâmid ist ein Prediger aus dem Fernkurs. Nicht ein einziges Wort aus dem Koran kennt er auswendig. Er wohnt in Fünfsternehotels, und trotzdem tritt er für die einfachen Leute ein. Als ich ihn mal mit der Wahrheit konfrontiert habe, hat er sich gleich umgedreht und ist weggelaufen. Aber jetzt ist es Zeit, ihn an unseren Flughäfen auf die schwarze Liste zu setzen.

Rechts auf der Seite befand sich ein grosses Foto der Schauspielerin Kamar, ein Kissen zwischen die nackten Beine gepresst und in einem Nachthemd, das eine Ehefrau nicht mal am Wochenende für ihren Mann anziehen würde. Unter dem Bild stand: »Der Turm der Lust. Kamars neuer Film.« Weiter hiess es:

Die Wahl des Regisseurs Akram Wahîd fiel auf die immer populärer werdende Schauspielerin Kamar. Sie soll eine sexuell frustierte Gattin darstellen, die sich, um ihr Verlangen zu stillen, an die Bewohner ihres Hauses hält. Ausserdem kam es zu intensiven Telefonaten zwischen Kamar und einer ausländischen Produktionsfirma, in denen man sie um ihre Mitwirkung an einem historischen Film über Saladin bat. Auf dem Foto macht Kamar, um sich fit zu halten, ihre Yogaübungen. Sie sagt, Ende dieses Monats erwarte sie gute Neuigkeiten …

Plötzlich raste ein Auto vorbei und riss Achmad, der, völlig in die Zeitung vertieft, die Strasse betreten hatte, beinahe um. Ausserdem deckte ihn der Mikrobusfahrer, der ihn fast zu Brei gefahren hatte, noch mit einer Flut von Schimpfwörtern ein, so dass Achmad erschrocken die Zeitung zusammenfaltete, sich besann und sich eilig auf den Weg zum Kasino Paris machte.

In dieser Nacht war es dort anders als sonst. Es war bereits nach Mitternacht, und mitten im Saal stand ein langer Tisch, an dem etwa fünfzehn Personen Platz hatten. Er war derart mit Speisen überladen, dass man die Hungersnot in Somalia damit hätte beenden können.

»Wer kommt denn heute, Onkel Gûda?«, fragte Achmad seinen Freund.

»Fathi al-Assâl, der grösste Lebensmittelhändler Ägyptens.«

»Der von der Assâl-Gruppe?«

»Genau der. Und weisst du, dass die Frau des Mannes, den du gleich siehst, mir mal nachgestellt hat? Sie war wie wild hinter mir her, Achmad. Und schön wie der junge Morgen, französisches Modell, Haare bis zum Hintern und ein Körper so weich wie Gelee. Aber ich wollte nicht, das musste schliesslich nicht sein, mein Freund. Jetzt ist sie älter geworden, ja, aber es ist noch alles dran an ihr. Die alten Hühner sind schliesslich die fettesten, wie man sagt, nicht so ausgemergelt wie die Jugend heutzutage. Weisst du noch, das Erdbeben von 92? Da waren wir zusammen in der Wohnung, und ich war mit ihr fast so weit, aber man fürchtet ja seinen Herrn, Achmad. ›Sie aber trug nach ihm Verlangen, und auch er hätte sie wohl begehrt, wäre nicht die Erleuchtung von seinem Herrn gekommen‹18, nicht wahr? Ausserdem hatten sie mich beim Geheimdienst gewarnt, dass ihr Mann nicht in Ordnung ist, seine Geschäfte nicht sauber sind. Du weisst ja, ich stehe unter dauernder Beobachtung. Dein Handy haben sie auch gleich überwacht, als du hierhergekommen bist. Aber ich hab ihnen gesagt, lasst das, der gehört zu mir! Du musst auf der Hut sein, wirklich, Achmad, mein Lieber!«

Dieser bemühte sich, seine Gesichtsmuskeln unter Kontrolle zu halten, um nicht laut loszulachen. »Ohne dich könnten wir hier gar nicht überleben, Gûda«, sagte er. »Aber was ist mit dem Mann, der heute kommt, warum ist der nicht in Ordnung?«

»Dieser Mann hat seine Hände überall drin. Er bestimmt die Preise, hat jede Menge Farmen, Vieh und Felder, ihm geht es sehr gut. Er handelt mit Fleisch und Geflügel, mit Eiern, Olivenöl, Zucker, Mehl, Milchprodukten. Das ist das eine. Ausserdem ist er für alle Süsswarenhersteller in Ägypten der grösste Honig- und Glukoseimporteur. Und im Geheimen sind noch ganz andere Dinge gelaufen. Er hat drei erwachsene Söhne, auch solche Giganten. Und alle kommen sie hierher. Jeder von ihnen hält eine Fabrik. Es ist ein Imperium, Achmad. Und zu allem Überfluss ist er noch ein Verwandter von Minister Abdalrahîm al-Assâl. Das heisst, er füttert uns alle ab.«

»Und was führt ihn hierher?«

»Dasselbe wie die anderen auch. Wie Schahrijâr, der König aus Tausendundeiner Nacht, hat er jeden Monat eine Neue. Hier macht er es sich schön, trinkt, hält Hof und bezahlt. Manchmal bringt er auch noch reiche Leute mit, um sein Business anzukurbeln, Geschäftsleute, Händler. Er hat viele Freunde, er kann nämlich gut reden, ist reich. Er schmeisst mit dem Geld nur so um sich.«

»Möchte er vielleicht fotografiert werden?«

»Das macht ihm nichts aus. Er behandelt alle mit Respekt, und man kann auch Fotos von ihm machen, aber tu das nur, wenn ich dabei bin! Nur von meiner Wenigkeit lässt er sich das gefallen, weil ich ihn schon so lange kenne.«

In dem Moment drehten sich alle Köpfe wie die Sonnenblumen auf einem Feld, denn Fathi al-Assâl betrat den Saal. In seinem Gefolge waren Freunde und Assistenten, die mit dem Proviant und einem Vorrat an Flaschen beladen waren. Im Vorbeigehen grüsste er diesen, klopfte jener auf die Schulter und winkte einem entfernt Sitzenden, den er nicht erreichen konnte, mit der Hand. Selbst der Folkloresänger Saad Siddîk senkte seine Stimme, unterbrach seine Darbietung und begrüsste ihn im Namen der Band ehrerbietig übers Mikrofon.

Fathi al-Assâl war gross und massig, hatte ein gewaltiges Doppelkinn und trug einen hellbeige Anzug und eine braune Krawatte. Infolge von Leberproblemen hatte er dunkle Verfärbungen auf der Stirn und unter den Augen. Den letzten Rest Haar an den Seiten des Kopfes hatte er gefärbt, so dass seine breite Glatze, die mit braunen Altersflecken übersät war, wie eine Wüstenstrasse wirkte. Am kleinen Finger der linken Hand, die eine sorgfältig gedrehte Zigarette hielt, trug er einen Ring.

Nach fünfminütigem Aufruhr kam der Saal wieder zur Ruhe. Alle widmeten sich dem, wofür sie gekommen waren, und erneut begannen die Gläser zu klirren.

Fathi al-Assâl sass in der Mitte des Tisches, neben ihm Nâdia, eine schöne Frau, dem Anschein nach in den Dreissigern und Kettenraucherin. Enge Freunde nannten sie Nâni. Ihr Teint war zart, und ihr weisses Fleisch quoll aus jeder Ritze ihres schwarzen Glitzerkleids. Nach der Art zu schliessen, wie er ihre Hand hielt und ihre Taille liebkoste, war sie seine Freundin. Zu beiden Seiten reihten sich ihre besten Freunde: Männer, Frauen und Gläser. Gelächter, Geschwätz und Gûda, der ungeniert fotografierte. Von Zeit zu Zeit gab Fathi ihm einen Wink, diese oder jene Leute abzulichten. Einen Film nach dem anderen übergab Gûda an Achmad, der weit entfernt stand und den Rest des Saals fotografierte. Er sollte die Filme entwickeln, um Gûda zu entlasten. Schliesslich zeigte die Uhr halb drei, und der Oberkellner erschien, gefolgt von zwei Männern, die eine grosse Schokoladentorte trugen. Darauf stand in Sahneschrift: »Happy birthday to you, Nâni. Ein gutes Jahr, du Schöne!« Bunte Partyknaller und Ballons, und Nâni blies die Kerzen aus, während Fathi eine dunkelblaue Schachtel herauszog, in der ein Diamanthalsband lag. Kaum hatte Nâni es erblickt, schrie sie auf und hopste wie ein kleines Mädchen herum, dann drehte sie Fathi den Rücken zu und hob ihr gewelltes Haar an, damit er ihr das Band um den üppigen marmorweissen Nacken legen konnte.

Nun begann Sallys Nummer, die in Fathi eine solche Unrast auslöste, als hätte er Nesselsucht, und er fing an Geldbündel abzusondern wie der Schah persönlich. Dabei trat er mit sich selbst in Wettstreit, behielt aber die Oberhand über sich und warf auf diese Weise dreissigtausend Pfund oder gar mehr auf die Bühne wie Kiesel ins Meer. Sally indessen tanzte für ihn, für sein Geld und für den Tisch.

Es war halb vier, als Galâl Mursi den Saal betrat. Er schien in Eile zu sein. Elegant und mit einem Lächeln auf den Lippen trug er eine in rotes Papier gehüllte Schachtel vor sich her, offenbar ein kostspieliges Geschenk, und steuerte direkt auf al-Assâls Tisch zu. Fathi stand auf und umarmte ihn wie eine Robbe ihr Kalb. Galâl küsste Nâni die Hand und überreichte ihr das Geschenk. Sie strahlte vor Freude. »Merci, Galâl. Wirklich très gentil.«

Kurz sprach er mit Fathi unter vier Augen, dann brachen sie beide in lautes Gelächter aus und verabschiedeten sich voneinander. Eilig, wie er gekommen war, verschwand Galâl wieder.

In dem Moment gab Gûda Achmad einen Wink, sich hinter ihn zu stellen. »Bleib hier stehen, und behalt Fathi al-Assâl im Auge. Wenn er dir ein Zeichen gibt, geh zu ihm hin, und wenn er nach mir fragt, sag ihm, dass ich nachsehe, ob die Bilder okay sind, in Ordnung? Ich bin im Labor.«

»In Ordnung, Pascha.«

Gûda ging zwei Schritte, dann fiel ihm noch etwas ein: »Fotografier nur, wenn er es dir sagt, Achmad!«

»Selbstverständlich, Onkel Gûda.«

Gûda verschwand, und Achmad kehrte in den Saal zurück. Lächelnd ging er von einem Tisch zum anderen, fotografierte hier, knipste da und dachte an das Telefongespräch mit Ghâda. Er freute sich sehr darauf, sie zu sehen und mit ihr zu sprechen. Wie ihr klares Gesicht ihn doch gefangen nahm! Sie ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Immer wenn er sich innerlich aus dem Strudel der Arbeit herauskämpfen konnte, stand sie ihm vor Augen. Schliesslich wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als er jemanden mit den Fingern auf einen Tisch klopfen hörte, der weit entfernt von dem Fathi al-Assâls stand. Dort, ganz am Ende des Saals, im Schatten, sass ein einzelner Mann.

Achmad setzte sein übliches Lächeln auf, ging zu dem Tisch hin und hielt seine Kamera hoch, verwundert, dass dieser Mann allein fotografiert werden wollte, denn weder rechts noch links sah er eine Frau auf sich zu- oder gar unter dem Tisch hervorkommen.

»Ein Foto, Pascha?«

Der Mund des Mannes war noch mit einer Zigarette beschäftigt, die er sich gerade anzündete, deshalb antwortete er erst mit Verspätung: »Wie heissen Sie?«

»Achmad Kamâl, Pascha.«

»Kommen Sie, Achmad, setzen Sie sich!«, sagte der Mann und wies auf einen leeren Stuhl neben sich.

Achmad zog sich den Stuhl heran, legte die Kamera auf dem Boden zwischen seinen Füssen ab und setzte sich neben diesen seltsamen Mann. Er fühlte sich an Szenen im Film Der Jakubijân-Bau19 erinnert, in denen der von Châlid al-Sâwi gespielte Chefredakteur den einfachen Soldaten verführt.

Der Mann öffnete eine Messingdose und nahm ein dünnes Blättchen Papier heraus, presste sorgfältig wie ein Chirurg den Tabak hinein und rollte das Ganze zusammen, dann reichte er die Zigarette Achmad.

Es war das erste Mal, dass Achmad eine Handgedrehte rauchte, abgesehen von ein paar Gelegenheiten, als er nach dem Motto »Probieren geht über Studieren« zusammen mit seinem korpulenten Freund Omar Joints aus Kräutern getestet hatte, möglicherweise mit Spinat gefüllt oder mit Taro und Mangold sowie ein bisschen Haschisch. Mit distanzierter Höflichkeit nahm er die Zigarette an, nachdem er zuvor zu den Angestellten hinübergeschaut hatte, ob nicht einer ihm vielleicht zuzwinkerte. »Danke, Pascha«, sagte er.

Der Mann liess sein goldenes Feuerzeug aufflackern. Achmad umschloss die Flamme mit der Hand, dabei fiel ihm ein Silberring auf, in den ein lateinisches G eingraviert war. Der Mann wirkte wie ein Ausländer, war Ende fünfzig und gutaussehend. Er erinnerte an den einzigartigen Griechen Yanni, der im ägyptischen Kino der fünfziger Jahre ein Monopol auf die Rolle des Barmanns gehabt hatte. Sauber und adrett, trug er einen Zweireiher, und obwohl das nicht mehr Mode war, stand er ihm so perfekt, als wäre es das neueste Modell. Mit seinen blauen Augen, dem dünnen Schnurrbart, dem schlanken Wuchs und seinen distinguierten grauen Schläfen sah er aus wie der Spule eines alten arabischen Films entflohen, wie ein Schulkamerad Stephan Rostis20 vielleicht. Sein Akzent allerdings war unverkennbar: Der Mann war Ägypter und zudem aus Schubra al-Chaima21.

»Verbringst du für eine Million Pfund die Nacht mit mir?«, fragte der Mann.

Achmad warf den Tisch um, boxte den Mann ein Dutzend Mal ins Gesicht, bis es ganz verändert aussah, griff sich dann eine Flasche vom Tisch und zerschmetterte sie über seinem Schädel. Anschliessend trat er ihn noch etwa fünfzigmal in den Bauch. »Nicht für alles Geld der Welt, du gemeiner Hundesohn!«, schrie er und machte dem Türsteher ein Zeichen: »Wirf ihn raus!« Die Umstehenden applaudierten enthusiastisch.

Um sich diesen Tumult vorzustellen, brauchte Achmad nicht mehr als zwei Sekunden. Danach brachte ihn eine Stimme auf den Boden der Realität zurück. »Woher kommen Sie, Achmad?« Das war ebender Mann, den er gerade in seiner Phantasie verprügelt hatte.

»Ich komme aus Sajjida Sainab, aus der Nähe der Kadaristrasse.«

»Sind Sie verheiratet?«

Diese Frage gefiel Achmad nicht. »Noch nicht«, antwortete er.

»Sie scheinen ein anständiger junger Mann zu sein.«

Auch an diesem Satz fand Achmad keinen Gefallen. »Warten Sie auf jemanden, der sich mit Ihnen fotografieren lassen soll, mein Herr?«, fragte er.

»Ich warte auf Sie.«

»Auf mich?«

Der Mann nickte und sagte, ohne ihn anzublicken: »Neulich habe ich gesehen, wie Sie Galâl Mursi fotografiert haben.«

Langsam rutschte ein roter Ziegelstein aus Hagg Abdallatîf Abu Tâgins Ziegelwerk im Dorf Tûch Tanbascha, Region Birkat al-Sab, Gouvernement Minufîja, durch Achmads Speiseröhre und blieb vor seinem Mageneingang stecken. Dicker Schweiss trat ihm auf die Stirn, und hinter seinem Ohr, das sich durch den Blutzufluss in ein Stück rohe Leber verwandelt hatte, wurde es brennend heiss.

Er versuchte, den Ziegelstein ganz hinunterzuschlucken, und würgte dann hervor: »Galâl Mursi? Ist das ein Gast? Ich kann mich nicht erinnern, ihn fotografiert zu haben.«

»Warum wollen Sie einen alten Mann so zum Narren halten, Achmad?«

Auf dem Ziegelstein kam zusätzlich noch ein Zementblock zu liegen.

»Ich bin neu hier und weiss nicht, von wem Sie sprechen.«

»Sie hatten die Kamera auf die Bar gelegt.«

Achmad versuchte, seinen rebellischen Darm unter Kontrolle zu bringen, der zu schreien begonnen hatte. »Wer sind Sie?«, fragte er. »Ich glaube nicht, dass ich Sie kenne.«

»Wer ich bin, spielt keine Rolle, Achmad.« Der Mann drückte seine Zigarette aus und legte mit einem seltsamen Lächeln die Beine übereinander. »Wissen Sie, weswegen ich an diesen Ort komme?«

Achmad schüttelte den Kopf.

»Ich komme hierher, um die Leute zu beobachten.«

Achmad starrte den Mann weiter wortlos an.

»Jeder hier hat eine Geschichte«, fuhr dieser fort. »Auch Sie haben eine.«

Einen Moment stellte Achmad sich vor, der Mann würde jetzt seine Brieftasche herausziehen und ihr einen Ausweis mit einem goldenen Vogel entnehmen, auf dem in eleganter Diwani-Schrift stand: »Generalmajor Soundso, Staatssicherheit«. Dann würde er wie in einem arabischen Film zu ihm sagen: »Kommen Sie bitte mit!«

Stattdessen fragte nun Achmad ihn: »Darf ich erfahren, wer Sie sind?«

»Wer ich bin, ist nicht die Frage. Es geht nur darum, dass ich schon länger hierherkomme, und Sie habe ich letzte Woche zum ersten Mal hier gesehen. Sie sind anders als die übrigen Leute hier, Achmad. Als ich beobachtete, dass Sie Galâl Mursi fotografierten, ging mir auf, dass an Ihnen etwas Besonderes ist. Da ist etwas zwischen Ihnen und ihm. Wenn Sie wissen möchten, wer ich bin, sagen Sie mir zuerst, warum Sie ihn fotografiert haben! Und leugnen Sie es nicht, ich bin mir ganz sicher, dass ich Sie gesehen habe.«

Der rote Ziegelstein rutschte weiter in Achmads Verdauungsapparat. Schliesslich sagte er: »Das war nur, weil ich seine Zeitung lese und ihn zum ersten Mal gesehen habe.«

»Und deshalb haben Sie Fotos von ihm gemacht?«

»Na ja, sicher. Ich hatte nichts Bestimmtes damit vor.«

»Sie haben einen Schock bekommen, als Sie ihn hier entdeckt haben, nicht wahr?«

»Nun ja … er ist das eine, seine Zeitung ist etwas anderes. Es ist eine Frage persönlicher Freiheit.«

»Das ist Ihre Meinung?«

»Nun ja …«

»Sie fürchten sich, zuzugeben, dass Sie wütend auf diesen Mann waren und ihn fotografiert haben, weil er verstrickt ist in …«

In diesem Moment begann der rote Ziegelstein heftig auf Achmads Blase und Dickdarm zu drücken. Schweiss trat ihm auf die Stirn, und er hatte das Gefühl, zweihundertzwanzig Volt führen ihm in die Glieder und liessen ihm die Haare auf Kopf und Händen zu Berge stehen. »Sie machen eine zu grosse Sache daraus«, sagte er dann. »All diese Fragen, nur weil ich einen Gast abgelichtet habe? Ich bin ja schliesslich Fotograf, das ist mein Job. Ausserdem habe ich die Bilder sofort wieder gelöscht.«

Innerlich japsend, wartete Achmad auf die Reaktion dieses Teufels, der, elegant und in seinen prächtigsten Kleidern, aus den Tiefen der Unterwelt zu ihm heraufgestiegen war, um ihn mit Fragen zu bombardieren, ohne ihm Zeit zum Nachdenken zu lassen.

Der Mann strich sich über das glattrasierte Kinn. »Warum sind Sie so besorgt?«, fragte er. »Ich plaudere doch nur ein wenig mit Ihnen. Trinken Sie etwas mit mir! Ich lade Sie ein.«

Achmad bemühte sich, ruhig zu wirken. »Darf ich nicht erst erfahren, wer Sie sind?«

Doch der Mann rief nur: »Schön, die Sally!« Er sah gerade zu ihr hinüber, sie hatte begonnen, ihre Hüften kreisen zu lassen und sich wie eine weisse Schlange zu winden.

Achmad war sprachlos. Er begriff, dass der Mann nicht über sich sprechen wollte.

»Haben Sie sie schon fotografiert, Achmad?«

»Aber sicher.«

»Allein?«

»Nein, mit den Gästen.«

»Haben Sie noch nicht davon geträumt, sie zu kriegen?«

Achmad geriet ausser sich. »Nein!«, rief er.

»All die Bilder, die Sie von ihr gemacht haben, und kein einziges davon sollten Sie aus eigenem Antrieb aufgenommen haben? Sie sind nicht aufrichtig, Achmad. Ein Fotograf wie Sie kann doch einen Körper von solcher Schönheit nicht übersehen.«

Achmad stand auf und bemühte sich, seine Zunge im Zaum zu halten: »Entschuldigen Sie mich, Pascha, ich muss an die Arbeit.«

Er streckte dem Mann die Hand hin, aber der ergriff sie nicht. Er grinste Achmad nur spöttisch an, zwinkerte ihm zu und sagte: »Wir werden uns wiedersehen.«

Achmad zog sich leise zurück. Voll widerstreitender Gedanken über dieses bejahrte Geschöpf, das ihm einen Hieb in die Rippen versetzt hatte, machte er sich davon, leise wie ein Wolf, der seine Beute verspeist hat. Er kehrte zurück in den Lärm des Saals und versuchte, den dunklen Schatten an dem Tisch ganz hinten, an dem dieser Geisteskranke sass, zu vergessen. Aber jedes Mal, wenn die vergangenen zehn Minuten seinem Gedächtnis entfallen waren, kehrten sie unvermittelt zurück wie ein Fleck, der nicht herausgehen will.

»Captain! Captain Fotomacher!«

Wie Achmad dieses Wort hasste! Der Ruf erscholl von Fathi al-Assâls Tisch.

»Kommen Sie, mein Lieber! Was ist los, sind Sie eingeschlafen?« Es kam von einem betrunkenen reichen Mann von mittlerer Statur, mit elegantem Schnurrbart und langer, gebogener Nase, der ihn in arrogantem Tonfall ansprach: »Kommen Sie her!«

Während Achmad auf den Tisch zuging, der voller Gläser und Platten stand, versuchte er, ruhig zu bleiben. Er kannte das Benehmen der Besucher, vor allem zu dieser Stunde, wenn die Masken der Ehrbarkeit fielen. Und so begnügte er sich damit, die Zähne zusammenzubeissen, so dass die Adern an seinen Schläfen wie im Zorn anschwollen. »Sie haben gerufen?«

»Sind Sie etwa schwerhörig?«, entgegnete der Mann mit säuerlichem Lächeln.

Achmad verzog das Gesicht und presste zwischen den Zähnen hervor: »Nein, Pascha, es ist nur so laut hier, ich habe Sie nicht gehört. Ich stehe zu Ihrer Verfügung. Ein Foto?«

Der Mann drehte sich zu ihm und gab ihm, zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt, ein kleines, zusammengefaltetes Stück Papier, das um einen Zwanzigpfundschein gewickelt war. Dabei grinste er und zwinkerte ihm zu. Achmad nahm das Papier und faltete es auseinander. Da packte der Mann seine Hand. »Hab ich Ihnen gesagt, Sie sollen es aufmachen?«

Achmad trat näher. »Was ist in diesem Papier?«, wollte er wissen. »Ich verstehe nicht.«

Der Mann winkte ihn mit dem Zeigefinger zu sich heran. »Sehen Sie den Tisch da auf der rechten Seite?« Mit den Alkoholschwaden aus seinem Mund hätte man einen Spiritusbrenner in Betrieb nehmen und Wasser für ein Glas Tee darauf kochen können. Achmad wandte sich um, aber der Mann presste ihm die Hand zusammen. »Sehen Sie nicht hin! Ich meine den Tisch rechts hinter Ihnen.«

Achmad sah ein lächelndes Mädchen, das neben zwei anderen sass. »Was ist damit?«, fragte er.

»Das Mädchen auf der linken Seite. Geben Sie ihr den Zettel!«

Zum ersten Mal im Leben verstand Achmad, wie sich die Kasr-al-Nil-Brücke fühlen musste. »Was steht denn auf diesem Papier? Darf ich das erfahren?«

»Zwei Leute in China haben Sie noch nicht gehört, könnten Sie bitte etwas lauter sprechen!«, antwortete ihm der Mann leise und in kalter Erregung. »Was soll das, Freundchen? Ich sage Ihnen: Geben Sie. Dieses. Papier. Dem Mädchen. Dem dahinten in Schwarz. Gibt es da ein Problem? Was geht es Sie an, was auf dem Papier steht?«

Ohne noch länger zu zögern, faltete Achmad das Blatt auseinander: eine zehnstellige Nummer. Darunter stand: »Aktiviere Bluetooth!«, und noch weiter unten: »Habîb Amîn«.

Bemüht, keinen Sturm zu entfesseln, bog Achmad Habîb die Finger auseinander und drückte ihm das Papier wieder in die Hand. »Mit solchen Dingen habe ich nichts zu schaffen. Suchen Sie sich jemand anderen, der ihr das gibt!«, sagte er, drehte sich um und entfernte sich vom Tisch.

Habîb stand auf, Funken sprühten aus seinen Augen. »Nehmen Sie es, mein Freund! Oder arbeiten Sie etwa nicht mehr hier? Haben Sie gekündigt?«

Ein rotglühendes Stück Kohle wanderte durch Achmads Brust. »Ich habe noch gar nicht angefangen. Hat Ihnen jemand gesagt, ich sei ein Zuhälter?«

Habîbs Ton wurde schärfer: »Kommen Sie her, nehmen Sie es! Wie reden Sie denn mit mir?«

»Wie mit allen Leuten. Lassen Sie es gut sein, Sie machen sich zum Narren!«

Köpfe drehten sich in ihre Richtung, und zwei, drei standen vom Tisch auf, als Erster Fathi al-Assâl.

Habîb zerschmetterte ein Glas auf dem Boden. »Du Tier, du Hurensohn, weisst du nicht, mit wem du sprichst?«

Die Nerven in Achmads linker Hand zuckten. »Sie beschimpfen mich, dabei bin ich sauberer als Sie und auch als Ihre Eltern!«

Habîb ging auf ihn zu, die anderen Gäste vom Tisch umringten ihn. »Du bist ein Rowdy, ich lass dich noch heute einsperren!«

Achmad verlor die Kontrolle über seine Nerven, und seine linke Hand begann zu zittern. »Wen lassen Sie einsperren? Denken Sie, damit kommen Sie durch?«

Jetzt kam Fathi al-Assâl auf Achmad zu, zog ihn an der Hand und sagte: »Was ist los, mein Lieber? Benehmen Sie sich gefälligst!«

Erregt befreite Achmad seine Hand aus der Umklammerung. In dem Moment kam der Oberkellner, packte ihn an der Schulter und sagte zu Fathi al-Assâl: »Was ist los, Pascha, alles gut? Stört Sie jemand?«

»Der Kerl da ist ein Rowdy!«, rief Habîb und griff nach seinem Handy. »Der verbringt die Nacht auf dem Polizeirevier.«

»Das wird er tun«, entgegnete der Oberkellner. »Aber könnten wir draussen darüber sprechen?«

»Aber Herr Oberkellner, dieser Mann wollte mich als Zuhälter benutzen. Finden Sie das etwa in Ordnung?«, warf Achmad ein.

»Können Sie denn gar nicht aufhören?«, sagte Fathi.

»Das ist Abschaum!«, schrie Habîb. »Der wird mich schon noch kennenlernen!«

»Ich bin Abschaum, Mistkerl?«

Der Oberkellner versetzte Achmad einen Stoss gegen die Brust. »Was ist los mit dir? Weisst du nicht, wer der Pascha ist? Raus mit dir, und warte dort auf mich!«

Als der Türsteher erschien und auf die Quelle des Tumults zuging, hörte die Band zu spielen auf, und Sally zog sich wütend zurück, um den Streit durch den Vorhang zu verfolgen.

Fathi al-Assâl richtete nun seine Worte an den Oberkellner: »Rufen Sie mir den Manager, los! Ich werde nicht zusehen, wie solch ein Esel unter Ihren Angestellten meine Gäste beschimpft.«

Achmad zog das Kinn ein, ein elektrischer Schlag schoss ihm in die Knie, und er fühlte ein Kribbeln im Gesicht. »Ich ein Esel? Sie sind einer!«, schrie er.

Habîb lief rot an. »Und ein Hundesohn und Mistkerl dazu!«, schrie er zurück und versetzte Achmad eine solch schallende Ohrfeige gegen die Schläfe, dass seine Brille und alles, was von seiner Würde noch übrig war, in hohem Bogen davonflog. Ohne Gläser sah Achmad nur noch verschwommen. Es kam ihm vor, als kämpfe er im Wasser. Und er fühlte nicht einmal, wie seine Hand plötzlich und unwillkürlich vorschnellte und in Habîbs Gesicht zu landen versuchte. Der jedoch wich nach hinten aus, so dass der ungezielte Schlag Sajjid Kadari an der Hand traf. Unterdessen umschlang der andere Türsteher Achmads Taille. »He, beruhig dich doch! Komm mit raus, beruhig dich doch, mein Gott!«

Aber Achmad tobte, schrie und gestikulierte. »Du Hundesohn, wir sind noch nicht fertig miteinander! Beim heiligen Koran, dir werd ich’s zeigen!«

Triumphierend grinste Habîb ihn an. »Ab zu Mami, mein Schätzchen! Pass auf, dass ich dich nicht doch noch anrufe und dich fertigmache!«

»Du mich fertigmachen, du Abschaum!«

Gûda kam zur Tür herein. »Was ist los, Achmad?«

»Lass mich, Onkel Gûda! Dieser Mistkerl wollte mich zu seinem Zuhälter machen, und als ich abgelehnt habe, bekam ich eine Ohrfeige! Einen Schlag ins Gesicht, Onkel Gûda!«

»Nun komm erst mal mit nach draussen! Ruhig, ganz ruhig!« Gûda bückte sich, um die Brille aufzuheben, aus der gerade das rechte Glas herausgefallen war.

Habîb hatte sich wieder hingesetzt und seine Zigarette beiseitegelegt. Nun begann er mit erhobenen Händen Sallys Band zu applaudieren, damit sie noch einmal anfing. Währenddessen beugte sich der Oberkellner über ihn und redete ihm gut zu: »Er ist noch neu hier, Pascha. Überlassen Sie das mir! Das ist ein armer Junge, er ist die Arbeit noch nicht gewohnt. … Wie Sie wünschen, ich werde ihm den Kopf zurechtrücken, auch wenn er eine Waise ist, bei Gott! Bei der Gelegenheit, Pascha, das Mädchen dort hat nach Ihnen gefragt. Soll ich ihr etwas ausrichten? … Selbstverständlich. Man wird sie bestimmt nicht lange überreden müssen hierherzukommen, Pascha, wirklich! Aber beruhigen Sie Fathi Bey, wir wollen nicht, dass er heute schlechte Laune hat, ausgerechnet an Nâni Hanims Geburtstag.«

»Bringen Sie mir den Manager!«, schrie Fathi al-Assâl.

Sofort bog der Oberkellner um den Tisch, stellte sich vor ihn und sagte: »Das ist doch nicht nötig, Pascha! Dem Jungen werden Manieren beigebracht, und wir ziehen ihm was vom Lohn ab, und wenn Sie möchten, dann fliegt er. Nur vergessen Sie ihn, und überlassen Sie die Sache mir! Sie sollten sich beruhigen, Pascha, das Programm heute hat ja noch gar nicht begonnen. Übrigens hat Sally Ihnen ein Geschenk für Madame Nâni mitgebracht.« Er zwinkerte Sally zu, gab dann der Band ein Zeichen, und die Musik begann erneut.

Fathi al-Assâl wandte den Kopf ab. »Kennen Sie Habîb Amîn nicht? Wissen Sie, wessen Sohn er ist? Sein Vater könnte mit einem einzigen Anruf die ganze Pyramidenstrasse dichtmachen, das Kasino inbegriffen!«

»Habîb Bey braucht nicht vorgestellt zu werden, Pascha.«

»Ist es denn die Möglichkeit, dass mein Gast hier beschimpft wird? Mein Gast! Beschimpft! Und von wem? Von einem dahergelaufenen Fotomacher! Arbeitet der Kerl bei Gûda? Wo steckt Gûda überhaupt? Jedes Mal kassiert er einen Fünfziger oder Hunderter, zusätzlich zum Preis für die Fotos, und am Ende behandelt einer seiner Nichtsnutze uns wie Dreck. Mit Ihrem Manager hab ich noch ein Hühnchen zu rupfen!«

»Überlassen Sie das nur mir, Pascha!«, entgegnete der Oberkellner. »Sie bedeuten uns allen hier sehr viel. Stellen Sie mich bitte nicht bloss! Habîb Bey bekommt alles, was er möchte, ihm soll es an nichts fehlen. Und seine Bestellungen gehen heute aufs Haus. Lassen Sie es gut sein, mein Herr, wirklich, Ihre Anwesenheit ist uns eine Ehre und …«

Doch Fathi widmete sich unterdessen einem Gespräch mit Nâni und liess den Oberkellner absichtlich stehen, um ihn das ganze Ausmass seines Verdrusses über das Geschehene spüren zu lassen.

Dieser zog sich leise zurück und winkte einem der Kellner. »Lass alles stehen und liegen! Sie bekommen alles, was sie wünschen, verstanden?«

Fathi erhob sich, nahm einen Stuhl und setzte sich neben Habîb. »Was ist denn, mein Sonnenschein? Lass dir doch deine Laune nicht verderben!«

»Nein, das ist aber auch ein übler Typ. Nur Nâni zuliebe wollte ich ihm nicht so hart kommen. Nur weil sie Geburtstag hat.«

»Ich werde ihm schon die Ohren langziehen, aber nicht jetzt. Was ist denn überhaupt passiert?«

»Er sollte nur jemandem einen Zettel zustecken. Zwanzig Pfund habe ich ihm gegeben, aber damit war er nicht zufrieden. Anscheinend kriegt er den Hals nicht voll.«

»Mach dir doch nichts draus!«

»Aber dieser Abschaum hat mir die Laune verdorben.«

»Das kommt nur, weil diese Typen neidisch sind, die Hundesöhne. Und sie sehen, was du alles hast. Du weisst ja, wie das ist, prekäre Verhältnisse, nichts zu essen …«

»Ich wünschte, das Land würde von diesem Abschaum gesäubert, der uns daran hindert weiterzukommen. Eine Scheissgeneration!«

»Dieses Land wird nie sauber werden. Und alles, was sie abkriegen, verdienen sie auch. Sag mir, was hat eigentlich Scharîf Pascha wegen der Lizenzen und der anderen Sache unternommen?«

Habîb lachte. »In zwei Tagen kannst du diese Grundstücke als deine betrachten, einen Monat bevor sie zu Bauland werden. Warum machst du dir Sorgen? Betrachte die Genehmigungen als erteilt. Die andere Sache braucht noch ein bisschen. Aber in den nächsten Tagen gibt es eine grosse Kampagne gegen Nutrimental. Fernsehen und Zeitungen werden nicht stillhalten. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.«

»Was ist mit den Wahlen? Braucht dein Vater Stimmen?«

»In einigen Bezirken könnten wir vielleicht ein paar Stimmen von dir brauchen.«

»Ich stehe zur Verfügung.«

»Formalitäten, du weisst schon.«

Fathi blickte zu dem Tisch hinter Habîb. »Wo ist das Mädchen, mit dem du gesprochen hast?«, fragte er.

»Warum?«

»Weil dich da eine sehr auffällig anlächelt.«

Habîb drehte sich um. »Es ist die linke.«

Fathi machte ihr ein Zeichen herzukommen, stand auf und ging ihr den halben Weg entgegen. Freundlich legte er ihr den Arm um die Taille, brachte seinen Mund nahe an ihr Ohr und flüsterte: »Wie heisst du?«

»Hâla«, antwortete sie.

»Weisst du, was du tun sollst, Hâla?«

Verschmitzt biss sie sich auf die Lippen. »Was soll das heissen? Ich verstehe nicht.«

Fathi zog zehn Hundertpfundnoten hervor und stopfte sie ihr in die Handtasche. »Schau, ich möchte, dass du Habîb vergessen lässt, wie er heisst. Wenn du mit ihm fertig bist, kriegst du dasselbe noch mal, in Ordnung?«

Hâla lächelte, ohne noch etwas dazu zu sagen. Sie schloss ihre Handtasche, ging zu Habîb, der sie einlud, sich neben ihn zu setzen, und tat so, als unterhalte sie sich mit ihm. Nachdem Fathi auf diese Weise zwei Menschen in Sünde vereinigt hatte, kam er zu Nâni zurück.

»Was ist los?«, wollte sie wissen. »Was hast du gemacht?«

»Alles erledigt. Ich hab ihn wieder ein bisschen aufgemuntert.«

»Das war wirklich eine schreckliche Szene«, meinte sie. »Wie konnte dieser Kerl so etwas tun? Wirst du ihn so davonkommen lassen?«

»Ich will die Sache nicht an die grosse Glocke hängen, weil du heute Geburtstag hast. Aber später habe ich ein Gespräch mit dem Manager.«

»Ist Habîb nicht sauer?«

»Er ist ein bisschen aufgebracht, aber dieses Mädchen wird ihn schon wieder auf andere Gedanken bringen. Sie sieht klug aus und ist ein richtiges Betthäschen.«

»Und woher weisst du das?«, fragte Nâni zärtlich.

»Ich bin ein Experte. Ich brauche eine Frau nur anzusehen, und schon weiss ich alles über sie.«

»Und was hast du über mich gesagt, als du mich zum ersten Mal gesehen hast?«

»Ich habe gesagt, wenn mir dieses Pferdchen entkommt, sehe ich danach keine Frau mehr an.«

»Hast du das auch über deine Frau gesagt, als du sie gesehen hast?«

»Ach, das war das einzige Mal, dass man mich zum Narren gehalten hat.«

In dem Moment kam Gûda angerannt und beugte sich vor, um Fathi al-Assâl auf den Kopf zu küssen. »Es tut mir leid, Pascha«, rief er.

»Nein, Gûda, diesmal kommen Sie mir nicht so davon, Sie machen wohl Witze! Zu diesem Kerl werde ich nicht schweigen.«

»Bitte überlassen Sie das mir, Pascha! Ob Sie es glauben oder nicht, die Mutter dieses Jungen ist letzte Woche bei einem Feuer umgekommen.«

»Die Sittenpolizei hätte seine Mutter besser festgenommen! Weiss er denn nicht, mit wem er es zu tun hat? So was lasse ich mir nicht bieten, das wissen Sie, nicht von so einem dahergelaufenen Fotomacher.«

»Der Junge kennt sich nicht aus. Überlassen Sie ihn mir! Es tut mir leid. Er ist neu und noch nicht trocken hinter den Ohren. Sie werden ihn hier nicht noch einmal zu sehen bekommen, Pascha. Aber bitte beruhigen Sie Habîb Bey! Sie wissen ja gar nicht, was Sie mir bedeuten, mein Herr. Solche Liebe lässt sich nicht kaufen, Pascha …«

»Es reicht, es reicht, texten Sie mich nicht zu!«

»Gott segne Sie, Pascha. Ich schulde Ihnen einen Gefallen.«

Draussen hatten Hassan und Sajjid Achmad in ihre Mitte genommen und bemühten sich, ihn zu bändigen. Schliesslich kam Gûda heraus, legte den Arm um ihn und entfernte sich mit ihm vom Saal. »Was ist denn, Achmad? So beruhige dich doch.«

Weinend hielt Achmad sein Brillenglas in der Hand und versuchte, es wieder einzusetzen. »Du findest das also in Ordnung so?«

»Nein, natürlich nicht. Dies ist eine verdammte, gottlose Welt. Aber ich möchte, dass du dich beruhigst, damit wir reden können. Komm, wir machen einen kleinen Spaziergang. Ich bin fertig, ich gehe heute nicht noch mal zurück in den Saal.«

»Nein, geh du ruhig wieder rein, ich will alleine ein bisschen herumlaufen.«

»Ich lass dich auf keinen Fall allein. Zur Hölle mit der Arbeit! Bei Gott, Achmad, du bedeutest mir mehr als alles andere.« Gûda drückte ihm einen feuchten Kuss auf die Wange. »Aber trotzdem muss ich dir den Kopf waschen. Du weisst, dass diese Leute sehr reich sind und total aufgeblasen, und wenn man ihnen was abschlägt, wissen sie nicht, was sie tun. Du musst ruhig bleiben, Achmad. Unsere Arbeit ist schwer und erfordert diplomatisches Geschick. Ich weiss, er ist ein mieser Kerl, aber du musst Geduld haben. Schliesslich ist das unser Broterwerb.«

»Wie auch immer, aber nicht auf Kosten meiner Ehre, Onkel Gûda. Mein Leben lang hat mein Vater nicht die Hand gegen mich erhoben. Und zum Teufel mit dem Brot, das man sich auf diese Art erwirbt!«

»Ist ja gut, ihr jungen Leute habt eben den Krieg nicht erlebt und seid noch nicht ernsthaft erniedrigt worden. So wie ich 67, als ich gefangen genommen wurde … Ich hab dir doch davon erzählt? Ich hab dir erzählt, was sie mit uns gemacht haben. Bei Gott, die Hunde haben sie auf uns gehetzt und auf uns geschossen. Und um zu überleben, habe ich es ausgehalten, Achmad. Ausserdem haben ich und das ganze Kasino Fathi al-Assâl allerhand zu verdanken. Er ist ein sehr anständiger Mann, du kennst ihn nur noch nicht. Ein entzückender Mann ist das.«

Achmad war nicht in der Verfassung, sich die Erzählungen von Gûda im Wunderland anzuhören, vor allem nicht die Geschichte von der Herzkönigin und der Seifenblaseninsel. Er blickte zur Decke auf und stöhnte: »Ich bitte dich, Onkel Gûda, ich bin müde und brauche nicht …«

Wieder traten ihm Tränen in die Augen, von der ungewohnten Demütigung wurde ihm die Brust eng, und das Atmen fiel ihm schwer. Er dachte an das Sterben seines Vaters und seiner Mutter, an Âja, daran, wie Hussâm ihn zum letzten Mal angesehen hatte, er dachte an alles, was ihn traurig gemacht hatte, als wäre es erst eine Stunde zuvor passiert. Ghâda fiel ihm ein, und für einen Moment kam es ihm vor, als wäre sie bei der Szene im Kasino dabei gewesen, hätte gesehen, wie er gleichsam nackt dastand, und er schämte sich sogar für die Ausdrücke und Schimpfwörter, die er im Augenblick des Zorns gebraucht hatte, so als hätte sie es gehört. Als wären sie bekannt miteinander. In dem Moment spürte er, dass er sie sehr liebte. Er sehnte sich nach allem, was er verloren hatte, lief auf und ab, schrie und fluchte. Schliesslich aber wurde er leiser. Doch obwohl er still war, kam er nicht zur Ruhe.

Als er wieder zur Besinnung kam, sass er an einem Holztisch im Kuscharirestaurant al-Arîs, vor sich einen Wasserkrug aus Edelstahl, einen Teller Kuschari, eine Flasche Pfeffersauce – und Gûda.

»Sag ›Im Namen Gottes‹ und iss!«

»Ich hab keinen Appetit, Onkel Gûda.«

»Iss, mir zuliebe!«

»Ich kann nicht vergessen, was passiert ist. Noch nie im Leben hat jemand mich so gedemütigt. Ich komme aus einem guten Elternhaus, Onkel. Vergiss nicht: Nur um an einem Ort wie diesem zu arbeiten, bin ich ein billiger Fotomacher geworden.«

Achmad hatte das Gefühl, Gûda einen Stein ins Gesicht geworfen zu haben, vor allem als dieser ihn mit vorwurfsvollem Lächeln ansah.

»Ich hab’s nicht so gemeint, Onkel Gûda«, beschwichtigte er ihn deshalb. »Ich wollte sagen, dass ich eine gute Erziehung genossen habe, und mein Vater, Gott hab ihn selig, war ein Künstler. Er hat mich auf eine gute Schule geschickt, und ich habe einen Bachelor in Wirtschaft. Klar, das hat in diesem Land keinen Wert, aber was soll ich machen? Soll ich für hundertsiebzig Pfund arbeiten gehen? Und das Handwerk, das mein Vater mir beigebracht hat? Selbst meine Schwester hat keine Gnade mit mir, sie sagt, meine Arbeit sei Sünde und das ganze Geld sei sündig. Ich weiss, dass es sündig ist, aber woanders finde ich nicht mal einen Platz zum Schlafen. Und ist es nicht auch sündig, dass sie mich schneidet, seit ich das letzte Mal bei ihr war? Es ist ja nicht so, dass ich die Wahl gehabt und andere Jobs abgelehnt hätte. Ich bin total fertig, Onkel Gûda, richtig ausgelaugt. Dieser Mistkerl hat mir nicht bloss ins Gesicht geschlagen, er hat mich ins Herz getroffen. All meine schlechten Seiten hat er zum Vorschein gebracht. Wie soll ich da still sein?« Und wieder füllten sich seine Augen mit Tränen. »Ich werde diese Arbeit aufgeben. An einem solchen Ort kann ich nicht bleiben, ich will nicht mein ganzes Leben damit zubringen, Huren und Betrunkene zu fotografieren. Es tut mir leid, Onkel Gûda, aber das ist die Wahrheit. Du selbst kannst ihr bloss nicht ins Auge sehen. Wir fotografieren die falschen Leute am falschen Ort.«

»Ach, Achmad, über dieses Thema zu streiten bringt nichts.«

»Nein, Onkel Gûda, aber es geht um meine Würde.«

»Ich stimme dir zu, dass die Arbeit etwas Erniedrigendes hat, Achmad, aber sie ist unser Broterwerb, unser Leben!«

»Dein Leben, Onkel Gûda?«

»Ja, mein Leben, und ich schäme mich nicht dafür. Wenn mich jemand fragt, sage ich ihm, was und wo ich arbeite.«

»Das heisst, du bist zufrieden damit?«

»Gott sei gelobt, ja! Wer hat denn heute überhaupt Arbeit? Und ausserdem hab ich schon schlimmere Dinge erlebt und durchgehalten. Für das tägliche Brot, Achmad. Das hat mich die Zeit gelehrt.«

»Ich bin nicht wie du. Du hast dich daran gewöhnt. Du hast es akzeptiert und als Gnade angenommen. Ich sehe dich ja, wenn dich jemand anschreit: Du schweigst, du lachst, du tust, als mache es dir nichts aus. Aber ich bin nicht so, Onkel Gûda. Ich kann nicht so sein wie du.«

Bleischwere Worte waren das, selbst für den lockeren Gûda, der so etwas wie Verlegenheit normalerweise nicht kannte. Er begriff, dass Achmad recht hatte, dass er den Finger in die Wunde gelegt hatte. Aber er beschloss, seinen Standpunkt bis zum Schluss zu verteidigen: »Du verstehst nichts und wirst auch nichts verstehen. Unser Herr hat uns diese Leute aus einem bestimmten Grund geschickt, mein lieber Achmad. Wir beteiligen uns nicht an dem, was sie tun, wir fotografieren nur, wir schenken ihnen weder Alkohol ein, noch ziehen wir die Frauen für sie aus. Und ausserdem, haben wir denn irgendjemandem was getan? Was macht denn ein bisschen Nervosität oder schlechtes Benehmen? Das sind Betrunkene! Am Ende ziehen wir ihnen die Haut ab und kommen zu unserem Recht, oder nicht? Jeder Beruf hat seine schwierigen Seiten. Aber eure Generation ist verwöhnt. Ihr wisst nicht, dass das, was euch zuteilwird, eine Gnade ist. Im Vergleich zu früher sind die Tage heute Zucker. Krieg und Tod habt ihr nicht gesehen. Dankt Gott, dass es solche Leute gibt, die für uns sorgen und zu unserem Nutzen hierherkommen. Dieser Fathi al-Assâl hat mir mal fünfhundert Pfund gegeben, ohne dass ich auch nur ein einziges Foto von ihm gemacht hätte. Und dieser Habîb Amîn ist zwar ein bisschen hohl, aber ein anständiger Kerl, und er kann gut reden. Seinen Vater, Scharîf Amîn, kennst du ja. Ein grosses Tier, er wird von allen umworben, revanchiert sich aber bei niemandem. Und das ist auch sein gutes Recht. Soll er doch mit dem Silberlöffel im Mund geboren und hochnäsig sein, das müssen wir aushalten. Andere sitzen zu Hause, seit sie ihr Studium abgeschlossen haben, und finden keine Arbeit. Und ausserdem, Achmad, sind wir diesen Leuten und den Schwierigkeiten, die sie uns machen können, nicht gewachsen. Die haben sich nach ganz oben geboxt, und sie haben einen sehr, sehr langen Arm. Was also können wir tun? Ich weiss, dass deine Würde dir über alles geht, Achmad, aber sie sind es, die uns füttern. Um zu überleben, müssen wir nachgeben. Sajjid Darwîsch22 hat das mal besungen. Oder möchtest du lieber zu denen gehören, die zu Hause herumsitzen? Wach auf, öffne die Augen! Welcome to Egypt heisst dein Film.«

»Du meinst also, ich soll den Mund halten und Gott für die Gnade danken, die mir zuteilgeworden ist?«

»Nein, ich sage dir nur, es gibt viele Leute, die sich wünschten, in deiner Lage zu sein. Morgen hast du es vergessen und dich dran gewöhnt, dann siehst du das Ganze ein bisschen gelassener.«

»Das wird nicht passieren, Onkel Gûda. Du kannst dich ja selbst nicht sehen, wenn so ein Nichtsnutz von Gast dich anbrüllt. Hast du eigentlich nie das Gefühl, dass du das nicht verdienst? Möchtest du, dass deine Frau dich in so einer Lage sieht? Ich weiss nicht, warum du nicht siehst, was ich sehe. Als würden wir beide an verschiedenen Orten arbeiten!«

»Doch, ich sehe es, aber das Leben hat mich hart gemacht.«

»Hart oder stumm? Bist du denn glücklich über deine Situation? Darüber, von den Mistkerlen und Räubern erniedrigt zu werden, die unserer Stadtmatratze Sally täglich so viel Geld vor die Füsse werfen, wie du in deinem ganzen Leben verdienst?«

»Du hast recht. Aber was gedenkst du zu tun?«

»Ich mache nicht weiter.«

»Und wo willst du wohnen?«

»Wir werden sehen. Ich hab einen Freund, bei dem ich wohnen kann, bis sich etwas gefunden hat.«

Sie hatten das Restaurant verlassen und gingen schweigend zum Kasino zurück.

In einem letzten Versuch, Achmads Trotz zu bändigen, sagte Gûda: »Ich bin älter und habe in dieser Welt mehr gesehen als du. Du bist noch ein grüner Junge. Hör, was ich sage, weise nicht die Gnade zurück, die du in den Händen hältst, versuch zu vergessen, und beruhige dich! Das alles muss nicht sein. Wenn ich dir erzählen würde, was mir in meinem Leben alles passiert ist, wärst du fertig mit dieser Welt. Weisst du, einmal, während des Krieges, als ich noch im Geheimdienst war, da wollte so ein hochrangiger Offizier sich vor mir aufspielen. Ich liess ihn stehen und ging, weisst du, und zwei Tage später kam er und entschuldigte sich bei mir, nachdem ich solch einen Ärger mit ihm gehabt hatte. Er hatte nämlich erfahren, dass ich eng mit Nasser befreundet war. Und ausserdem weisst du auch nicht …«

Achmad ging in die Luft wie der Deckel eines Schnellkochtopfs. »Genug jetzt, Onkel Gûda!«, schrie er. »Du weisst ja nicht mehr, was du sagst. Du merkst gar nicht, dass alle um dich herum über dich lachen. Wach endlich auf aus der Welt, die du dir und uns zusammenspinnst! Komm wieder auf den Boden! Genug mit deinen Geschichten! Ich bin es satt, dass du dich in Phantasien flüchtest. Du bist nicht Raafat al-Haggân, Gûda. Gibt es denn gar nichts, was du noch nicht gemacht hast? Wenn du solch ein Held bist, warum arbeitest du dann hier und erniedrigst dich so? Der eine macht dich fertig, der andere hat Mitleid mit dir, als wärst du ein Bettler. Wünschst du dir nie, mit Respekt behandelt zu werden? Wünschst du dir nicht, die Leute würden nicht hinter deinem Rücken lachen und nur darauf warten, sich auf deine Kosten zu amüsieren? Die benutzen dich. Wach doch auf! Sie benutzen dich!«

So etwas hatte Achmad schon öfter gemacht. Mit seiner Schwester, seinem Vater, seiner Mutter und selbst seinen besten Freunden. Es war der grundlegende Charakterzug der im Zeichen des Wassermanns Geborenen: grosse Reizbarkeit, und kommt es zur Explosion, dann fegt sie jeden hinweg, der versucht, denjenigen zu beruhigen. Schon manches Mal hatte er solche Ausbrüche gehabt, gefolgt von heftiger Reue und Schuldgefühlen, die seine Wut und Empörung über den, den er gerade vor sich hatte, nur noch weiter anheizten.

Gûda liess den Kopf hängen. Er sprach nicht, schrie nicht, verteidigte sich nicht. So als hätte er nur darauf gewartet, dass jemand es ihm einmal offen ins Gesicht sagte: »Du bist ein Lügner.« Er wusste zwar, dass es so war, aber er begriff auch, dass er nicht das Gefühl haben musste, dass es so war. Er hatte sich eher selbst betrogen, als die anderen in die Irre zu führen. Lächelnd schüttelte den Kopf.

Aber das machte Achmad nur noch wütender. »Jetzt wirst auch du noch böse auf mich!«, rief er. »Ich weiss, dass meine Worte dich ärgern. Aber ich habe auch um dich Angst. Wenn du böse auf mich bist, hast du mich nicht verstanden. Ich hab mich für dich geschämt. Soll ich lieber mit den anderen über dich lachen? Ich hab es versucht, aber ich kann es nicht. Du bist wie ein Vater für mich.«

»Ich werde niemals böse auf dich sein. Auch du bist für mich der Sohn, den ich nie hatte.«

Sie waren vor dem Kasino angekommen.

»Es tut mir leid«, sagte Achmad. »Es tut mir wirklich leid, wenn ich dir gegenüber die Beherrschung verloren und Dinge gesagt habe, die nicht in Ordnung waren. Wenn ich ausraste, macht mich das blind. Nimm es mir bitte nicht übel!«

»Ich bin ja froh, dass es von dir gekommen ist. Wenn ich mir gewünscht hätte, dass jemand so mit mir spricht, hätte ich es mir nur von dir gewünscht, Achmad.«

»Ich hab dir unrecht getan.«

»Nichts passiert. Ich bin ja nicht böse. Los, komm mit!«

»Ich geh da jetzt nicht wieder rein.«

»Wo willst du denn um diese Uhrzeit noch hin?«

»Ich laufe noch ein bisschen herum. Ich brauche frische Luft, sonst kann ich nicht schlafen.«

»Ganz wie du möchtest. Ich werde mit dem Oberkellner sprechen und das Problem mit ihm regeln. Er ist ein anständiger Mann.«

»Das wird nichts ändern.«

»Nur bis wir eine Lösung gefunden haben oder jedenfalls eine Unterkunft für dich.«

Achmad fühlte, dass Gûda, was die Wohnung betraf, recht hatte, aber er schämte sich, zuzugeben, dass er ein paar Tage brauchen würde, um seine Dinge zu regeln, und so begnügte er sich mit einem Kopfnicken. Dann verschluckte ihn die Pyramidenstrasse, ohne dass er wusste, wohin seine Füsse ihn trugen. Wie ein Toter, der von seiner Bahre aus den Leichenträgern zurief: »Ihr Idioten!«