23

Zur selben Zeit hingen in Safwân al-Buhairis Büro dunkle Wolken aus Zigarettenrauch an der Decke, die von einem drohenden Gewitter kündeten. Die ganze Atmosphäre dort glich der Ruhe vor einem Sturm. Mit hochgekrempelten Ärmeln und schweissbedeckter Stirn sass Mustafa Ârif vor Safwân, der sich mehr oder weniger im gleichen Zustand befand.

»Kommen wir zum Thema Achmad Kamâl«, sagte Mustafa. »Anhand der Passregister haben wir alle Achmad Kamâls zusammengestellt, die Ägypten in den letzten beiden Monaten verlassen haben. Es sind neun Personen auf der Liste. Sechs von ihnen, deren Adressen wir kennen, haben wir kontrolliert und uns vergewissert, dass es von ihnen keiner ist: Es sind zwei Lehrer, ein Verschalungstechniker, ein Schweisser und zwei Fahrer. Bleiben drei, die mit einem Arbeitsvisum ausgereist sind, allerdings ohne Berufsangabe. Unser Problem ist, dass die Arbeitsagenturen für die Erstellung eines Visums eine Ausweisänderung zur Bedingung machen, wie Sie wissen. Und wegen des neuen Arbeitsgesetzes kommt es dabei auch zu einer Änderung der Adressen und persönlichen Daten. Ihre Anschriften haben wir. Auf zwei von ihnen passt die Beschreibung unseres Freundes: gleiches Alter, gleiche Umstände. Das Problem ist, dass wir keinen dreiteiligen Namen haben, sonst könnten wir die Suche eingrenzen – immer vorausgesetzt, dass sein Vater Kamâl heisst und keinen Mittelnamen hat. Morgen weiss ich mehr.«

»Hm, wenn Sie bis morgen nichts erreichen, rufe ich unsere Botschaft dort an.«

»Okay, mein Herr.«

»Und was ist mit der zweiten Zielperson, Alâa Gumaa?«, fragte Safwân weiter.

»Ein Redakteur der Freien Generation schätzt ihn offensichtlich besonders. Sie wissen ja, mein Herr, dass viele Leute kaum noch genug verdienen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Er sagte uns, dass Alâa in den letzten zwei Wochen mehrfach das Büro des Chefredakteurs aufgesucht hat und diese Artikel von ihm stammen. Seine Wohnung haben wir gefunden, mein Herr, und über sein Mobiltelefon konnten wir ihn orten. Er wohnt jetzt in einem Apartment an den Hilwângärten, gegenüber der Metrostation. Seit gestern Abend steht die Wohnung unter Beobachtung. Er lebt dort allein.«

»Wie sieht sein Tagesablauf aus?«

»Er geht morgens aus dem Haus und kommt erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück.«

»Morgen, gleich wenn er gegangen ist, wird die Wohnung durchsucht. Ich will diese Papiere morgen auf meinem Schreibtisch. Und niemand soll ihm folgen. Ich will nicht, dass er was spitzkriegt, bevor er aus dem Haus ist.«

»Soll die Durchsuchung sauber sein?«

»Das ist egal. Zum Nachdenken wird er nicht mehr kommen.«

»Und wenn wir nichts bei ihm finden?«

»Was soll das heissen, wenn wir nichts bei ihm finden?«

»Gut möglich, dass die Papiere nicht im Haus sind. In dem Fall wird er erkennen, dass jemand hinter ihm her ist. Ich meine, sollen wir ihn nicht mitbringen?«

Safwân schwieg einen Moment. »Wenn wir ihn hierherbringen, setzt der Kerl was in Gang, was wir nicht brauchen können. Man wird sagen, es hat eine Sicherheitslücke gegeben und wie wir bloss so lange warten konnten, bis all die Informationen durchgesickert sind. Der Pascha liquidiert seine Gegner physisch. Und vergessen Sie nicht das Foto von Târik! Sehr leicht könnte jemand ihn darauf erkennen. Tausende würden gern behilflich sein. Und Hunderttausende wollen sowohl meinen Kopf als auch Ihren. Und wir ständen ohne jede Rückendeckung da. Das Risiko gehe ich nicht ein.«

»Und was sollen wir Ihrer Meinung nach tun?«

»Ich denke, wir sollten das von Grund auf unterbinden. Die Informationen sind bis jetzt noch nicht publiziert. Das heisst, der Ball liegt noch immer in unserem Feld. Ich werde nicht warten, bis ich entdecke, dass ein oppositionelles Blatt mir mit einer Sensationsmeldung kommt, um die da oben gegen uns aufzuhetzen. Werden Sie ihn für mich los, still und ohne Aufsehen! Ein ganz normaler Unfall, an dem nichts Verdächtiges ist, und dann stellen wir die Ermittlungen ein. Durchsuchen Sie die Wohnung! Wenn Sie etwas finden, prima, wenn nicht, wissen Sie, was zu tun ist.«

»Sollen wir es nicht erst mal mit ihm versuchen? Zur Abschreckung, meine ich. Wir könnten ihn hier so ausquetschen, dass er die Namen seiner Eltern vergisst.«

»Und wenn er dann wieder draussen ist, wird er erst so richtig aktiv. Er wird nicht vergessen, was wir ihm angetan haben, im Gegenteil, das wird ihn nur noch tollkühner machen.«

»Wie Sie meinen, mein Herr.«

»Was ich meine, ist: morgen. Morgen passiert es! Und ich will nicht wieder so eine Sauerei wie damals in der Bar. Sie haben ja gesehen, nach mehr als einem Jahr fängt die Sache wieder an zu stinken. Schicken Sie diesmal jemanden, der was von seinem Job versteht.«

Mustafa erhob sich und packte die Papiere ein. »Gewiss, mein Herr. Ich halte Sie auf dem Laufenden.«

»Diesmal haben wir keinen Spielraum für Fehler oder Zufälle, Mustafa.«

»Natürlich nicht, mein Herr, natürlich nicht.«

Des Kalifen treuer Diener zog sich zurück, um sein scharfes Schwert in die Häuser der Barmakiden41 zu tragen.

Nach einer anstrengenden Nacht stand Achmad auf. Sein Rücken war schmerzhaft verspannt, an seinen Füssen hingen Eisengewichte, und ein Auge kniff er zu, unfähig, in den Sonnenstrahl zu blicken, der wie ein Messer zum Fenster hereinstach und den Raum zweiteilte. Um die vergangene Nacht von sich abzuwaschen, schleppte Achmad sich ins Bad. Die schwarzen Schatten unter seinen Augen waren wie Teerlachen, sein Haar war zerzaust wie der Besen eines Strassenfegers und seine Kehle wie mit Gummiarabikum verklebt. Er war nicht in der Stimmung, Ghâda zu treffen, doch ihm blieb keine Wahl.

Nach einer kalten Dusche – einen Boiler gab es nicht – zwängte er sich in die Kleider, blickte auf seine Uhr und stellte fest, dass es Viertel vor zwei war. Er beschloss, bis zwei zu warten, dann wäre er immer noch pünktlich, setzte sich an den Computer und öffnete einen Ordner mit Fotos von Ghâda und den Kindern. In ihrer Unschuld wirkte sie wie eins von ihnen. Für fünf Minuten versank er in ihrem Gesicht.

Zum ungefähr neunten Mal scrollte er durch diese Bilder, dann öffnete er einen anderen Ordner, der mit »Alâa« beschriftet war. Als Erstes kam das Foto, das Omar bei ihrem ersten Treffen aufgenommen hatte. Dann die skandalöse Version, die er davon angefertigt hatte. »So ein Teufelskerl!«, murmelte Achmad, was sein üblicher Ausdruck für Omars Fähigkeiten auf dem Gebiet der Fotomontage war.

Erneut sah Achmad auf die Uhr: Nun war es zwei. Er schaltete den Computer aus und machte sich auf den Weg nach Samâlik.

In der »schönen Fakultät« sass Ghâda und malte eine Welt aus Farben, die an die Geschichten von Alice im Wunderland erinnerte. Sie machte Zeichen und Gebärden, die nur die Kinder verstanden. Ein stilles Gespräch, bei dem nur Lachen zu hören war.

Als sie Achmad begrüsste, strahlte sie, und während sie vor den Kindern, die sich zwinkernd und lachend um sie scharten, in den Fotos blätterte, wirkte sie richtig glücklich. Dann machte sie ein paar Gebärden, die er nicht verstand. Wie zum Gruss wedelte sie mit der Hand, ballte eine Faust und legte sie sich aufs Herz. Danach kam ein Zeichen, das wie ein Kuss aussah. Kaum war sie fertig, drängten sich die Kinder um ihn, jedes begrüsste ihn lächelnd und küsste ihn.

Wieder verbrachte er eine glückliche Stunde dort, die ihn vergessen liess, was am Tag zuvor bei seiner Schwester vorgefallen war. Als der Kurs zu Ende war, begleitete Ghâda ihn hinaus.

»Würdest du gern ein bisschen spazieren gehen?«, fragte Achmad.

Sie nickte. Ihr Gespräch führte sie durch die ruhigen Strassen Samâliks bis zum Nil. Neben einem Blumenbeet setzten sie sich hin. Die Sonne war milder geworden, und die Luft hatte einen goldorange Farbton angenommen.

»Und weiter?«, fragte Ghâda gerade.

»Nichts weiter. Das ist die Geschichte meiner Schwester bis zum gestrigen Tag.«

»Die Arme! Und was willst du tun?«

»Sie hat mir die Tür vor der Nase zugeschlagen! Sie will nicht, dass ich ihr helfe.«

»Du kannst sie aber doch nicht im Stich lassen!«

»Natürlich nicht. Ich lasse sie nur ein bisschen zur Ruhe kommen, dann rufe ich sie wieder an. Ich gehe dir mit meinen Problemen auf den Wecker, stimmt’s?«

»Überhaupt nicht.«

»Ghâda, dass du heute hier bei mir bist, zeigt mir, dass du mich akzeptierst.«

Ghâda wandte sich ab und schaute auf den Nil. Sie schwieg und wich seinen Blicken aus. Aber ein Lächeln huschte ihr über die Lippen.

Achmad sah es. »Ist schon in Ordnung, ich bin wirklich nicht böse. Ich bin froh, dich kennengelernt zu haben. Schliesslich bin ich nicht der Erste, der einem süssen und hübschen Mädchen begegnet, das in einer Möbelgalerie arbeitet, eine Künstlerin ist, von dem sich dann herausstellt, dass es eine Zwillingsschwester hat, in das er sich verliebt, dem er einen Brief schreibt und das er danach im Atelier trifft, nur damit es ihm am Ende sagen kann: ›Nein, du bist mir zu frech.‹«

Ghâda bekam einen Lachanfall, bis ihr die Tränen in die Augen traten. »Was sagst du denn da? Ich kann es einfach nicht glauben! Du bist vielleicht komisch: Selbst aus so schwierigen Situationen machst du noch einen Witz. In dem Brief hast du mir geschrieben, du würdest dich von der Teppichkante stürzen. Woher hast du bloss diese Einfälle? Ausserdem habe ich gar nicht gesagt, dass du frech bist.«

»Wenn ich das alles nicht täte, würde ich explodieren. Irgendwie muss ich ja den Tag überstehen.«

»Du bist der witzigste Mensch, den ich je getroffen habe.«

»Und du bist die Schönste, die ich je gesehen habe, weisst du das? Selbst die Kamera findet keinen Makel an dir.«

»Weil du gut fotografieren kannst.«

»Nein, wirklich, ich könnte Röntgenbilder oder sogar Fotokopien von dir machen, selbst darauf würdest du noch bildhübsch aussehen.«

»Guten Abend«, sagte plötzlich eine Stimme.

In Erwartung, einen Blumen- oder Getränkeverkäufer vorzufinden, drehte Achmad sich um, doch es war niemand dieser Art. Hinter ihm standen drei junge Männer in Polizeiuniform: ein Hauptmann und zwei Leutnants. Saubere Uniformen, selbstbewusste Mienen, ironische Blicke.

»Die Ausweise bitte!«

Als Achmad seine Brieftasche herauszog, begann sein Herz schneller zu schlagen. »Bitte sehr!«

Der Hauptmann nahm den Ausweis entgegen und fasste Achmad freundlich am Ellenbogen. »Hierher, wenn Sie erlauben«, sagte er und zog ihn ein Stück von Ghâda fort, die blass geworden und von ihrem Platz aufgestanden war, während einer der Leutnants auf sie zusteuerte.

Achmads Blick traf sich mit ihrem. Sie wirkte verstört und ängstlich, wie ein Blatt im Wind. Achmad wandte sich an den Offizier, der seinen Ausweis studierte: »Könnten Sie Ihren Kollegen bitten, sich an mich zu halten?«

Doch statt einer Antwort fragte der ihn: »Wo arbeiten Sie, Achmad?«

Achmad liess Ghâda, die ihre Handtasche geöffnet hatte und nach ihrem Ausweis suchte, nicht aus den Augen. Sie sah ihn hilfesuchend an, während er dem Hauptmann antwortete: »Ich arbeite im Kodak Express in Manjal. Aber entschuldigen Sie, könnten Sie Ihren Kollegen bitten, sich an mich zu halten, damit sie keine Angst hat? Sie hat nichts hiermit zu tun.«

Doch der Hauptmann fuhr mit seinen Fragen fort, als hätte er ihn nicht gehört: »Wo wohnen Sie, Achmad?«

Ghâda hatte dem Leutnant ihren Ausweis gegeben, der nun dastand und die simplen Angaben darin so eingehend studierte, als lese er eine Zeitung. Dabei liess er wie ein Passkontrolleur mit ausdrucksloser Miene seinen Blick zwischen ihrem Gesicht und dem Ausweisfoto hin- und herwandern. Der zweite Leutnant, der der Unerfahrenere der beiden zu sein schien, schloss sich seinem Kollegen an, der noch immer vor Ghâda stand. Sie war völlig überrumpelt von dem, was vor sich ging, und liess keinen Blick von Achmad. Eine Gruppe Mädchen marschierte an ihnen vorbei. Sie beobachteten alles, bis sie ausser Sichtweite waren, dann liefen auf der anderen Strassenseite ein paar junge Männer zusammen. Schliesslich überquerte noch ein Liebespärchen die Strasse und hörte vorsichtshalber auf, Händchen zu halten. Ghâda trat der Schweiss auf die Stirn, so dass sich die Vorderseite ihres hellblauen Kopftuchs dunkel verfärbte.

Unter all den Passanten, die die Szene verfolgten, erspähte Achmad ein Phantom. An dem teuren Anzug, in dem es hinter der Menge herlief, erkannte er es sofort. Es lächelte spöttisch. Dann wurde Achmads Blick für zwei Sekunden von dem Hauptmann in Anspruch genommen, und als er wieder hinübersah, war dieser Albtraum verschwunden. Achmad versuchte, ihn unter all den Leuten ausfindig zu machen, denn sonderbarerweise hatte er das dringende Bedürfnis, ihn um Hilfe zu bitten. Zumindest war er ein Bekannter und schien Einfluss zu haben. Doch er war nicht mehr da: so plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war.

Die Sehnen an Achmads linker Hand zuckten, und seine Stimme zitterte, als er antwortete: »Ich wohne hier in Manjal.« Dann trat er näher an den Hauptmann heran und raunte ihm in flehendem Ton zu: »Erlauben Sie, mein Herr, ich will nur nicht, dass sie Angst hat. Wenn Sie was von uns wollen, halten Sie sich an mich. Lassen Sie sie gehen. Die Leute beobachten uns, das ist ihr peinlich.«

Doch mit der Kaltblütigkeit eines Chirurgen fragte der Hauptmann: »Aber warum steht im Ausweis Sajjida Sainab?«

»Dort habe ich früher gewohnt, bei meinem Vater.«

»Und bei wem wohnen Sie jetzt?«

»Allein. Ich habe eine Wohnung gemietet.«

Einer der Leutnants hatte ein für ihn unhörbares Gespräch mit Ghâda begonnen, in deren Augen schon die ersten Tränen schimmerten. Achmad beschloss, zu ihr zu gehen, komme, was da wolle.

Aber der Hauptmann packte ihn am Handgelenk. »Bleiben Sie hier stehen!«, befahl er. »Kommen Sie, ich bin noch nicht fertig mit Ihnen. Habe ich Ihnen etwa gesagt, Sie sollen gehen?«

»Tut mir leid, das war nicht meine Absicht. Ist denn irgendwas? Haben wir was angestellt? Wir haben doch nur dagesessen und geredet.«

»Sind Sie ihr Verlobter?«

Achmad schwieg einen Moment, bevor er antwortete: »Nein, noch nicht … Aber wir haben es vor, so Gott will.«

»Und warum haben Sie dann ihre Hand gehalten?«

»Beim Allmächtigen, ich habe nicht ihre Hand gehalten! Das ist erst das zweite Mal, dass ich mit ihr zusammensitze.«

»Sie sind erst zum zweiten Mal zusammen, und schon wollen Sie sich verloben?«

Achmad wurde klar, dass er kein guter Lügner war. »Wir sind zum ersten Mal ausgegangen, aber wir kennen uns schon lange.«

»Und zu Hause wissen sie, mit wem sie sich trifft? Das heisst, wenn wir dort anrufen, kennt man Sie?«

Achmad zögerte. »Nun ja … nicht alle dort.«

Ghâda sah ihn wieder an wie eine Ertrinkende, dann blickte sie zu Boden.

»Erlauben Sie nur, dass ich nach ihr sehe! Sie weint …«, bat Achmad den Hauptmann.

Aber der hielt ihn zurück: »Eine Sekunde noch!«

Achmad wurde wütend. »Ich sage Ihnen doch, sie weint! Entschuldigen Sie, ich will sie nur beruhigen!«

Der Ton des Hauptmanns wurde streng: »Wenn ich mit Ihnen rede, dann sagen Sie mir nicht ständig: ›Ich will mit ihr sprechen‹ und ›entschuldigen Sie‹ und ›sie weint‹! Das macht Ihre Situation nicht besser. Und sitzen Sie nicht länger hier herum! Los, nehmen Sie sie, und vertrauen Sie auf Gott!«

»Gut, gut …«

Der Hauptmann beugte sich zu ihm und flüsterte: »Und kein Herumlungern mehr in dieser Gegend, Muttersöhnchen, sonst werden Sie beide mich erleben! In der Strasse hinter uns wohnt ein Minister. Wenn ich Sie nicht festnehme, dann nur, weil das Mädchen, das Sie dabeihaben, offenbar anständig ist. Oder möchten Sie lieber, dass wir von der Wache aus bei ihr zu Hause anrufen?« Während er das sagte, steckte er Achmad den Ausweis in die Hemdtasche zurück.

»Das ist nicht nötig. Danke, vielen Dank!«

Achmad ging zu Ghâda, und sie machten sich auf den Heimweg, während die Polizisten neben ihnen herfuhren und sie voller Genugtuung und Spott durch die Scheiben beobachteten. Noch lange gellte ihnen die Sirene des Streifenwagens in den Ohren. Von den Passanten zeigten ein paar Mitleid, aber die übrigen machten sich hämisch und voller Schadenfreude lustig über sie, weil sie davon ausgingen, dass sie etwas ausgefressen haben mussten.

Bis zum Saad-Saghlûl-Platz war es weit, so weit, dass einer von ihnen unterwegs zweimal seine Lebensgeschichte hätte erzählen können. Aber das war nicht der richtige Zeitpunkt. Während sie nebeneinander hergingen, herrschte zwischen ihnen abgrundtiefes Schweigen. In Ghâdas Auge hing eine Träne, die nicht trocknen wollte, und ihm hockte ein schwarzes Geschöpf auf der Brust, das einen nie gekannten Sturm aus Sorgen und Verzweiflung entfesselte. Einen Moment lang wünschte er sich, Ghâda würde etwas sagen oder sogar schreien, aber das tat sie nicht. Sie blieb stumm und distanziert.

Plötzlich jedoch drehte sie sich zu ihm und sagte ruhig: »Würdest du bitte ein Taxi anhalten?«

»Ghâda«, sagte Achmad sanft, »nur fünf Minuten! Lass uns reden!«

Um ihn zu verstehen, war Ghâda gezwungen, ihm in die Augen zu sehen. »Ich muss gehen«, sagte sie. »Ich hab mich schon verspätet.«

»Mir tut leid, was passiert ist. Hast du verstanden, worum es ihm ging? Das war übrigens ein sehr anständiger Kerl. Es geschah nur, weil dort ein Minister wohnt. Der Typ wollte mir bloss sagen, dass sein Konvoi im Begriff war loszufahren. Wäre was gewesen, hätte der Minister Probleme gemacht. Du weisst ja, diese Leute führen auch nur Anweisungen aus.« Er wirkte nicht überzeugt von dem, was er sagte, und so fügte er unter ihrem vorwurfsvollen Blick hinzu: »Und was haben sie zu dir gesagt?«

»Er hat mich gefragt, ob meine Familie weiss, dass ich mich mit dir treffe.«

»Und was hast du geantwortet?«

»Ich habe gelogen. Ich hab behauptet, du bist mein Cousin, und wir sind verlobt.«

»Dreckskerle! Aber dieser Hauptmann, der war wirklich anständig. Er hat bestimmt nicht gehört, was sie gesagt haben, weisst du. Wenn diese Jungs mit der Polizeiakademie fertig sind, bilden sie sich allerhand ein. Die Macht, die Pistole, ein paar Leute, die sie unter sich haben, die Uniform, du verstehst. Sie wollen sich wichtig machen. Sie sind noch jung und haben es nötig.«

Seine Worte waren wie ein Tropfen Tinte im weiten Meer: ohne jede Wirkung. Ghâda blieb stumm und starrte in die Luft. Es war, als hätte er versucht, einen Amputierten mit Mercuchrom zu heilen. Er begann ihr zu erklären, er habe dem Offizier ins Ohr geflüstert, Oberst Soundso sei ein Bekannter von ihm, er sei nämlich Kunde im Studio. Der Hauptmann habe sich an diesen Oberst erinnert, es habe sich herausgestellt, dass er dessen Schüler an der Polizeiakademie gewesen sei. Dann hätten sie zusammen gelacht wie Freunde. Er habe sie ja nicht im Stich gelassen, sondern sei, was sie betraf, völlig unbesorgt gewesen, schliesslich hätten sie es mit »guten Jungs« zu tun gehabt, mit »anständigen Kerlen«.

Aber Ghâda sagte dazu nur: »Nimm’s mir nicht übel, Achmad, ich muss gehen. Besorg mir ein Taxi!«

»Ghâda, so kannst du doch nicht gehen! Du hast das Ganze missverstanden!«

»Es ist nichts, Achmad. Da kommt ein Taxi, wenn es dir also nichts ausmacht …«

»Es ist doch nichts passiert, Ghâda. Polizisten dürfen jede Person auf der Strasse befragen. Das ist schliesslich ihr Job.«

»Diese Typen haben uns nicht befragt, sie haben getan, als hätten wir was angestellt. Du hast ja nicht mitbekommen, wie er mich angesehen hat. Als hätte ich was Schlimmes getan. ›Wo wohnst du?‹, hat er mich gefragt. ›Wissen deine Eltern Bescheid? Liebt ihr euch?‹«

»Dieses Tier, was geht ihn das an?«

»Ich weiss es nicht, Achmad. Geh und frag ihn! Nimm es mir nicht übel, aber ich will jetzt nach Hause. Bitte, halt mir ein Taxi an!«

»So kann ich dich doch nicht fahren lassen!«

Ghâda griff sich unter das Kopftuch, zog das Hörgerät ab und steckte es in ihre Handtasche. Diese Botschaft war eindeutig. Achmad blieb nichts anderes übrig, als einem Taxi zu winken. Als sie einstieg, wich sie seinem Blick aus, bis sie verschwunden war. Achmad schloss eine Weile die Augen und fühlte, wie Flammen hineinschossen und sie verbrannten.

Er lief weiter, kam schliesslich zur Kasr-al-Nil-Brücke und blickte aufs Wasser hinunter. Er wusste nicht, wie lange er so dastand. Eine kalte Klinge war ihm in die Brust gefahren, und Kummer quoll aus der Wunde. Eine bedrückende, penetrante Empfindung überkam ihn. Er fühlte sich nackt vor ihr. Wie zerschmettert war er, so schrecklich ohnmächtig! Er war unfähig gewesen, sie zu beschützen. Sein Selbstwertgefühl löste sich in Luft auf, sein Selbstvertrauen wackelte und begann zu bröckeln. Er wünschte, sie wäre nicht gegangen. Er wünschte, sie hätte angefangen zu schreien. Er wünschte, sie gar nicht erst kennengelernt zu haben. Er wusste, dass Ghâda nichts vergessen und dieses Erlebnis wie eine Betonmauer immer zwischen ihnen stehen würde. Hinzu kam sein tiefverwurzelter Minderwertigkeitskomplex. Dies alles reichte, ihm seine letzte Hoffnung zu nehmen, mit ihr zusammen zu sein, und somit auch seine Selbstachtung.

Schnell verrannen die Stunden des Tages. Allein blieb Achmad auf der Bank neben der Brücke sitzen und liess den Blick über den Nil und die Passanten schweifen. Mehrmals rief er bei Ghâda an, doch sie nahm nicht ab. Schliesslich schickte er ihr eine Nachricht: »Ghâda, ich will mich nur vergewissern, dass es dir gutgeht.«

Bei Ghâda zu Hause vibrierte ständig das Handy, das neben dem Hörgerät auf dem Nachttisch lag. Doch sie sass mit angezogenen Beinen auf dem Bett und bemerkte es nicht.

Plötzlich ging die Tür auf. Das war typisch für Mijâda, nie klopfte sie an. In hautengen Jeans und kurzer Bluse kam sie ins Zimmer, in den Ohren ans Handy angeschlossene Kopfhörer, über die sie Musik hörte. Gleich auf den ersten Blick bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie kannte Ghâda in- und auswendig, sie war für sie wie ein offenes Buch. Als sie auch noch das Hörgerät neben dem Bett liegen sah, wusste sie, dass Ghâda allein sein wollte.

»Was ist los?«, fragte sie in Gebärdensprache.

Ghâda drehte sich um. »Was willst du?«

»Setz das Hörgerät ein!« Mijâda zeigte auf ihre Ohren. »Ich will mit dir reden.«

Ghâda schüttelte den Kopf.

Mijâda zog sich die Schuhe aus, warf sie in die Zimmerecke und ging zu Ghâda hinüber, die ihr den Rücken zugewandt hatte. »Was hast du?«, fragte sie. »Ghâdalein! Hat dich jemand geärgert, meine Schöne?« Als sie nicht antwortete, lief Mijâda um das Bett herum, um ihr ins Gesicht zu sehen. »Weinst du? Was ist los?«

Ghâda machte ihr ein Zeichen, sie allein zu lassen.

»Tu’s für mich, Ghâdalein, setz das Hörgerät ein!«, sagte Mijâda und reichte es ihr. »Was hast du, mein Schatz, was ist denn los?«

»Achmad …«

»So weit ist es also schon mit dir? Hat dieser Kerl dich geärgert? Der soll mich mal kennenlernen! Erzähl!«

Ghâda berichtete ihr, was vorgefallen war.

Mijâda schwieg kurz, um einen Einstieg zu finden. »Mistkerle!«, rief sie schliesslich. »Hundesöhne!« In dem Gefühl, dass das vielleicht ein bisschen zu viel des Guten gewesen war, fügte sie dann hinzu: »Warum seid ihr überhaupt zum Nil gegangen?«

»Darf man denn nicht mehr an den Nil gehen? Ist das verboten?«

»Nein. Aber jedenfalls hat er keine Schuld. Jeder an seiner Stelle hätte sich Sorgen um dich gemacht.«

»Ein anderer wäre selbstbewusst aufgetreten. Aber als Achmad mich ansah, konnte ich in seinen Augen Angst sehen.«

»Um dich hatte er Angst.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, ihn wiederzusehen. Es wird immer etwas zwischen uns stehen.«

»Das waren nur Jungs, die sich einen Spass gemacht haben, Ghâda.«

»Einen Spass mit unserer Ehre?«

»Es passieren schlimmere Dinge.«

»Und warum gerade mit mir?«

»Das war bloss Pech, Ghâda. Lass es gut sein, um meinetwillen!«

»Und wenn Hâsim dasselbe vor deinen Augen passierte, wärst du dann auch still? Würdest du es vergessen?«

»Sicher nicht, aber …«

»Die Leute auf der Strasse haben uns angesehen, als hätten wir was Schlimmes getan«, unterbrach Ghâda sie. »Und er … Ich habe gehört, wie der Offizier etwas zu ihm gesagt hat wie ›Muttersöhnchen‹ oder so. Und Achmad hat mich angelogen und mir weismachen wollen, das sei ein anständiger Kerl gewesen.«

»Jeder an seiner Stelle hätte gelogen. Das war eine schwierige Situation.«

»Er hatte grosse Angst. Und ich hab mich ganz allein gefühlt. Er war nicht in der Lage, mich zu beschützen. Er hat sich vor mir demütigen lassen – und mich auch.«

»Wäre es dir lieber gewesen, er hätte sie verprügelt? Hätte er das tun sollen? Jeder an seiner Stelle hätte den Mund gehalten.«

»Aber wir hatten nichts Schlimmes getan, dass wir den Mund halten müssten!«

»Man braucht nichts getan zu haben. Und er konnte sich nicht mit ihnen prügeln, sonst wäre alles noch viel schlimmer geworden.«

»Er hat sich vor meinen Augen erniedrigen lassen, und ich bin vor ihm praktisch nackt ausgezogen worden. Ich kann es nicht glauben.« Heisse Tränen rollten ihr über die Wange.

Mijâda wusste nicht, was sie tun sollte. »Ghâda«, sagte sie, »ruf ihn an!«

»Das geht nicht. Es ist vorbei.«

Mijâda küsste sie auf die Wange. »Gut, beruhige dich erst mal, wir rufen ihn später an, okay?«

Ghâda schüttelte den Kopf, drehte sich auf die Seite und streckte die Hand nach dem Handy aus. Sie öffnete die Nachricht und las sie. Kurz darauf hatte sie entschieden, was sie antworten wollte, und schrieb: »Achmad, mir geht es gut, aber wir sollten uns jetzt nicht sehen. Bitte mach es mir nicht so schwer. Ich brauch ein bisschen Zeit für mich allein.«

Auf seiner Bank am Nil empfing Achmad die Nachricht. Nie hätte er sich vorgestellt, dass sein Leben so schnell auf den Kopf gestellt würde. Wieder und wieder las er Ghâdas Worte, bis er sie auswendig konnte. Er wusste, dass die Situation sehr schwierig für sie gewesen war, aber er erwartete auch von ihr Verständnis. Schliesslich war es nicht seine Schuld gewesen.

Allerdings war ihm die Art und Weise, wie er sich dem Hauptmann gegenüber verhalten hatte, ziemlich peinlich. Er hatte damit einen ehrverletzenden Angriff abwenden wollen, denn allzu leicht hätte das Ganze auf ein »Ab in den Transporter!« oder »Sie haben sich geküsst!« hinauslaufen können. Trotzdem war das, was ihn wirklich fertigmachte, seine eigene Reaktion. Aber war ihm denn etwas anderes übriggeblieben?

So grübelte er weiter, bis die Zeiger der Uhr auf zehn vor sieben standen. Es war Zeit für seinen Termin mit Alâa.

Dieser sass im Café und wartete auf ihn. Sein Kinn hatte seit zwei Wochen kein Rasiermesser mehr gesehen, sein Gesicht war bleich von durchwachten Nächten, und er hatte schwarze Ringe unter den Augen, als hätte er mit Kajal einen Lidstrich gezogen.

Achmad begrüsste ihn und setzte sich.

»Was hast du?«, fragte Alâa. »Du siehst verändert aus. Ist was passiert?«

Achmad war nicht fähig, ihm zu erzählen, was geschehen war. »Es ist nichts«, sagte er. »Probleme bei der Arbeit, das Übliche. Was gibt’s bei dir?«

»Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht.«

»Fang mit der guten an!«

»Es gibt da noch eine andere Zeitung, morgen treffe ich mich mit den Leuten. Ein neues Blatt.«

»Sollten wir nicht ein bisschen warten, bis sich alles beruhigt hat, Alâa? Die Sache mit der Freien Generation ist doch noch nicht vergessen.«

»Das ist ja genau, was sie wollen. Das nennt man ein Exempel statuieren.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, man muss das Eisen schmieden, solange es heiss ist. Was ich habe, muss dann veröffentlicht werden, wenn sie es nicht erwarten. Sie können nicht jeden Tag eine Zeitung schliessen. Wo bleibt denn da die Demokratie?«

»Ich habe Angst um dich. Ich denke, wir sollten noch etwas warten.«

Alâa trank einen Schluck Tee. »Glaub mir, jetzt ist der beste Zeitpunkt«, sagte er dann. »Wenn sie die Zeitung zumachten, würden sie sich zu sehr exponieren. Die Menschen würden anfangen zu fragen, was los ist. Und das ist genau, was ich will. Gestern bin ich auf etwas gestossen, was du dir nicht vorstellen kannst. Wenn das publiziert wird, hebt es die Welt aus den Angeln.«

»Und worum geht es da?«, fragte Achmad.

»Ich konnte einen Angestellten der Zentralbank, den Vater eines Bekannten von mir, überreden, mir interne Dokumente über bei ägyptischen Banken aufgenommene imaginäre Kredite zu überlassen, deren Sicherheiten noch imaginärer sind. Ausserdem einen Bericht, der besagt, dass der diesjährige Verlust zweihundertzehn Millionen Pfund beträgt, während es vor drei Jahren noch einen Gewinn von dreihundert Millionen gab. Hast du eine Erklärung dafür? Ich hab sie, und zwar auf dem Papier: eine Gruppe von Angestellten, von denen der Schlechtestbezahlte fünfundzwanzigtausend erhält. Provisionen, Geschenke, eine Hand wäscht die andere, und alle lassen sie sich bestechen. Aber genug davon! Der Bruder von einem meiner Freunde ist Offizier bei der Sittenpolizei. Weisst du, was ich von ihm erfahren habe? Er hat mir von Prostitutionsverfahren gegen Damen aus der High Society, Schauspielerinnen und Homosexuelle erzählt, die eingestellt wurden, ohne dass ein Haftbefehl erging. Und weisst du, warum? Weil es sich um sehr grosse Namen handelt. Und – Überraschung! – wer steht ganz oben auf der Liste? Sally. Sally al-Iskandarâni. Diese Akten werden erst hervorgeholt, wenn die betreffenden Personen in Ungnade fallen, wie damals Hischâm Fathi. Er hat die da oben verärgert, und da kamen seine alten Geschichten ans Licht. Seine Akte hatte schon zwei Jahre existiert, bevor das Video mit Sally auftauchte. Aber sie kam erst zum Vorschein, als er zum Ärgernis wurde. Es gibt ganze Netzwerke von Prostituierten, über die man genauestens Bescheid weiss, aber gegen die man keinen Haftbefehl ausstellt. Die meisten sind Models, die gern in die Werbung möchten. Sie bieten alles, was der Kunde zu bezahlen bereit ist, und liefern es frei Haus in Hotels und Apartments. Unterlagen mit allen Details habe ich im Bankschliessfach deponiert, zusammen mit deinen Fotos. Diese Artikel werden mal in die ägyptische Geschichte eingehen!«

Achmad seufzte. In Gedanken war er noch bei seinen Erlebnissen mit Ghâda. »Du hast mir noch nicht verraten, was die schlechte Nachricht ist«, sagte er.

»Gestern hat mich ein Nachbar meiner Eltern angerufen. Leute von der Geheimpolizei hätten nach mir gefragt. Ein paar Tage, nachdem die Zeitung zugemacht worden war, oder sogar gleich am nächsten Tag. Er hat ihnen gesagt, ich sei schon lange weggezogen. Der Typ ist mit mir zusammen aufgewachsen, weisst du, ich vertraue ihm. Jemand von der Freien Generation muss geredet haben. Ich hab das Gefühl, sie sind mir auf den Fersen.«

»Und du sagst mir, dass du morgen einen Termin bei einer neuen Zeitung hast? Du stürzt dich ins Verderben, Alâa! Kann gut sein, dass man uns sogar hier beobachtet.«

»Keine Angst, ich bin auf der Hut.«

»Wie soll das denn möglich sein? Das erklär mir mal!«

»Nun, ich weiss, dass mich niemand beobachtet. Schliesslich bin ich schon seit drei Stunden unterwegs. Ich war in einer Mall mit vier Ausgängen und hab sie erst wieder verlassen, nachdem ich eine halbe Stunde lang mit den Aufzügen hoch- und runtergefahren bin. Wäre da jemand gewesen, hätte ich ihn bemerkt, glaub mir! Der würde nicht mehr nach Hause finden, nach dem, was ich da mit ihm veranstaltet habe. Du vergisst, dass ich früher auf den Demonstrationen so meine Erfahrungen gesammelt habe.«

»Deine Selbstgewissheit ist das Einzige, was mir Sorgen bereitet. Was ist denn mit denen, die nach dir gefragt haben? Und die neue Zeitung? Kann es nicht sein, dass sie die auch schliessen oder dass jemand dich denunziert?«

»Klar, deswegen wollte ich dich ja heute auch treffen. Hör mal, Achmad, mein Termin mit diesen Leuten ist morgen früh um zehn. Wenn ich dich bis elf nicht angerufen habe, gehst du zur Bank, öffnest das Schliessfach und nimmst alles raus, was drin ist. Ich verlange nicht, dass du etwas tust, aber es würde mich beruhigen, diese Dinge bei dir zu wissen.«

»Rede nicht so, Alâa, Opfer ist die Sache nicht wert.«

»Schau, Achmad, es geht hier um alles oder nichts.«

»Was soll das heissen?«

»Das heisst: Erfolg oder Selbstmord. Für mich macht das keinen Unterschied mehr. Selbst wenn jemand bereit ist, alles zu veröffentlichen, anstellen wird mich keiner mehr. Und ich habe weder Frau noch Kinder, inzwischen nicht mal mehr eine Stelle. Dass es ein Risiko ist, weiss ich. Aber Selbstmord ist es nicht, glaub mir. Wieder als Journalist arbeiten zu können war meine ganze Hoffnung, aber nicht unter diesen Umständen. Entweder muss ich mich ändern oder die Umstände, und glaub mir, Letzteres ist einfacher.«

»Glauben Sie denn, dieses Land verdient das alles?«

»Dies und noch mehr. Entweder ich oder sie, Achmad. Ich bin Oberägypter, ich bin es nicht gewohnt, dass mir jemand den Arm umdreht.«

»Aber all die Witze über die Oberägypter, Alâa …«

»Damit ist es dann aus, Achmad, das ist vorbei. Ein Oberägypter hat die Welt aus den Angeln gehoben, wird man morgen sagen. Und sich über euch Kairoer lustig machen!«

»Wie du meinst. Aber pass bloss auf dich auf! Und trotzdem bleibe ich dabei, dass du das morgen lieber seinlassen solltest.«

»Sei nicht so ein Angsthase!«

In der Tat war Achmad von der Szene, die er ein paar Stunden zuvor erlebt hatte, noch ziemlich erschüttert und mitgenommen. Aber er unterdrückte seine Aufregung und versuchte, sich auf Alâa zu konzentrieren.

Während sie den kommenden Schritt so bis in alle Einzelheiten diskutierten, war es schon nach zehn geworden. Alâa blickte auf seine Uhr und sagte: »Ich muss jetzt gehen, ich hab noch viel zu schreiben.«

»Ich komme noch mit dir«, bot Achmad an.

»Das ist doch nicht nötig, geh nach Hause. Es ist eine langweilige Fahrt mit der Metro.«

»Ich möchte jetzt nicht heim. Ich komme mit, um mir die Zeit mit dir zu vertreiben. Ich bringe dich nach Hause und fahre anschliessend mit der Metro wieder zurück.«

»Na dann los!«

Sie gingen zum Tachrîrplatz. Fünfundvierzig Minuten bis zur Station Hilwângärten lagen vor ihnen. Es war eine lange Fahrt, mit von der Alltagsroutine müden Gesichtern drängten sich die Menschen auf den Sitzen. Kinder rannten wie kleine Teufel hin und her, so dass mancher Passagier sie wohl am liebsten aus dem fahrenden Wagen geworfen hätte. Alte Männer und dicke, verbrauchte Frauen; junge Männer und solche mittleren Alters, die von der Arbeit heimkehrten oder vielleicht dorthin fuhren; ein schönes Mädchen, das allein dastand, und zwei junge Kerle, die nur Augen für den schmalen Schlitz in ihrem Rock hatten, durch den ein kleines Stück ihrer Waden zu sehen war; ein bärtiger junger Mann, der keinen Blick vom Koran wandte: Eine seltsame Mischung von Menschen vereinte dieser Wagen, und bei jeder Erschütterung wiegten ihre Köpfe und Körper hin und her wie bei Derwischen während ihres Rituals. Die Stille wurde erst durchbrochen, als eine andere Metro vorbeifuhr, den Wagen durchrüttelte und laut fauchte.

Achmad und Alâa lehnten an der Tür. Sie sprachen wenig, bis der Zug schliesslich in die Station Hilwângärten einfuhr. Die Tür öffnete sich, und sie stiegen aus.

»Elf Uhr, Achmad. Wenn ich dich bis dahin nicht angerufen habe, setzt du dich in Bewegung!«

»Du wirst mich anrufen und mir ausserdem gute Nachrichten verkünden.«

»Weiter brauchst du nichts zu tun, das wollte ich dir nur noch mal sagen.«

Achmad nickte, um ihn zu beruhigen. »Red doch nicht so!«

Alâa ging zur Bahnsteigsperre und zeigte auf ein dreistöckiges Haus in ihrem Rücken. »Da wohne ich.«

Eingeklemmt in die Gebäudereihe gegenüber der Haltestelle stand es da, ein kleines, altes Haus mit einer Front aus roten Ziegeln. Auf jeder Etage befand sich nur eine Wohnung.

»Dritter Stock«, sagte Alâa. »Wenn sich alles beruhigt hat, lade ich dich und den dicken Typen ein. Dann gebe ich eine Party und schlachte ein Zicklein.«

»Sehr grosszügig, Scheich Alâa. Gott segne dich!«

Alâa streckte ihm die Hand entgegen. »Tschüss, Achmad. Geh über die Fussgängerbrücke, und nimm zurück die Metro auf der anderen Seite.«

»Tschüss, Alâa. Pass auf dich auf!«

»Das liegt in Gottes Händen. Pass du auf dich auf!«

Dann trennten sie sich. Nachdem Alâa die Bahnsteigsperre durchquert hatte, winkte er noch einmal. Achmad ging zu der Fussgängerbrücke am Ende des Bahnsteigs, stieg die Treppe hinauf, blieb oben stehen und blickte, um sich den Ort genauer einzuprägen, zu dem Haus hinüber, in dem Alâa wohnte. Vielleicht würde er ja bald zu Besuch hierher zurückkommen. Er sah, wie Alâa in den dunklen Eingang trat, und liess seinen Blick zum dritten Stock hinauf schweifen, als er durch einen Schlitz im Vorhang einen Lichtstrahl fallen sah, der plötzlich erlosch. Dabei gab es in dieser Etage nur eine einzige Wohnung, und die hatte nur einen Bewohner. Das Licht war aus Alâas Wohnung gekommen.

Einen Moment lang stand Achmad ganz verdattert da, dann zog er sein Handy heraus und wählte Alâas Nummer. Aber er hörte nur die Stimme der Dame, die niemals müde wird zu sagen: »Der von Ihnen gewünschte Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal!« Er sprang die Stufen der Fussgängerbrücke hinunter und rief gleich wieder an – aufgelegt.

Achmad rannte zum Ausgang, sprang zur Verwunderung der Umstehenden über die Bahnsteigsperre und wählte dabei die Nummer ein drittes Mal. »Nimm ab, Alâa, nimm ab!«

Da hörte er seine Stimme: »Was ist denn, Achmad, was ist los?«

Achmad sah einen jungen Mann in Sportjacke aus dem Haus kommen und auf einen olivgrünen Mercedes 190 zugehen, in dem bereits drei andere Männer sassen: der Fahrer und zwei weitere auf dem Rücksitz. Er schien es eilig zu haben, öffnete die Vordertür und setzte sich neben den Fahrer, der jedoch nicht losfuhr. Einer der Männer blickte nach oben – zu Alâas Wohnung hinauf.

Achmad, der mit seiner nikotinverseuchten Lunge bereits ins Keuchen geraten war, rief: »Alâa, hast du jemanden bei dir in der Wohnung?«

»Nein, aber hier ist alles total durcheinander.«

»Dann schliess ab, und komm sofort runter!«

Alâa schwieg einen Moment und rief dann: »Hier war jemand drin!«

Das war das Letzte, was er von ihm hörte, denn aus Alâas Wohnung krachte eine gewaltige Explosion. Achmad war gerade auf der Strasse und lief auf das Haus zu, da entlud sie sich mit einem ohrenbetäubenden Knall, und blaue Flammen schossen aus den Fenstern. In alle Richtungen, in die enge Strasse und den Eingang der Metro, flogen Glassplitter, und die Passanten warfen sich vor Schreck auf den Boden. Es klang wie das Heulen eines Dämons.

All dies dauerte kaum einen Augenblick. Als es vorbei war, fand Achmad sich auf dem Boden wieder, die Hand vor die Augen gepresst, um sie vor den umherfliegenden Glassplittern zu schützen. Mit einem Mal war er von allen Geräuschen abgeschnitten, als hätte jemand die Verbindung zu seinen Ohren gekappt.

Der Schauplatz vor ihm war in Stille gehüllt. Er sah, wie der olivgrüne Mercedes neben ihm eilig startete, während ein junger Mann im Fond ein Funkgerät an den Mund nahm. Schliesslich bog der Wagen in eine Seitenstrasse.

Mehr als zehn Sekunden blieb Achmad so liegen, dann kam sein Gehör allmählich wieder. Stimmengewirr. Kindergeschrei, ein paar erschrockene Frauen. Rufe wurden laut: »Es gibt keinen Gott ausser Gott!« – »Es gibt keine Macht noch Stärke ausser bei Gott!« – »Bestimmt eine Gasflasche.« – »Jemand soll die Feuerwehr rufen!« – »Hat einer Guthaben auf dem Handy?« – »Es riecht nach Gas!« – »Schütze uns, Herr!« – »Vorsicht, meine Dame, vielleicht geht es noch mal los!«

Achmad stand auf. Alles war verschwommen. Seine Brille sass nicht mehr auf seiner Nase. Er liess sich auf die Knie fallen, um im schwachen orange Lichtschein, den das Feuer auf die Strasse warf, nach ihr zu suchen. Nachdem er eine Weile auf dem Boden herumgetastet hatte, hatte er die Brille schliesslich in der Hand. Doch als er sie sich vor die Augen hielt, stellte er fest, dass das rechte Glas zersplittert war. Trotzdem setzte er sie auf und lief zum Hauseingang, in der Hoffnung, Alâa dort verletzt vorzufinden, als zwei Männer aus dem Viertel sich ihm mit ausgestreckten Händen in den Weg stellten.

»Komm her, mein Sohn, du verbrennst doch! Wo willst du denn hin? Da oben ist keiner mehr am Leben.«

»Aus dem Weg!«, schrie er sie an. »Ihr vergeudet Zeit! Vielleicht ist Alâa ja nur verletzt.«

Doch sie riefen: »Die ganze Etage brennt, das kann keiner überlebt haben. Gleich kommt die Feuerwehr. Bist du ein Verwandter?«

Mit Gewalt stiess Achmad sie zurück und sprang in den Hauseingang.

»Du stürzt dich ins Verderben, Gott strafe dich!«

Aber Achmad hörte nicht mehr, was sie sagten. Erst vor der Treppe zum dritten Stock kam er wieder zu sich. Erstickender Gestank und Rauch, in dem man nicht die Hand vor Augen sah. »Alâa! Alâa!«, begann er zu rufen. »Alâââââa!« Als er die Treppe halb erklommen hatte, hörte er eine weitere Explosion und etwas Schweres, das zu Boden fiel. Wie gespaltene Schlangenzungen leckten die Flammen aus der Wohnung, und man sah praktisch nichts, so wie bei einem Objektiv, das nicht scharf gestellt ist. »Alâa!«, schrie Achmad erneut. Er konnte nicht weiter.

Eine harte Hand schlug ihm auf die Schulter. »Raus mit Ihnen, raus! Warum stehen Sie hier? Ist was mit Ihnen? Sind Sie verletzt?«

Es war ein Mann in orangefarbener Jacke, mit Helm auf dem Kopf und einer stählernen Brechstange in der Hand – ein Feuerwehrmann.

Achmad lief auf die Strasse und setzte sich vor dem Eingang zur Metro auf den Gehsteig. Ein Mann kletterte auf die Leiter eines Feuerwehrautos und versuchte, das heulende Feuer zum Schweigen zu bringen. Achmad hatte so viel Rauch aufgenommen, dass er kaum atmen konnte. Er hustete, bis ihm die Lungen beinahe platzten. Dann griff er nach seinem Handy und wiederholte die zuletzt gewählte Nummer. Als er Alâas Namen auf dem Display sah, konnte er die Tränen nicht zurückhalten. Er weinte, als hätte er den Bruder verloren, den seine Mutter ihm nicht geschenkt hatte. So blieb er eine Viertelstunde sitzen, bis das Feuer allmählich kleiner wurde und erstarb.

Es wimmelte von Neugierigen, auf der Strasse standen Polizeiwagen und drei Feuerwehrautos. Schlangengleiche Schläuche hatten den Boden unter Wasser gesetzt, so dass überall Schlamm entstanden war. Plötzlich scharten sich die Leute zusammen. Die Feuerwehrleute brachten eine Trage aus dem Haus. Auch Achmad lief zum Eingang. Auf der Trage lag Alâa – oder das, was kurz zuvor noch Alâa gewesen war. Sie legten eine weisse Decke darüber, aber noch immer ragte eine schwarzverbrannte Hand hervor.

Achmad wandte das Gesicht ab, als einer der Polizisten in die Menge rief: »Ist hier jemand, der ihn kennt? Weiss jemand, wie der Mann hiess, der im dritten Stock wohnte?«

»Er heisst Alâa, mein Sohn. Jeden Tag kauft er Taamîja bei mir«, antwortete eine alte Frau.

»Kennen Sie nicht vielleicht auch seinen Nachnamen?«

»Den kenn ich nicht, mein Sohn. Er nannte sich nur Alâa.«

»Gut, meine Dame«, entgegnete der Polizist. »Aus dem Weg, Leute, damit die Männer ihre Arbeit tun können!«

Die Menschen wichen ein wenig zurück, so dass es möglich war, den Leichnam in den Krankenwagen zu schieben, der sich mit seiner lauten Sirene einen Weg durch die Menge bahnte und dann verschwand.

Achmad packte einen der Feuerwehrleute am Ellenbogen. »Entschuldigen Sie«, sprach er ihn an, »wie ist es denn zu dem Brand gekommen?«

»Eine Gasflasche, Captain«, antwortete der Mann eilig, »eine Gasflasche ist explodiert.«

»Ganz von allein?«

»Das wissen wir noch nicht. Vielleicht war sie leck. Oder ein glühender Zigarettenstummel hat sie in Brand gesetzt, wer weiss.«

»War der Mann oben sofort tot?«

»Das weiss Gott. Kannten Sie ihn?«

»Nein.«

Achmad machte sich auf den Heimweg. Von der Fussgängerbrücke der Metro aus blickte er durch seine gesprungene Brille noch einmal auf das Gebäude, ging dann auf die andere Seite und fuhr nach Hause.

Die Rückfahrt war lang. Achmad hielt die Augen geschlossen, das Gesicht in den Händen vergraben. Seine letzten Momente mit Alâa gingen ihm nicht aus dem Sinn. Seine Stimme. Sein Gesicht, wenn er lachte. Sein herausforderndes Wesen. Seine Entschlossenheit. Elf Uhr. Elf! Achmad warf sich mit einem Ruck nach hinten, so dass eine alte Dame neben ihm zusammenfuhr. Er zog sein Handy heraus und wählte Omars Nummer.

»Hallo!«

»Was ist, mein Lieber? Wo warst du denn den ganzen Tag?«

»Omar, wir müssen uns sofort treffen!«

»Was ist denn los?«

»Alâa …«

»Was ist mit ihm?«

Achmad senkte die Stimme. »Alâa ist tot, Omar.«

»Was? Verdammt, was ist passiert?«

»Ich erkläre es dir, wenn wir uns sehen. Komm einfach zu mir in die Wohnung.«

»Erzähl mir, was passiert ist! Lass mich nicht so hängen!«

»Nicht am Telefon. Geh schon mal in die Wohnung!«

»Wie lange brauchst du noch?«

»Höchstens eine halbe Stunde.«

»Achmad, hat das irgendwas mit den Fotos zu tun?«

»Möglich.«

»Gott strafe dich! Hab ich dir nicht gesagt, wir stürzen uns ins Verderben?«

»Omar, leg jetzt auf, und warte in der Wohnung auf mich!«

Achmad beendete das Gespräch und lehnte den Kopf an die Scheibe hinter sich. Ein anderer Zug fuhr laut heulend vorbei und rüttelte den ganzen Wagen durch.

Seine Gedanken waren noch wirr durch den Schock. Dichter Rauch füllte seinen Kopf, und er schloss die Augen. Er wusste nicht, wie viele Stationen er schon hinter sich hatte, als er plötzlich eine Stimme hörte. Eine vertraute Stimme, die rief: »Achmad … Achmad!«

Er setzte sich auf, sein Kopf triefte vor Schweiss. Der Wagen war menschenleer, durch die Fenster war von der Aussenwelt nichts zu sehen. Der Zug fuhr mit gefühlter Lichtgeschwindigkeit. Suchend blickte er sich nach dem Ursprung der Stimme um, und da sah er ihn sitzen. So gelassen wie immer und äusserst elegant in seinem cremefarbenen Zweireiher. So, wie er ihn zum ersten Mal im Kasino gesehen hatte: gutaussehend und selbstsicher und kalt wie eine Gewehrkugel, die nicht abgefeuert worden ist. Als Achmad ihn bemerkte, fuhr er so heftig zusammen, dass er fast von seinem Sitz gefallen wäre.

Der Mann lächelte ihn ruhig an. »Was ist?«, fragte er. »Haben Sie einen Geist gesehen?«

Achmad gewann sein Gleichgewicht wieder. »Sie sind wirklich wie ein Geist«, antwortete er. »Wer sind Sie?«

»Wie kann es sein, dass Sie mich nicht kennen?«

»Sollte ich Sie denn kennen?«

»Nun ja …«

»Was genau wollen Sie?«

»Genau dasselbe wie Sie!«

»Sie sind von der Geheimpolizei. Ich habe Sie schon zigmal gesehen und nie herausbekommen, wer Sie sind.«

Der Mann lächelte, zog ein Stofftaschentuch heraus und legte es sich auf den Mund. »Sie müssen einen sehr schweren Tag gehabt haben.«

»Das können Sie sich gar nicht vorstellen«, entgegnete Achmad und blickte dabei auf die Stelle an der Hand des Mannes, wo der Ring gesessen hatte. Der Ring mit dem Buchstaben G. Er war nicht mehr da. An seiner Stelle war nur noch ein heller Streifen zu sehen. Achmad sah dem Mann ins Gesicht und bemerkte, dass dieser ebenfalls zu ihm herschaute – und zwar auf seine Hand. Um festzustellen, was es für diesen Verrückten dort zu sehen gab, folgte er seinem Blick. Seine Hand war schmutzig, vollständig von Staub bedeckt, bis auf eine Stelle am Ringfinger, die heller war. Eine Stelle, auf die kein Sonnenlicht gefallen war, weil er dort lange Zeit einen Ring getragen hatte. Er betrachtete die Stelle – sie war vorher nicht da gewesen –, rieb mit dem Finger darüber und hörte, wie der Mann zu ihm sagte: »Haben Sie nun verstanden?«

Schnell wandte Achmad sich um, sah ihn aber nicht mehr. Der Mann war verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Aber andere sassen wieder da. Der Wagen war plötzlich voller Menschen. Männer, Frauen und Kinder, als wären sie aus dem Nichts gekommen. Er stand auf und suchte den Wagen ab, blickte in jedes Gesicht. Keine Spur mehr von ihm. Achmad sah sich den hellen Streifen an seinem Finger genauer an, bis schliesslich seine Station kam: al-Malik al-Sâlich. Dort blieb er auf dem Bahnsteig stehen, bis der Zug wieder abfuhr. Der Mann war nicht zu sehen.

Zehn Minuten brauchte Achmad, um sich von der sonderbaren Begegnung zu erholen, dann machte er sich auf den Weg zu seiner Wohnung.