17

Die Telefonzelle vor dem Hotel Scheherazade an der Corniche war von Manjal relativ weit entfernt, selbst mit dem Fiat 128, der Omars nach Saudi-Arabien gereistem Cousin gehörte. Omar hatte sich den Wagen von seiner Tante geborgt, indem er behauptete, er gehe vom langen Stehen kaputt und brauche Bewegung und einen Ölwechsel. Nachdem sie ihm geschworen hatte, sie werde ihn skalpieren, falls das Auto irgendwie Schaden nahm, hatte sie sich damit einverstanden erklärt, dass er es jeden Tag abholte und ein wenig damit herumfuhr, bis ihr Sohn wieder da war.

Das gab Achmad die Gelegenheit, Alâa von einem anderen Ort aus anzurufen, um einer möglichen Telefonüberwachung zu entgehen.

»Warte!«, rief Omar noch. »Was ist denn, wenn Alâa beschattet wird?«

»Das werden wir erfahren.«

»Bist du sicher, dass die Methode funktioniert?«

Achmad wählte die Nummer und antwortete: »Ja, mein Lieber, ich habe es in einem Film gesehen. Es ist ziemlich logisch.«

Das Freizeichen ertönte.

»Hallo?«

Achmad versuchte, selbstbewusst zu klingen: »Haben Sie heute Zeit? Wir haben gestern miteinander telefoniert.«

»Ich habe Zeit«, antwortete Alâa am anderen Ende der Leitung. »Wie sollen wir uns treffen?«

»Sie kennen doch die Zentralbank in der Scharîfstrasse. Warten Sie da vor dem Haupteingang.«

»Wann?«

»Um eins.«

»Sie werden sich nicht verspäten?«

»Tragen Sie ein weisses Hemd. Ich treffe Sie dort, seien Sie pünktlich!«

»Selbstverständlich.«

Aber um die Sache etwas mysteriöser zu machen, hatte Achmad schon vor dem »Selbstverständlich« aufgehängt.

In der morgens so lebhaften Finanzmeile – einer Art Wall Street nach dem Auftreten eines Staubtsunamis –, die am Abend stets wie ausgestorben dalag, vertrieben sie sich die Zeit damit, sich über die Einzelheiten des bevorstehenden Treffens mit Alâa zu streiten, bis es schliesslich Viertel vor eins war. Der braunhäutige Mann, der im weissen Hemd vor dem Haupteingang stand und an den Nägeln kaute, war nicht zu übersehen. Alâa kaute eine Viertelstunde weiter, bis er fast am Ellenbogen angekommen war. Diese Angewohnheit aufzugeben war ihm so unmöglich, wie es für ein Krokodil unmöglich ist, Fahrrad zu fahren. Endlich klingelte das Telefon.

»Hallo?«

Omar rief von einem öffentlichen Telefon in einer nahe gelegenen Gasse aus an. »Alâa, da ist eine Passage vor der Bank, die Börsenpassage. Dort gibt es ein Café. Gehen Sie schnell los, und warten Sie da!«

Um das Ganze noch geheimnisvoller zu machen, hatte Omar schon wieder aufgelegt, bevor Alâa antworten konnte. Während der sich auf den Weg in die Passage machte, sass Omar im Café vor seiner Schischa und beobachtete ihn, und Achmad behielt die lange, ruhige Strasse hinter ihm vom Auto aus im Blick.

Das war nämlich die Idee: Alâa irgendwohin zu locken, wo es relativ leer war, und sich danach an einen lauten Ort zu setzen, der mehr als einen Ausgang hatte, wie das Café in der Börsenpassage. Es war gross, und die Leute waren überall verstreut wie in einer klaren Nacht die Sterne am Himmel. Lärm, das Blubbern der Wasserpfeifen und lautes Gelächter waren zu hören, verschiedenartige Geräuschebenen, die in keinerlei Zusammenhang zueinander standen. Das Klackern der Domino- und Backgammonsteine erschien harmonisch, obwohl es aus allen Ecken kam. Witze und Spässe, Sorgen, Geheimnisse und Probleme, die der Rauch hoch hinauf in den Himmel trug. In den Himmel über Kairo.

Alâa blieb stehen und blickte sich suchend um, bis der Kellner auf ihn zukam.

»Bitte sehr, Pascha!«

»Nein, danke, ich warte auf jemanden.«

»Ein Herr dort ruft nach Ihnen«, sagte der Mann und zeigte auf einen Tisch, an dem Achmad und Omar sassen.

Alâa ging zu ihnen und betrachtete dieses an Laurel und Hardy erinnernde Paar, das zwei Tage lang mit seinen Nerven gespielt hatte. Die Fragezeichen standen ihm ins Gesicht geschrieben, als er sich zu ihnen setzte.

»Ich hätte gern eine Erklärung«, sagte er.

»Natürlich«, antwortete Achmad. »Könnte ich Ihren Ausweis sehen?«

Alâa erstarrte für fünf Sekunden, dann nahm er den Ausweis aus seiner alten Brieftasche. »Bitte sehr.«

Achmad prüfte ihn. »Alâa Hussain al-Sajjid Gumaa«, las er vor, »Journalist.« Dann gab er ihn zurück. »Darf ich Sie etwas fragen?«

Alâa nickte irritiert.

»Warum hat man Sie bei der Zeitung rausgeworfen?«

»Zuerst einmal hat man mich nicht rausgeworfen. Ich habe mich selbständig gemacht.«

»Ein guter Anfang«, meinte Achmad. Er zog eine Schachtel Zigaretten heraus und bot Alâa eine an.

»Danke«, entgegnete der, »ich rauche nicht.«

»Gut, was Sie gemacht haben. Erzählen Sie mir doch, was passiert ist!«

»Darf ich nicht zuerst erfahren, mit wem ich es zu tun habe?«

»Wenn Sie meine Frage beantwortet haben.«

»Eine Meinungsverschiedenheit mit dem Chefredakteur. Ein Artikel, dem ich einen Satz hinzugefügt hatte. Eine Information, die mich viel gekostet hatte.«

»Habîb Amîn!«, warf Achmad ein. Er würfelte einfach und hoffte auf einen Sechserpasch.

»Wer genau sind Sie?«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, ich bin jemand, der etwas hat, was Galâl Mursi überführt.«

»Das erklärt aber nicht, warum Sie gerade mich angerufen haben. Sämtliche Zeitungen, die ihm gern ein Begräbnis erster Klasse bereiten würden, stehen Ihnen zur Verfügung. Ich dagegen habe, wie Sie wohl wissen, ein Problem mit dem Verband.«

»So weit zu Galâl.«

»Wie meinen Sie das?«

»Nehmen wir an, ich habe etwas über andere Leute.«

»Wen zum Beispiel?«

»Zum Beispiel Habîb Amîn.«

»Erklären Sie mir das!«

»Alâa, Sie brauchen meine Hilfe. Und ich brauche Ihre Hilfe. Ich habe belastende Fotos von ein paar Leuten, der Creme der Gesellschaft, wenn man so will: Abgeordnete, Geschäftsleute, Politiker. Eine Gruppe von Leuten mit Einfluss, auf deren Stimme man hört. Fotos von Leuten, die morgens in der Zeitung miteinander verfeindet sind, und wenn sie sich abends treffen, sind sie ein Herz und eine Seele. Fotos, die sie zusammen mit Tänzerinnen und Prostituierten zeigen. Fotos, die niemand sehen möchte. Das intime Nachtleben sozusagen.«

Alâa schien interessiert. »Und von wem haben Sie diese Fotos?«

»Man könnte sagen, ich habe diese Bilder von jemandem geerbt, der mir sehr teuer war.«

Die Leidenschaft des Journalisten war entfacht. Alâa rückte mit seinem Stuhl näher heran.

In dem Moment landete ein roter Schischaschlauch auf dem Tisch, und zwar mit einem solchen Knall, dass Alâa beinahe den Tee ins Gesicht bekam. »Warte!«, rief Omar, der mit der Wasserpfeife in der Hand dasass wie Poseidon mit seinem Dreizack. »Eine Sekunde!«

»Das ist mein Freund Omar«, sagte Achmad. »Ich habe vergessen, Sie vorzustellen.«

Omar zwinkerte Achmad zu und nickte nervös. »Ich müsste dich mal eine Minute sprechen …«

»Entschuldigen Sie mich, Alâa!«

Omar stand auf, und Achmad folgte ihm in eine leicht abgelegene Ecke.

»Was hast du vor?«, fragte Omar.

»Was soll das heissen, ›Was hast du vor‹?«

»Ich sehe, dass du langsam mit ihm ins Detail gehst.«

»Und wo liegt das Problem?«

»Woher weisst du denn, dass wir ihm vertrauen können?«

»Erstens haben wir ihn angerufen, er ist nicht zu uns gekommen. Zweitens ist der Feind deines Feindes dein Freund. Das heisst, nachdem Galâl ihn gefeuert hat, hätte er bestimmt gern eine Gelegenheit, sein Ansehen wiederherzustellen. Und drittens weiss er ja nicht, wozu wir ihn brauchen. Und Zeit zum Nachdenken wird er keine haben.«

»Und wenn er uns verrät?«

»Er wird uns nicht verraten.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«

»Warum sollte er Informationen wie diese nicht nutzen? Er wäre ja ein Idiot!«

»Gleich bei der ersten Ohrfeige wird er verraten, wer ihm die Fotos gegeben hat, glaub mir!«

»Nur wenn er weiss, wo wir wohnen.«

»Du wirst uns ins Unglück stürzen, Achmad!«

»Jammer nicht wie eine Geschiedene! Hast du den Laptop aus dem Atelier mitgebracht?«

»Bei der Kamera im Kofferraum. Und was, wenn er die Autonummer weitergibt?«

»Gehört das Auto nicht deinem Cousin Hassan?«

»Ja.«

»Und liebst du deine Tante sehr?«

»Nun ja, ungefähr so wie meinen Onkel.«

»In Ordnung, wir gehen morgen zur Polizei und geben einen Diebstahl zu Protokoll. Wir sagen, der Wagen sei gestern vor dem Haus gestohlen worden, und morgen finden wir ihn unter der al-Malik-al-Sâlich-Brücke geparkt. Aber komm jetzt, der Mann sitzt da und wartet!«

Er zog Omar am Arm, und sie kehrten zu Alâa zurück, der noch immer unter dem Gefühl litt, absolut nicht zu wissen, woran er war.

»Entschuldigen Sie die Verzögerung!«, sagte Achmad.

»Kein Problem.«

Omar kam ganz nah an Alâa heran und blies ihm seinen nach Pfeifenrauch riechenden Atem ins Gesicht. »Baschmuhandis Alâa«, sagte er, »wenn irgendjemand erfährt, was wir hier besprochen haben … Sie möchten gar nicht wissen, wozu ich dann imstande bin, glauben Sie mir! Ich drohe Ihnen nicht. Aber wir wissen sehr genau, dass die Sache gefährlich ist. Wenn irgendwas passiert, hängen Sie mit drin. Hier und jetzt haben Sie die Wahl: Entweder wir machen weiter, oder Sie vergessen, dass Sie uns überhaupt getroffen haben. Und übrigens: Wir sind nicht allein, verstanden? Nicht allein!«

Alâa blieb stumm. Allerdings machte er sich keine Gedanken über eine mögliche Antwort, sondern dachte über das Schicksal nach, das ihm gerade jetzt, da sein Leben in einer Sackgasse steckte, diese beiden Männer geschickt hatte. Er wusste sehr gut, welche Folgen Galâl Mursis Wut auf ihn haben würde. Er hatte sein Auskommen verloren und war aus der Welt des Journalismus verbannt worden. Aussätzig war er geworden, wie ein Leprakranker unter lauter Gesunden. Jedermann hatte Angst, sich ihm zu nähern oder ihm gar zu helfen. Wenn er in eine Grube fiel, würde niemand eine helfende Hand ausstrecken. Es sei denn jemand, der ebenfalls Lepra hatte.

In einem entscheidenden Punkt war er sich mit Achmad einig: Er hatte nichts mehr zu verlieren. Ausserdem hatte er weder Familie noch Kinder. Er war wie geschaffen für das Risiko. Nachdem er nun erfahren hatte, dass sie etwas gegen Galâl unternehmen konnten, würde ihn nichts mehr stoppen können.

Also war es nur logisch, dass er jetzt sagte: »Ich bin dabei.«

Achmad stand auf. »Dann los!«

»Wohin?«

»Ich werde Ihnen Ägypten zeigen!«

Im Auto erzählte Achmad Alâa in aller Kürze von den Vorfällen der letzten Monate, von seinem Einzug ins Kasino bis zu dem Zeitpunkt, an dem er Galâl Mursi die Erpresserbriefe geschrieben hatte.

Und auch Alâa erzählte ihm von seinem Leben. Die Geschichte eines glücklosen Kampfes: 1989 hatte er sein Journalismusstudium an der Philosophischen Fakultät abgeschlossen. Er war mittellos gewesen, hatte jedoch bald die Chance erhalten, in einer bekannten nationalen Zeitung zu volontieren. Von da an flog er auf der Suche nach einer Anstellung wie eine Biene von Tür zu Tür, immer seine Karriere im Auge. Das Einzige, was ihm im Weg stand, waren seine Prinzipien. Ihretwegen lief er in der Welt des drittklassigen Journalismus, unter all den Skandalreportern, ständig gegen Wände, stolperte und fiel auf die Nase. Die meisten seiner Artikel wurden abgelehnt. Sie waren nicht dazu angetan, den Geschmack eines Chefredakteurs zu treffen, der seine Nachrichten von ebenjenen Leuten bezog, die Alâa angriff – bis er schliesslich davon überrascht wurde, dass man ganz auf ihn verzichten wollte. Drei Monate lebte er von der Hand in den Mund. Schliesslich fand er einen Job in einer unabhängigen Zeitung. Dort hielt es ihn jedoch nicht länger als einen Monat. Das Blatt war ihm zu reisserisch, aber zumindest für dreissig Tage brauchte er das Gehalt, das es ihm für seine Mühen zahlte. Danach folgten drei Zeitungen aufeinander, von denen die Freiheit die letzte war.

Dort fand er zu sich selbst und machte sich einen Namen. Er schlug sich durch dunkle Nebenstrassen, hatte jedoch keine Angst, denn er schrieb nie eine Nachricht ohne Quelle oder Beweis. Ausgedehnte Recherchen über die Korruption im Staatsapparat; eine lange Dokumentation darüber, wie die ägyptische Gesellschaft durch die Bestechung zu einem Schwamm wurde: aussen gross anzusehen, aber innen porös. Er griff die Schauspielerinnen an, die den Fernsehbildschirm in einen Sklavenmarkt verwandelten, auf dem sie ihre Körper feilboten, um anschliessend im Ramadan-Abendprogramm aufzutreten. Er war ein wachsames Auge, ein störendes Auge. Bis eines Tages die Zeitung einen neuen Chefredakteur bekam. Vorangegangen war die überraschende Rückzugsentscheidung des alten Chefredakteurs, in der ihn der Vorsitzende des Direktoriums eilfertig bestärkt hatte. »Ich bin zufrieden mit dem, was ich erreicht habe, und gehe mit weisser Weste.« So hatte er gesprochen, so war er gegangen, und so hatte Galâl Mursi das Ruder übernommen.

Niemand wusste etwas über ihn. Als wäre er aus dem Nichts gekommen, war er plötzlich einfach da. Alles deutete darauf hin, dass er ein aktiver Journalist war. Schon in seiner ersten Woche nahm er umfangreiche Änderungen vor, was Form, Inhalt, ja sogar die Farben der Zeitung betraf. Seine Artikel schienen stark und laut und nahmen keinerlei Rücksicht auf Regierung oder Funktionäre, sie waren wie Peitschenhiebe. Er brachte seine Zeitung nach oben, bis sie zu den nationalen Zeitungen aufschliessen konnte, und wurde die Nummer eins. Niemand kannte seine Quellen. Es war, als hätte er sich mit Dämonen verbrüdert, die ihn mit den Nachrichten versorgten.

Schliesslich begann er, den Journalisten seine Herrschaft aufzuoktroyieren. Ohne einen klaren Grund wies er nun Artikel zurück, änderte den Kurs der Zeitung, griff plötzlich die an, mit denen er zuvor kokettiert hatte, und schloss dafür Waffenstillstand mit denen, die seine Feinde gewesen waren. Er isolierte sich, diskutierte mit niemandem und akzeptierte keine anderen Meinungen. Aus den banalsten Gründen geriet er in Rage. Zudem machten unbestätigte Gerüchte über heimliche Beziehungen zu bedeutenden Funktionären die Runde. Von Alâa lehnte er mehrere Artikel ab, die er früher nicht zurückgewiesen hätte. Die Spannungen zwischen ihnen wuchsen, und vermehrt kam es zu Streitereien, wenn sie auch noch nicht so weit gingen wie bei ihrem letzten Disput.

Alâa war nicht der Einzige, dem dies alles verdächtig vorkam, aber der Einzige, der sich Galâl entgegenstellte. Er suchte ihm frühere Artikel der Zeitung heraus, die sich mit denselben Themen befassten, die Galâl jetzt ablehnte, und sagte ihm damit indirekt: Du bist ein Heuchler! Galâl konnte ihm nicht beikommen: Alâa provozierte zwar, hatte aber recht – eine chronische Migräne. Bis Alâa schliesslich seinen Kopf Galâl auf einem Silbertablett präsentierte, indem er Habîb Amîn angriff. Der letzte Zusammenstoss war von Galâl vorausgeplant und katapultierte Alâa in seine vier Wände, wo er seine Träume mit den schäbigen Möbeln teilte.

Es war bereits nach halb drei morgens, als Omar, nachdem er alle Plätze und Strassen des Stadtzentrums abgefahren war und dabei Alâa und Achmad zugehört hatte, das Auto an der Zufahrt nach Samâlik stoppte. Achmad stieg aus und öffnete den Kofferraum. Er nahm das Notebook und seine Kamera heraus, setzte sich wieder neben Alâa auf den Rücksitz, klappte den Laptop auf und stellte ihn Alâa auf den Schoss.

»Wohin fahren wir?«, fragte der.

»Nirgendwohin, wir bleiben im Auto sitzen.« Achmad begann die Ordner mit den Bildern zu öffnen. »Bevor ich dir Galâls Fotos zeige, möchte ich dich was fragen. Erinnerst du dich an den Vorfall in der Bar Vertigo?«

»Natürlich. Das war der Grund für eine der grossen Meinungsverschiedenheiten zwischen mir und Galâl.«

»Warum?«

»Weil das ursprünglich mein Thema gewesen war. Aber ohne eine Erklärung hat Galâl von einem Tag auf den andern die Recherchen an sich gezogen und natürlich alles geändert, was ich geschrieben hatte. Warum fragst du ausgerechnet danach?«

»Hast du in der Zeitung nie einen Umschlag mit Fotos von dem Vorfall erhalten?«

»Nein, nur ein Bild, das Galâl von einer Quelle in der Gerichtsmedizin bekommen hatte und auf das er seine Recherchen gestützt hat.«

»Dann sieh mal hier!« Achmad öffnete das erste Foto aus dem Hotel.

Als Bild auf Bild folgte, klappte Alâa die Kinnlade herunter, bis sie fast seine Knie erreichte. »Wie kommst du zu diesen Bildern? Wo war das?«

»Diese Bilder habe ich an Galâl gesandt, und ich war auch derjenige, der das Foto kurz nach dem Vorfall geschickt hatte. Galâl hat ein Interesse daran, diese Fotos geheim zu halten, genau wie er ein Interesse daran hat, die Sache mit Habîb Amîn zu vertuschen.«

»Dessen war ich mir sicher, aber dass es so schlimm ist, hätte ich mir nicht vorgestellt. Da hast du Fotos von einem Tötungsdelikt, das vor über einem Jahr passiert ist und zu dem die Ermittlungen eingestellt worden sind …«

»Und eine Boulevardzeitung, die sonst aus Wind eine Nachricht macht, will sie nicht publizieren. Ist das nicht seltsam?«

»Hast du versucht, die Bilder an eine andere Zeitung zu schicken?«

»Keine Reaktion.«

»Dann handelt es sich hier um Verdunkelung: Es muss ein Befehl von oben gekommen sein, dass über die Sache nicht gesprochen werden soll. Galâl kann sie nicht veröffentlichen. Und er wird nicht stillhalten. Was du gemacht hast, war gut, aber nicht genug.«

»Deshalb habe ich ja dich angerufen.« Achmad öffnete ihm die Schatzkammern seiner Geheimnisse, die Schatzkammern des Karûn35.

Alâa bekam Galâl als Liebhaber zu sehen, mit seinen Mädchen und ohne Maske. Habîb, Sally, Fathi al-Assâl und andere. Er sah sie nackt, und er kannte alle Gesichter, die Achmad unbekannt waren, auch die der Leute, deren Fotos nicht in den Zeitungen und im Fernsehen erschienen. Alâa war wie vom Donner gerührt und konnte kaum glauben, was er da sah.

»Was hältst du davon?«, fragte Achmad.

»Wovon? Du weisst doch, was diese Fotos bewirken können.«

»Falls jemand sich bereit erklärt, sie zu veröffentlichen.«

»Diese Fotos können ein Erdbeben auslösen, Achmad. Lauter schmutzige Szenen, die das Vertrauen der Menschen in diese Leute erschüttern können. Nehmen wir Farûk al-Basjûni. Käme irgendjemand auf die Idee, dass er eine Beziehung mit Ulâ Sâid hat? Ein Mann von solchem Gewicht, der abgelichtet wurde, während er mit so einer am Tisch sitzt, und sie streicht ihm auch noch durchs Haar! Du weisst ja, es gibt niemanden, der diese Ulâ Sâid noch nicht rangenommen hat. Von diesem berühmt-berüchtigten Mädchen gibt es die Aufnahme eines Telefongesprächs mit einem Mann, der sie wegen ihrer schmutzigen Beziehungen blossstellt, daraufhin beschimpft sie ihn und nennt ihn eine Schwuchtel. Galâl Mursi hat über Amr Hâmid recherchiert, dabei mehr oder weniger herausgefunden, dass es sich bei ihm um Graf Dracula handelt, und Châlid Askar in aller Ruhe nach dem Mann beissen lassen. Und währenddessen steckte er bis zum Hals in seinen Beziehungen zu kleinen Mädchen! Und dann al-Assâl von dem Lebensmittelkonzern, der die ganze Welt auffrisst! Weisst du, dass ich eine Akte über ihn habe, die ihn, wenn sie geöffnet würde, zur Hölle fahren liesse? Dieser Mann füttert uns mit Müll! Der bringt uns in die Krebsklinik! Denk mal zurück an die Achtziger, erinnerst du dich noch an das Hunde- und Katzenfutter, das sie damals als Corned Beef verkauften? Aber wer hätte mir denn allein aufgrund meiner Papiere und Unterlagen geglaubt? So war es schon damals, als ich noch in der Zeitung arbeitete, und was meinst du, wie es erst in meiner jetzigen Lage ist, da ich auf der Strasse stehe? Habîb Amîn ist der Sohn des drittgrössten Kopfes im Land. ›Wo hast du denn dieses ganze Zeug her? Reicht es immer noch nicht?‹, hiess es. Milliarden auf der Bank, Urlaubsresorts in Scharm al-Scheich, in Hurghada und an der Nordküste. Und dann Sally, die sich teuer bezahlen lässt, um dann die Tugendhafte zu spielen und laut zu jammern, wenn jemand sie an ihr Video mit Hischâm Fathi erinnert. Diese Leute machen sich selbst zum Narren, bevor sie uns zum Narren halten!«

»Und was, meinst du, sollen wir tun?«

»Wir lassen sie hochgehen!«

»Ich verstehe nicht.«

»Die Fotos, die du gemacht hast, werden ihre Verbrechen an den Menschen nicht ans Licht bringen, aber sie werden dafür sorgen, dass die Menschen keinen Respekt mehr vor ihnen haben. Sie werden ihr Vertrauen erschüttern. Dieses schlafende Volk liebt den Aufruhr. Zerschneiden wir das Tischtuch! Geben wir dem Volk einen Skandal, um es aufzuwecken! Reissen wir denen das Handtuch von den Lenden! Zeigen wir den Menschen, wer ihnen Essen und Trinken gibt und wo sie ihr Geld hintragen! Sie sollen die Hure sehen, die sich erst für mehrere Tausender in Bewegung setzt und dann sieben auf einmal bedient, während sich manche Wissenschaftler mit dem Allernötigsten begnügen müssen. Sie sollen erkennen, dass es so nicht weitergeht, erfahren, dass es einen grossangelegten Plan gibt, sie für dumm zu verkaufen und zu melken. Was ist das für ein Volk? Will es denn nicht endlich wach werden?«

»Hilfst du mir?«

»Was gibt’s da noch zu fragen? Zu jedem Einzelnen auf diesen Fotos habe ich Informationen, Unterlagen und Papiere. Man könnte sagen, ich habe Beweise. Aber es fehlt noch die richtige Würze. Informationen brauchen Bilder, die ihnen den Weg ebnen. Irgendwas, das die Zeitung fürchten lässt, ihr könne eine Sensation durch die Lappen gehen. Ich habe was über Habîb und al-Assâl. Weisst du, dass sie Partner sind? Aber Habîb hält sich bedeckt. Eine Quelle aus der Firma hat mir Unterlagen verschafft, die belegen, dass bei ihren Nahrungsmitteln im Hinblick auf die Vorschriften für Qualität und Haltbarkeitsdatum skandalöse Dinge passieren: bei Milch, Käse, Honig – der ganzen Palette. Dieser Mann verwendet bei der Produktion Substanzen, die nicht für den menschlichen Verzehr zugelassen sind – Formaldehydpulver ist noch das Geringste davon –, und nennt sie ›biologisch‹. Ich hatte die vollständige Akte beschafft und sie Galâl vorgelegt. Weisst du, was er gemacht hat? Er nahm sich die ganze Akte einschliesslich der Unterlagen und Zertifikate und versprach mir, sie zu durchzusehen. Und eine Woche später wurde ich von dem Angriff auf Nutrimental, ihren einzigen Wettbewerber, überrascht. Und von einer grossen Anzeige der Assâl-Gruppe auf der letzten Seite sowie Auszügen aus dem Artikel, den ich geschrieben hatte, aber diesmal nicht gegen Assâl, sondern gegen Nutrimental gerichtet! Inzwischen haben sie das Monopol auf dem Markt, einen Wettbewerber gibt es nicht mehr. Ich bin damals ausgerastet, und das leitete das Ende meiner Beziehung zu Galâl ein. Morgen fange ich an, nach einer anständigen Persönlichkeit Ausschau zu halten, die sich darauf einlässt, den Menschen diese Akten zu enthüllen. Die Sache kann nicht länger warten. Es wird eine breitgefächerte Reaktion auf deine Bilder geben, sie werden jedwede Zeitung ermutigen, meine Artikel zu veröffentlichen. Die Bilder werden sie verkaufen, sie werden das Ganze für den Leser attraktiv machen.«

»Noch was«, warf Achmad ein.

»Was denn?«

»Woher solltest du diese Bilder haben?«

»Ich darf meine Quellen niemals offenlegen.«

»Aber bei der ersten Ohrfeige wirst du reden!«, sagte Omar und sah Alâa im Rückspiegel an.

»Du kennst mich nicht«, erwiderte Alâa. »Wer sagt dir denn, dass ich mit so etwas noch keine Erfahrung habe? Mich hat die Staatssicherheit schon mehrmals am Wickel gehabt. Aber diesmal ist es anders. Das ist ein Skandal, der mit Fotos dokumentiert ist, der ist innerhalb einer Stunde in Assuan. Du vergisst, was das Video von Sally und Hischâm Fathi ausgelöst hat. Und diese Fotos sind noch schlimmer. Der Skandal wird zum Selbstläufer.«

»Und hast du keine Angst?«, fragte Omar.

»Wie ich dir gesagt habe, ich habe nichts mehr zu verlieren.«

»Und die Fotos von dem Massaker in der Bar?«, wollte Achmad wissen.

»Die sind das Tüpfelchen auf dem i. In ein paar Tagen wird ganz Ägypten wissen, wer Hischâm Fathi umgebracht hat. Es wird erfahren, welche persönlichen Interessen hinter dem Vorfall stecken. Aber erst nachdem Galâl den ersten Schlag hat einstecken müssen, damit er aus der Sache raus ist und verschwindet.«

Alâa war enthusiastisch und voller Energie. Mit seiner dunklen Haut, der kräftigen Statur und der breiten Stirn war er wie einer der Revolutionäre von 1919, die, erfüllt von ihren Prinzipien und im Glauben an ihre Sache, furchtlos der Korruption entgegenschrien.

Lange, bis in die Morgendämmerung, diskutierten die drei, und schliesslich kamen sie zu einer Übereinkunft. Alâa sollte eine Replik auf Galâls Behauptungen schreiben und sie in der Zeitung Freie Generation veröffentlichen. Diese war seiner Ansicht nach dafür am besten geeignet: neutral, rechercheorientiert und der moralische Gegenpart zu Galâl Mursis Zeitung. Sie wären dort sehr glücklich, den Gastgeber für Galâls Skandale spielen zu dürfen. Danach sollte Alâa einen grossangelegten, mit Fotos untermauerten Bericht über den Vorfall in der Bar Vertigo starten und schliesslich eine Kampagne gegen die einflussreichen Personen auf den Fotos aus Gûdas Nachlass. Achmad und Omar allerdings sollten, um Verdächtigungen aus dem Weg zu gehen, nicht in Erscheinung treten.

Die lange Nacht war vorüber, das Auto hielt in einer Seitenstrasse im Stadtzentrum. Als Alâa ausgestiegen war und sich von den beiden verabschieden wollte, hielt Omar ihn noch zurück: »Eine Sekunde!« Er griff nach der Kamera, richtete das Objektiv auf Alâa und machte ein Ganzkörperporträt von ihm.

»Was soll das?«

»Ich mach dir einen Ausweis«, antwortete Omar spöttisch.

»Lass ihn«, sagte Achmad. »Ich werde dich anrufen, um mich zu vergewissern, dass es dir gutgeht. Diese CD habe ich für dich gebrannt, da sind alle Bilder drauf.«

Alâa nahm sie und sagte: »Mach dir keine Sorgen. Überlass die Sache mir, und bete für mich!«

Zurück in seinem Bett, schlief Achmad drei Stunden, es waren die glücklichsten drei Stunden Schlaf seines Lebens. Schliesslich erwachte er voller Tatendrang und ging ins Studio. Ihm war, als wäre ihm ein schwerer Stein vom Herzen gefallen, der ihm beinahe den Rücken gebrochen hätte. Er selbst war einfach nicht so tüchtig wie Alâa und hatte auch nicht dessen Berufserfahrung, abgesehen davon, dass dieser von Rachedurst und dem heftigen Verlangen beherrscht war, seine Ehre wiederherzustellen, was die Fotos für ihn zu einer unschlagbaren Waffe machte.

Unterwegs kam Achmad an einem Zeitungskiosk vorbei, wo er sich die Freiheit kaufte. Er überflog sie, fand aber nichts, was mit den Fotos von der Bar Vertigo in Zusammenhang stand. Das wunderte ihn nicht, solch eine Reaktion hatte er von Galâl erwartet. Aber ein grosser Artikel, der die ganze vierte Seite einnahm, berichtete von Bildmanipulationen am Computer: von gefälschten Fotos im Internet, bei denen man die Köpfe arabischer und ausländischer Schauspielerinnen auf nackte Körper montiert hatte. Damit begann Galâls Präventivschlag, als Vorbereitung für das Erscheinen seiner eigenen Bilder in der Öffentlichkeit. Aber wie auch immer, in Achmads Verantwortung lag dies nicht mehr. Alâa hatte ihn gebeten, sich verborgen zu halten. Der Ball lag jetzt in dessen Feld. Zwei Wochen hatte Achmad ihm gegeben, damit sich die Lage beruhigen und er seine Entgegnung auf Galâl entwerfen konnte. Achmad kam sich vor wie jemand, der einen Patienten im kritischen Stadium ins Krankenhaus gebracht hatte, damit man dort sein Leben rettete. Aber seine Gedanken setzten ihm unaufhörlich zu. Weder tags noch nachts liessen sie ihn in Ruhe, was auch immer er ihnen entgegenschrie.

Würde Alâa Erfolg haben?

Zwei Wochen des Wartens lagen vor ihm. Und noch fünf Tage bis Sonntag – dem Tag, an dem er Ghâda treffen würde.