5

Gedämpfte Stimmen, aus denen man Fetzen von Koranversen heraushörte, und erstickte Schreie drangen aus Kamâl Ibrahîms früherer Wohnung, die jetzt Machmûd Hassîb gehörte. Sie liessen Achmad eine ganze Minute lang innehalten, während er zu begreifen versuchte, was da vor sich ging. Schliesslich malträtierte er mit aller Kraft die Türglocke. Die Stimmen verstummten, und er hörte jemanden schreien: »Hab ich nicht gesagt, die Klingel soll abgeklemmt werden?«

Schritte näherten sich der Tür, und sie öffnete sich.

»Friede und Gottes Segen sei über dir!« Ein ihm unbekanntes Mädchen mit einem Gesichtsschleier stand vor ihm.

»Âja?«

»Schwester Âja ist drinnen. Was soll ich ihr sagen, wer hier ist?«

»Ihr Bruder Achmad.«

Das Mädchen ging, und Âja trat an die Tür. »Friede sei mit dir!«, begrüsste sie ihn. »Komm, Achmad, geh direkt ins Zimmer geradeaus, Machmûd hat Besuch.«

Achmad ging an dem Raum vorbei, in dem Machmûd mit seinen Gästen sass, doch durch die Milchglasscheibe konnte er keinen von ihnen deutlich erkennen. In Âjas Zimmer setzte er sich hin und zog sie an der Hand zu sich heran. »Was ist da drinnen los?«, fragte er.

»Was geht dich das an, was los ist? Das sind Machmûds Gäste.«

»Ich hab von draussen Geschrei gehört.«

Âja schloss die Zimmertür, kam wieder zurück und sagte: »Sie haben eine bei sich, die Gott prüft. Er versucht, ihr zu helfen, Gott vergebe dir!«

»Wie will er ihr denn helfen?«

»Da ist ein Wesen aus der Geisterwelt, Gott steh uns bei, sie ist von einem ungläubigen Dschinn besessen.«

»Eher seid wohl ihr beide von einem Dschinn besessen! Was ist bloss mit dir passiert, Âja? Wenn du nicht so gebildet wärst, würde ich ja nichts sagen. Und ausserdem, seit wann treibt denn der Herr Computeringenieur Geister aus?«

»Sprich leiser! Die Leute werden dich hören, blamier mich nicht!«

»Was sind das nur für rückständige Ansichten, Âja? Was ist bloss aus euch geworden?«

»Die Dschinnen kommen im Koran vor und Besessenheit auch. Und Machmûd behandelt auch nur mit dem Koran, er ist ja kein Zauberer.«

»Und seit wann versteht er was davon?«

»Unser Herr hat Machmûd eine seiner Türen geöffnet und ihm Hellsichtigkeit und Heilkraft verliehen. Und ausserdem tun wir das alles für Gotteslohn, wir lassen uns dafür nicht bezahlen.«

»Dieser Kerl hat doch von nichts Ahnung, mein Mädchen! Weisst du, wohin das führt, was er tut? Das hier ist die Wohnung deiner Eltern, hast du das etwa vergessen? Und du willst ein Erholungsheim für Geister und Dämonen draus machen? Dabei hast du studiert, das heisst, du hast Grips, du bist nicht dein Leben lang hinter einer Büffelkuh hergelaufen, um dir das Gequatsche von so einem David Copperfield anzuhören.«

»Achmad, wenn du erlaubst: Sprich nicht in diesem Ton mit mir! Und ausserdem bist du …«

In dem Moment hatte Achmad den Blick nicht auf Âja gerichtet, sondern auf eine rechteckige Fläche an der Wand, die heller war als die Umgebung. Dort hatte einmal das Hochzeitsbild seiner Eltern gehangen.

»Wo ist das Bild geblieben?«, fragte er Âja.

»Es ist noch da.«

»Wer hat es weggenommen? Machmûd?«

»Ich hab es abgehängt, dazu brauchte ich ihn nicht.«

In dem Moment öffnete Machmûd, mit einem Bart, der noch länger und struppiger geworden war, die Zimmertür. »Friede sei mit dir!«, grüsste er. »Gehört sich das denn, dass es hier so laut ist, Âja, wenn wir Gäste haben? Wie geht’s, Meister Achmad?«

»Du hast doch wohl mich gemeint.«

»Deine Stimme ist noch am anderen Ende der Strasse zu hören, Meister Achmad. Ich habe Besuch.«

»So was könnt ihr doch in der Wohnung meines Vaters nicht machen, Machmûd Hassîb!«

»Dies ist mein Haus, in dem ich, bei Gott, machen kann, was ich will.«

Achmad wandte sich an Âja: »Und du bist natürlich mit ihm einer Meinung.«

»Du musst dich ein bisschen mit der Religion beschäftigen, Achmad«, meinte sie. »Sie besteht schliesslich nicht nur aus Beten und Fasten.«

»Aber auch nicht aus Geistern und Dämonen. Wo ist das Foto von Papa und Mama?«

»In dem grossen Karton auf dem Schrank.«

Erregt zog Achmad einen Stuhl heran und kletterte hinauf. Oben stiess er auf mehrere Stapel staubbedeckter Fotos, die einmal die Wohnung geschmückt hatten. Sie zeigten verschiedene Phasen aus seinem Leben und dem seiner Schwester: Aufnahmen von seinem Vater mit ihm auf der Schulter, eine von ihnen allen zusammen. Âja noch in Windeln, Fotos von Âja am Meer. Auf einem trug sie noch Zöpfe und sass mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem weissen Bambussessel. Er fand auch das Bild von dem weinenden Kind, das in den siebziger Jahren zu jedem anständigen Haushalt gehörte, aus Holz geschnitzte afrikanische Elefanten und ausserdem Zeugnisse und Dokumente, die einmal Wert besessen hatten. Erinnerungsstücke, die sein Vater aufgehoben hatte und die nun das Einzige waren, was von ihm, von seinem mühseligen Lebensweg noch übrig war.

Achmad wischte den Staub fort. »Bilder sind tabu, stimmt’s?«

»Wenn du lesen würdest, dann wüsstest du, dass sie von Dschinnen bewohnt und alle unrein sind«, antwortete Machmûd.

Achmad warf ihm einen bösen Blick zu, so dass er verstummte, und schaute zu Âja hinüber, die sich in eine Ecke verkrochen hatte. »Wenn das so ist, Âja, dann gehe ich.«

»Achmad, Gott zeige dir den rechten Weg, warte, versteh doch! Machmûd hat es nicht so gemeint. Aber es stimmt, Fotografieren ist tabu, es gibt sehr viele Hadithe, die es uns untersagen. Und ausserdem habe ich die Bilder ja nicht weggeworfen, ich hab sie nur beiseitegeräumt.«

»Die Menschen beten die Bilder also an. Und was für Dschinnen sollen das sein, die darin wohnen? Das war die Arbeit deines Vaters, mein Mädchen, mit der er dich grossgezogen hat. Und jetzt sollen darin Geister wohnen?«

Im Gehen versetzte er Machmûd einen Stoss gegen die Schulter. Vor dem Zimmer, in dem sich die Gäste aufhielten, blieb er noch einmal stehen, öffnete die Tür und sah vor sich drei Männer vom Lande und ein schönes, etwa zwanzigjähriges Mädchen mit schweissüberströmtem Gesicht. Es lehnte an der Schulter einer alten Frau und hatte seine Augen wie abwesend zur Zimmerdecke gerichtet. Einen Moment lang sah er zu ihr hin, dann zog er sich zurück und ging zur Wohnungstür, während Machmûd ins Schlafzimmer eilte und mit einem weissen Umschlag zurückkam.

»Warte, Meister Achmad!«, rief er und hielt ihm das Couvert hin.

Achmad blickte zu Âja, die auf dem Weg zur Tür wieder ihren Gesichtsschleier angelegt hatte, so dass er in ihren Zügen nicht lesen konnte. »Was ist das?«, fragte er sie.

»Âja hat keine Geheimnisse vor mir«, antwortete Machmûd an ihrer Stelle. »Mir kommt kein verbotener Piaster ins Haus. Die Ausgabe kannst du dir sparen.«

Achmad wusste, was in dem Umschlag war, er klemmte ihn sich zu den Fotos unter den Arm, die er, weil es so viele waren, schon so nur mit Mühe halten konnte. Mit einem letzten, ausdruckslosen Blick zu Âja verliess er die Wohnung.

Er lief ein grosses Stück, bis er müde wurde und sich deshalb vom Gisaplatz zum Kasino ein Taxi nahm. Währenddessen ging ihm nur eines durch den Kopf: Er dachte daran, wie sie früher jedes Jahr alle zusammen nach Alexandria gefahren waren, wie sein Vater dort mit Âja herumgealbert hatte, dachte an die Eiscreme und die firîska genannten gefüllten Waffeln, wie man am Meer entlanggerannt und Tretboot gefahren war oder den Vergnügungspark von al-Agami besucht hatte. Damals war alles so friedlich gewesen wie eine sanfte Welle, wie das Lächeln seiner Schwester, wenn sie auf Kamâls Schulter sass und glücklich ihr Händchen nach dem Meer ausstreckte.

»Wo bist du gewesen, Achmad?«

Er war im Kasino angekommen, in sein Zimmer gegangen, hatte die Bilder neben seine Matratze gelegt und das von seinen Eltern an die Wand gehängt. Dann hatte er gedöst, bis Gûda zu ihm hereingekommen war. »Nirgendwo, Onkel Gûda«, antwortete er. »Ich habe nur meine Schwester besucht und ein paar alte Fotos von meinen Eltern mitgebracht.«

»Warum sind die Bilder so staubig?«

»Sie lagen auf einem Schrank.«

»Du siehst nicht froh aus, was ist los?«

»Nichts, Onkel Gûda, mir geht’s gut. Wie spät ist es?«

»Es ist Viertel vor zehn, und so langsam wird es voll.«

»In fünf Minuten komme ich zu dir.«

»Willst du mir denn nicht sagen, was du hast?«

»Später, Onkel Gûda, später.«

An diesem Tag war der Saal bereits früher als üblich gedrängt voll, denn es war Donnerstag, der Geburtstag des Teufels, wie man sagt.

Die Tische hatten sich gefüllt, Gläser und überladene Teller mit Vorspeisen standen darauf. Lärm und Gelächter, ineinander wabernde Parfumdüfte, Rauch, enganliegende Kleider, Hände, die sich darunter zu schaffen machten, verstohlene Küsse und hungrige Blicke.

»Wer ist das, Onkel Gûda?« Achmad zeigte auf einen Mann, den er noch nie im Kasino gesehen hatte.

»Wen meinst du?«

»Dritte Reihe links.«

»Das, mein Junge, ist Galâl Mursi von der Zeitung Freiheit.«

Achmad verschlang ihn mit Blicken: spiegelnde Glatze, knapp fünfzig, grosse Augen, die aussahen, als wären sie mit Kajal umrandet, blendend weisse Zähne, eine scharfe Nase, schlanke Finger mit langen Nägeln, kohlschwarzes, weil frisch gefärbtes Haar. Dazu ein Benzinfeuerzeug, das er ständig nervös auf- und zuklappte, und zwischen den Fingern eine Zigarette, mit der er wie mit einem Geburtsfehler schon auf die Welt gekommen zu sein schien.

»Ist der zum ersten Mal hier?«

»Nein, er ist Stammgast. Aber er kommt nur hin und wieder.«

»Und wer ist die, die da bei ihm sitzt?«

»Du stellst aber viele Fragen! Eine wie all die anderen, die sich hier rumtreiben.«

»Man sieht ihm nicht an, wer er ist. Wer seine Zeitung liest, würde ihn sich ganz anders vorstellen.«

»Hier drinnen sind die Menschen nicht so wie draussen. Das ist hier wie eine Toilette, wo man all die Dinge tut, die einem vor anderen peinlich sind: die Hose runterlassen, vor dem Spiegel singen, üble Gerüche produzieren. Und zwar in aller Seelenruhe. Hauptsache, man fühlt sich erleichtert, wenn man wieder geht.«

»Soll ich mal schauen, ob er fotografiert werden möchte?«

»Vergiss es, das hat gar keinen Zweck. Der macht uns sonst noch den ganzen Laden dicht. Er mag keine Bilder. Aber er ist grosszügig zu uns.« In dem Moment traf sich Galâls Blick mit Gûdas, der ihm zuwinkte: »Exzellenz Pascha!«

Mit müdem Lächeln winkte Galâl zurück, warf einen Blick in seine rechte Jacketttasche und machte dann Gûda ein Zeichen, zu ihm zu kommen. »Wie geht’s, Gûda?«, fragte er. »Alles in Ordnung?«

»Sie haben uns gefehlt, Pascha, das Lokal ist finster ohne Eure Exzellenz.«

»Finster ist es so oder so, ob ich hier bin oder nicht, du alter Scharlatan.« Er drückte Gûda einen dunkelroten Geldschein in die Hand.

Gûda verneigte sich und dankte ihm, dann kam er zurück zu Achmad, der die Szene von weitem beobachtet hatte.

»Und?«, fragte er. »Ist was mit ihm?«

»Der Mann ist prima, ein anständiger Gast. Jedes Mal fünfzig Pfund, wenn er kommt, ohne dass man ihn fotografiert.«

»Hat er sich noch nie ablichten lassen?«

»Doch, früher, bevor er Chefredakteur wurde, schon.«

Die ganze Nacht über liess Achmad kein Auge von Galâl Mursi. Noch nie hatte er jemanden so viel trinken sehen. Trotzdem blieb er aber Herr seiner Sinne, als tränke er nur Zuckerrohrsaft. Zwei-, dreimal stand er auf, um zur Toilette zu gehen, und einmal trat er für ein längeres Telefonat auf die Strasse, damit der Lärm im Saal ihn nicht störte. Dem Mädchen, das neben ihm sass und noch sehr jung aussah, strich er so oft über den unteren Rücken, dass sie an dieser Stelle, als sie aufstand und ins Bad ging, um das Gerstenfeld wieder loszuwerden, das sie in verflüssigter Form zu sich genommen hatte, schon ganz wund geworden war. Gegen Ende des Abends schloss sich ihm auch noch Kamar an, eine semiprominente Aktrice, die in zwei Szenen eines gerade im Kino laufenden Films eine betörende Prostituierte spielte und die Menschen mit ihrer Darstellung überwältigte. Sie trug dort ein Kleidchen wie für eine Vierjährige, unter dem man ohne weiteres ihre Windeln sehen konnte.

Gelächter war zu hören, man erzählte sich Neuigkeiten aus dem Milieu und Witze. Dabei war Galâls Sprachfehler deutlich erkennbar, wie sehr er auch versuchte, ihn zu kaschieren. Den Buchstaben R konnte er nicht richtig aussprechen, und damit diese Schwäche nicht auffiel, verschluckte er ihn, verbarg ihn in einem Wortschwall oder suchte sich Sätze, in denen er nicht vorkam. Einmal zog er sein Handy heraus und zeigte Kamar ein Foto, über das sie so lachen musste, dass sie beinahe mit dem Stuhl umfiel. Anschliessend nahm sie ihr Telefon und öffnete vor seinen Augen ein anderes Bild, offenbar unanständiger Art, denn sie schirmte das Display mit den Händen ab. Schliesslich fingen sie an, über Bluetooth Fotos auszutauschen.

Da blitzte eine Idee in Achmads Kopf auf. Er wandte sich zu Sâmi, dem Barmann, der neben ihm stand. »Könnte ich für eine Minute dein Handy haben, Abu Sâm? Nimm’s mir nicht übel, mein Guthaben ist aufgebraucht.«

»Aber gern, mein Lieber, hier, bitte sehr!«

Achmads Telefon war nicht mehr neu. Es gehörte noch zu den Modellen der ersten Generation, mit denen man nichts weiter anfangen konnte, als anzurufen oder angerufen zu werden. Und natürlich hatte es kein Bluetooth. Er hatte die neuen Modelle immer im Blick, aber das Auge sieht mehr, als die Hand erreichen kann, wie man so sagt.

Achmad scrollte durch die Menüs, bis er die Funktion gefunden hatte. Eine Weile dachte er über einen Namen nach, der Galâl dazu verführen würde anzurufen, und änderte den Benutzernamen in »Lolita«, das hörte sich verrucht an. Er drückte auf »Scannen« und wartete kurz, bis die Suche nach den Geräten in der Umgebung beendet war. Drei Namen erschienen: Kamar, Laila und GM. Achmad wählte letzteren. Man brauchte nicht besonders schlau zu sein, um sich denken zu können, dass dies Galâl Mursis Initialen waren. Also schickte er ihm eine Einladung: ein Foto vom Saal, aus seinem Blickwinkel heraus aufgenommen.

Fast sofort empfing Galâl die Nachricht auf seinem Handy. Stolz lächelnd blickte er sich nach diesem Mädchen, dieser »Lolita«, um, konnte sie aber nicht finden. Trotzdem nahm er die Einladung an und las die Nachricht, die Achmad auf gut Glück gesendet hatte – wie ein Fischer, der nur eine Sorte Köder benutzt: »Wenn dir achtzehn Jahre zu jung sind, dann ruf mich nicht unter dieser Nummer an!«

Galâl konnte dem Ruf der Natur nicht widerstehen. Er entschuldigte sich bei Kamar mit einem geschäftlichen Telefonat, stand auf und rief bei seiner ersehnten Beute an. Als Achmad spürte, wie Sâmis Handy vibrierte, stellte er es rasch stumm, bevor es klingeln konnte. Sobald die Nummer auf dem Display erschien, drückte er auf »Ablehnen«. Erstaunt über diese Reaktion, versuchte Galâl es noch einmal, aber wieder unterbrach Achmad den Anruf. Galâl machte ein finsteres Gesicht, vielleicht würde die junge Dame daran erkennen, dass ihre dummen Witze ihm nicht zusagten. Doch nach kurzem Warten kehrte er an seinen Tisch zurück und betrachtete mit seinen kajalumrandeten Augen die Frauen im Saal. Nachdem Achmad die Bluetooth-Funktion deaktiviert hatte, gab er dem Handy wieder seinen früheren Benutzernamen, übertrug Galâls Nummer auf sein eigenes Telefon, löschte sie in dem geliehenen und schaltete es vorsichtshalber aus. Er bedankte sich bei Sâmi, aber dieser hatte alle Hände voll zu tun und beachtete ihn nicht weiter.

Unterdessen nahm man an Galâls Tisch die intimen Unterhaltungen wieder auf. Galâl zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche, schrieb ein paar knappe Worte hinein und hörte dabei Kamar aufmerksam zu, die ihm eine Geschichte zu erzählen schien. Achmad versuchte, ihn zu fotografieren, aber er fürchtete, von ihm, Gûda oder einem der anderen Angestellten bemerkt zu werden und sich verdächtig zu machen. Daher wartete er, bis Sally mit ihrem Auftritt begann, mischte sich unter die Menge und platzierte seine Kamera auf der Bar. Das Objektiv richtete er auf Galâls Tisch und legte lässig seine Hand darum, bis aller Augen sich daran gewöhnt hatten, ihn an diesem Ort zu sehen, und ihn nicht mehr beachteten. Er schaltete den Blitz aus und machte eine Probeaufnahme von seinem Zielobjekt. Anschliessend wartete er noch einen Moment, bis das Bild auf dem Display erschien, aber es war unscharf. Also änderte er die Position der Kamera und drückte noch einmal auf den Auslöser. Diesmal hatte er getroffen, und er machte vier weitere Aufnahmen. Immer wieder vergewisserte er sich, dass das Gewünschte darauf war. Schliesslich hatte er jedoch das Gefühl, dass man auf ihn aufmerksam wurde, und so zog er sich zurück, ging wieder zu Gûda in den hinteren Teil des Saals und fotografierte die Gäste. Galâl liess er dabei jedoch nicht aus den Augen, bis die Uhr halb fünf anzeigte.

Da stand Galâl auf, legte seiner Freundin die Hand um die Taille, verabschiedete sich von Kamar mit zwei Wangenküsschen und einer schnellen Umarmung, zahlte grosszügig und ging seelenruhig hinaus. Achmad blieb zurück und machte sich die verbliebenen zwei Stunden der Nacht Gedanken über das, was er gesehen hatte. Aber er verstand es einfach nicht.

Hier war der Chefredakteur der Freiheit, von der er einmal geglaubt hatte, sie werde ihm dabei helfen, die dürftigen Fotos zu veröffentlichen, die er an dem Tag, an dem er seinem Freund Lebewohl sagte, geschossen hatte. Er wusste, dass sie nicht zufriedenstellend waren, aber um Ermittlungen anzustossen, hätten sie gereicht.

Lange allerdings staunte er über das im Kasino Gesehene nicht. Die Reaktion der Zeitung – sie hatte unmittelbar nach dem Vorfall die Fotos als ihre eigenen veröffentlicht – hatte ihre Tendenz schon allzu deutlich gezeigt. Trotzdem hielt Achmad sie noch für die beste unabhängige Zeitung und las sie weiterhin jede Woche, ungeachtet dessen, was geschehen war. In ihr fand er die Gesellschaft abgebildet, so nackt, wie Gott sie geschaffen hatte: viel Sensationshascherei und ein bisschen Wahrheit, Verschwörungen, Intrigen, erschreckende Sexgeschichten, deren Helden nur mit den Initialen genannt wurden, ein paar politische Themen und viel Korruption. Nichts Positives kam vor, nicht einmal bei den Karikaturen, es ging allein darum, einen Leser zu befriedigen, der nach einem Stein suchte, um ihn in ein stehendes Gewässer zu werfen, nur um irgendetwas zu verändern und seine aufgestaute Energie loszuwerden, um eine Welle zu provozieren, die seine Gedanken anstiess, aufstörte, korrigierte, voranbrachte und entfesselte – und anschliessend wieder zur Ruhe zu kommen wie ein unfruchtbares Weib nach einer anstrengenden Geisteraustreibung, einzuschlafen und die Morphiumdosis, die er geschluckt hatte und die ihm das Lamentieren ersparte, auf sich wirken zu lassen. Denn was er gelesen hatte, war ihm genug. Er gab sich mit Galâl Mursis Agitation und seinen Schlägen gegen die grossen Bosse zufrieden, als wäre die Welt damit wieder in Ordnung gebracht und bestünde kein Anlass mehr für eine Intervention von seiner Seite. Denn was sollte er noch hinzufügen, nachdem der grosse Whistleblower, der die Mächtigen ohne jede Zurückhaltung angriff und züchtigte, schon alles gesagt hatte?

Die Schicht ging zu Ende, und Achmad verbrachte den Rest der Nacht vor dem Computer, wo er auf die Fotos starrte, heran- und herauszoomte, sie vor- und zurückschob, als sähe er sie immer wieder zum ersten Mal. Schliesslich legte er sie an einem sicheren Ort ab, neben den Fotos von dem Hotelmassaker und anderen Bildern, die ihm am Herzen lagen. Auch die Telefonnummer, die er auf seinem Handy gespeichert hatte, hielt er fest. Von irgendetwas fühlte er sich dazu getrieben. Der Kopf schwirrte ihm vor Gedanken, die sich erst allmählich verflüchtigten, bis schliesslich der Schlaf sie ausschaltete.

Etwa zehn Stunden vor diesen Ereignissen stand Ghâda in der Galerie, in der sie arbeitete, hinter dem Schaufenster, den Blick starr auf die Strasse gerichtet, wo Auto um Auto vorbeiflitzte und die Fussgänger so schnell vorüberhasteten wie in einem Charlie-Chaplin-Film.

Die Nachmittagssonne fiel auf die Scheibe, und als Ghâda ihr Spiegelbild darauf bemerkte, begann sie ihre Züge zu studieren, als sähe sie sich zum ersten Mal. Ein wenig blass war sie, aber schön, das wusste sie. Ihr Teint war bronzefarben, die Stirn gerade und die Nase klein und scharf. Ihr Lächeln enthüllte feine Zähne, die zwischen den vollen Lippen zwei regelmässige Reihen bildeten, und in ihren grossen Augen schwammen auffallend honigfarbene Iris. Von ihrem gewellten dunkelbraunen Haar, das ihr bis halb über den Rücken reichte, war nur eine Strähne zu sehen, die unter dem zu einem Flamencoknoten gebundenen Kopftuch hervorgerutscht war. Ein hinreissender Schönheitsfleck sass oben an ihrem langen Hals, der auf einem feingliedrigen Körper ruhte. Er sah ganz ähnlich aus wie der eines altägyptischen Mädchens, hätte ein solches die Fakultät der schönen Künste an der Hilwân-Universität absolviert. Lange blieb sie so in Gedanken versunken, doch schliesslich bemerkte sie vor sich einen jungen Mann mit einer Kamera in der Hand, deren Objektiv er auf sie gerichtet hatte. Aber kaum war sie aus ihrer Geistesabwesenheit erwacht, war er verschwunden. Schon zum zweiten Mal war ihr dieser junge Mann aufgefallen. Beim ersten Mal hatte eine Kollegin ihn bemerkt und geschworen, er habe sie fotografiert. Und jetzt war er wieder da.

»Ghâda! Ghâda, Telefon!«

Die Stimme flüsterte in ihrem Ohr, als wolle sie ihr ein Geheimnis verraten. Ghâda streckte die Hand nach dem Ding aus, das, sorgfältig zwischen ihren Haarlocken verborgen, in ihrer Ohrmuschel steckte, und vergewisserte sich, dass der Regler auf drei stand. Ghâda war gehörlos. Gesund geboren, hatte sie mit fünf Jahren eine Entzündung gehabt, die ihren Hörnerv stark geschädigt hatte. Sprechen konnte sie, aber Stimmen nahm sie nur als ein Zischen wahr und musste daher auf die Lippenbewegungen ihres Gegenübers achten, um den vollen Sinn des Gesprochenen zu erfassen.

»Telefon! Deine Schwester.«

Ghâda ging zum Apparat. »Hallo?«

»Hallo, Ghâda, wie geht’s?«, fragte Mijâda. »Wann machst du heute Schluss?«

»Um fünf. Wo bist du denn?«

»In der Uni. Hâsim und ich kommen bei dir vorbei. Ich rufe kurz durch, wenn ich da bin.«

»In Ordnung.«

»Hast du zu Mittag gegessen?«

»Nein, noch nicht.«

»Gut, dann bring ich dir was mit. Ich besorg dir was, okay?«

»In Ordnung. Komm nicht zu spät!«

»Natürlich nicht. Ich muss jetzt Schluss machen, ich rufe mit Hâsims Handy an. Bye!«

»Bye!«

Ausser Mijâda hatte Ghâda niemanden mehr auf der Welt. Ihr Vater war gestorben, und ihre Mutter arbeitete Tag und Nacht, um für die Zukunft ihrer beiden Töchter, den Lebensunterhalt, die Aussteuer und alles Weitere zu sorgen.

Ghâda hatte ein Studium an der Fakultät der schönen Künste der Hilwân-Universität absolviert, während ihre Schwester sich zwei Jahre lang an ihrem sündhaft teuren Privatinstitut in der Stadt des 6. Oktober abgestrampelt hatte. Nach dem Studium hatte Ghâda in der Möbelgalerie angefangen, einer von der Sorte, die pro Stuhl dreitausend Pfund verlangt. Sie lag in einer Villa mit Aussicht auf den Zoo in der Murâdstrasse in Gisa. Ghâda lernte schnell, und bald gehörte sie, obwohl die Jüngste von allen, dort zu den alten Hasen. Alle im Geschäft liebten sie, vor allem die Eigentümerin. Abgesehen davon spielte sich ihr Leben zwischen ihrem Zuhause und dem ihrer Freundin Abîr ab.

Sie wusste um ihre Schönheit, aber ebenfalls wusste sie, dass sie eine Aussenseiterin war. Oft war sie in Gedanken bei ihrem Traummann auf dem Schimmel – aber das Pferd geriet auf der Schwelle des Hauses stets ins Straucheln und fiel auf die Nase, sobald es ihre Hörhilfe sah. Wenn sie von der Arbeit kam, legte sie das Gerät immer gleich ab, um in ihre stille Welt fernab vom Lärm des stressigen Lebens zurückzukehren. In ihrer Pubertät war die Liebe, die sie spürte, so still gewesen wie ihr Gehör, nie war sie über Blicke hinausgegangen, und wenn sie begriff, dass ihr etwas Wichtiges fehlte, das sie nie würde geben können, endete sie genauso leise, wie sie begonnen hatte. Einmal verlobte sie sich mit einem Verwandten, aber auch daraus wurde nichts.

Die glückliche Mijâda hingegen war ein kesses Mädchen, das alle Aufmerksamkeit auf sich zog, liebenswürdig und gedankenlos, und sie hatte keine anderen Sorgen als einen Plausch im Café, neue Kleider, ihre Freundinnen, ihr Handy und Hâsim. Hâsim war ein grosser, gutaussehender junger Mann mit glänzendem Haar und bronzefarbener Haut, ihr Kommilitone, Freund und zukünftiger Verlobter, dessen Nummer jetzt auf dem Handydisplay in Ghâdas Tasche aufleuchtete, damit sie an der Vibration spürte, dass ihre Schwester draussen auf sie wartete. Sie hängte sich die Tasche über die Schulter, verabschiedete sich von ihren Kolleginnen, ging zu Mijâda und Hâsim hinaus, klemmte sich auf den Rücksitz seines Autos und fuhr mit ihnen nach Hause.

Achmad hatte zwei Stunden geschlafen, als er von einem heftigen Klopfen geweckt wurde, das die Tür seines kleinen Zimmers fast aus den Angeln riss. Erschrocken stand er auf und fand den ganzen Raum von einem blutroten Licht erhellt, wie man es früher in der Dunkelkammer benutzte. Es drang unter der Zimmertür und aus einem kleinen Lüftungsschlitz in der Wand herein. Er tappte aus dem Bett und öffnete die Tür. Vor ihm stand Sajjid Kadari, der Türsteher des Kasinos.

»Achmad, was machst du denn hier so allein?«

»Was ist los, Sajjid?«

»Weisst du es denn noch nicht? Das Kasino brennt! Gut, dass ich an dich gedacht habe. Nimm deine Sachen und komm!«

»Was ist denn passiert? Wie viel Uhr ist es?«

»Es ist früher Morgen.«

»Ist jemandem was passiert? Wo ist Onkel Gûda?«

Aber er erhielt keine Antwort. Sajjid war verschwunden. Bevor Achmad sich’s versah, stand er im Kasino, das nur noch Asche war. Der Geruch von verbranntem Fleisch, schwarzverkohlte Leichen, Wände, die ihre Farbe verloren hatten, undurchdringliches Chaos.

Neben einem der Tische sank er mit dem Fuss in etwas Klebriges. Er zuckte zusammen, als er begriff, dass es eine Leiche war – eine Leiche, die ein Benzinfeuerzeug umklammert hielt: Galâl Mursi. Seine Fingernägel waren zum Teil verbrannt, Spuren von rotem Nagellack waren darauf zu sehen.

»Das ist Galâl Bey.« Es war Sajjid. »Er hat das Feuer verursacht, sein Feuerzeug ist auf den Boden gefallen, hat den grossen Teppich in Brand gesetzt, und dann haben die Flammen alles aufgefressen.«

»Wo ist Onkel Gûda? Ist er nach Hause gegangen?«

»Nein. Als er gehört hat, dass es brennt, ist er wieder zurückgekommen.«

»Und wo ist er?«

»Da, bei der Bühne.«

Mit äusserster Anstrengung und wie in Zeitlupe lief Achmad durch die Trümmer. Nicht das Chaos hielt ihn auf, vielmehr hatte er innerlich das Gefühl, zu schnellerer Fortbewegung nicht fähig zu sein, als flösse in seinen Adern Gummiarabikum statt Blut. »Onkel Gûda!«, rief er.

Dann bot sich Achmad der sonderbarste Anblick, den er sich je hätte vorstellen können: Gûda sass neben der Bühne, trug eine saubere und adrette khakifarbene Uniform, hielt einen Teller mit einem halbverbrannten Kuchen in der Hand und verschlang ihn gierig.

»Onkel Gûda, was machst du da?« Aber er antwortete ihm nicht. »Onkel Gûda, warum sitzt du hier herum? Der Gestank bringt einen ja um. Steh auf, lass uns rausgehen!«

»Mit unserem täglichen Brot ist es vorbei, Achmad. Komm, nimm dir, was du tragen kannst, und verkauf es! Du kommst mit und wohnst bei mir.«

»Aber ich bin noch nie in diesem Amirîja gewesen.«

»Du gewöhnst dich schnell dran.«

Achmads Blick blieb an dem nackten Körper eines hellhäutigen Mädchens hängen, der mit dem Gesicht nach unten lag und in seinen Formen an die Tänzerin Sally erinnerte. Plötzlich gingen alle Lichter aus. »Kannst du aufstehen, Onkel Gûda? Ich sehe nichts mehr. Onkel Gûda, Onkel Gûda, antworte mir!«

»Geh du, Achmad, ich warte noch, bis es Tag wird.«

Achmad sah nur Galâls Feuerzeug, das in der Dunkelheit matt phosphoreszierte. Er wusste nicht, was ihn dazu trieb, aber er nahm es an sich.

Nur mit Mühe konnte er es den miteinander verschmolzenen Fingern entwinden, dann rannte er hinaus, um sich im nächsten Augenblick vor der Tür seiner Wohnung in Sajjida Sainab wiederzufinden. Er zog den Schlüssel heraus und steckte ihn ins Schloss, das jedoch nicht reagierte. In dem Moment öffnete seine Mutter die Tür.

Achmad war verblüfft und konnte nicht an sich halten, er weinte und schluchzte laut auf. Stöhnend umarmte er sie, sog ihren Duft ein, den er so lange vermisst hatte. »Mama, du lebst?«

»Ja, mein Liebling. Habe ich dir nicht gesagt, ich komme wieder? Möchtest du zu Mittag essen, Schatz?«

»Das Kasino ist abgebrannt, und ich habe grossen Hunger.«

»Komm rein, wasch dir erst mal das Gesicht, dann reden wir.«

Er ging ins Bad, um sich zu waschen, und schaute in den Spiegel. Da erblickte er durch den transparenten Duschvorhang etwas Dunkles. Als er ihn beiseiteschob, sah er seine Schwester Âja in der Wanne liegen. Sie trug ihren Gesichtsschleier, aber ihre Kleidung war bis zu den Oberschenkeln hochgezogen. Sie schlief fest und schnarchte laut. Er versuchte nicht, sie zu wecken, deckte sie aber zu und ging wieder zum Waschbecken, wo er seine Kamera fand. Wieder begann er, sich zu waschen, da fiel sein Blick auf einen blassgelben Wurm, der sich neben der Kamera in der Seifenschale krümmte. Er nahm ein Papiertuch, um ihn in die Toilette zu werfen, da bemerkte er noch einen. Ekel überkam ihn, als er einen dritten unter der Kamera hervorkriechen sah. Er nahm sie in die Hand, öffnete das Fach für die Speicherkarte und schrak zurück, als er eine ungeheure Menge von Würmern und schwarzen Käfern in der Kamera umeinander herumkriechen und -krabbeln sah. Entsetzt warf er sie ins Waschbecken und lief aus dem Bad. Da bemerkte er, dass das Mädchen aus der Möbelgalerie neben seiner Mutter sass und sich allem Anschein nach sehr vertraut mit ihr unterhielt. Das Mädchen, bei dem er nicht anders konnte, als sie zu fotografieren und ihre Bilder an seinem sicheren Ort auf dem Computer zu sammeln.

Dicker Schweiss trat ihm auf die Stirn, durchtränkte sein Haar und liess es nach allen Seiten abstehen. Seine Beine waren bis zu den Knien entblösst, und die Bettdecke hatte er mehrmals um sich gewickelt. Er lag auf dem Gesicht, so dass seine Brust eingeschnürt und seine Atemwege blockiert waren. Nun setzte er sich halb auf, schnappte nach Luft und blickte heftig keuchend auf den Speichel, der ihm länger als eine Stunde aus dem Mund geflossen war und auf dem Laken eine grosse Lache gebildet hatte. Ein paar Augenblicke brauchte er, um sich wieder zu sammeln. Ein seltsamer Albtraum war das gewesen, er hatte das Gefühl, eine Woche lang geschlafen zu haben. Auf der Uhr des Handys neben sich sah er, dass es halb drei nachmittags war. Er konnte sich nicht erinnern, je zuvor so detailreich geträumt zu haben. Alles war ihm im Gedächtnis geblieben, als hätte er es selbst erlebt: das Feuer, Galâl, Gûda, das nackte Mädchen, seine Mutter und seine Schwester, die Würmer … und das Mädchen aus der Möbelgalerie. Er zündete sich eine Zigarette an, blickte in den Rauch und fragte sich: Wo bist du nun, Traumdeuter Jûssuf?

Der Tag verlief in der üblichen Routine. Achmad unternahm eine Expedition, um ein neues Restaurant zu finden, wo er seinen Magen besänftigen konnte, der von Kuschari, Sandwiches und nächtlichen Einkäufen in Lebensmittelgeschäften ziemlich mitgenommen war. Es war die tägliche Tour, ähnlich der täglich wiederkehrenden Marter des Prometheus, der, weil er das Feuer gestohlen hatte, von Gottvater Zeus bestraft wurde. Man hängte ihn zwischen zwei Felsen auf, wo ein Adler seine Leber frass, die aber jeden Tag wieder nachwuchs, so dass er am folgenden Tag die gleiche Qual zu erwarten hatte. Achmad sehnte sich sehr nach dem selbstgekochten Essen seiner Mutter. Alle fünf Minuten kamen ihm die Ereignisse aus seinem Traum wieder in den Sinn, und ihn beschlich das Gefühl, es liege eine Botschaft darin verborgen. Lange schon hatte er nicht mehr solche Visionen gehabt.

Er lief durch die Strassen, bis er zu der Galerie kam, wo das Mädchen arbeitete. Auf der anderen Strassenseite stellte er seine Kameratasche neben sich auf eine Bank, packte seine Mahlzeit aus und begann zu essen. Er wünschte sich, sie würde auftauchen. Schliesslich ging sie am Schaufenster vorbei. Wie gelassen sie war! Und so schön mit ihrem Lächeln, wenn sich in ihren Wangen zwei Grübchen bildeten … die Art, wie sie ging … Er sah, dass sie in die Nähe des Telefons kam. Da hatte er eine Idee. Er stand auf, zog seine Menatel-Telefonkarte aus der Tasche und rief von der Kabine neben der Bank aus die Nummer an, die unten auf dem Galerieschild stand.

Laut hörte er den Wählton in seinem Ohr, sein Herz flatterte, und sein Atem flog von all dem Adrenalin, das seine Nebennieren gerade ausschütteten und das sich nun in sämtliche Glieder ausbreitete, um sie aufzuwecken und zu stimulieren. Zweimal räusperte er sich und fasste dabei sein Ziel ins Auge. Sie blieb neben dem Telefon stehen, als höre sie es nicht klingeln, bis ein anderes Mädchen kam und abnahm.

»Creation Gallery, hallo? … Hallo?«

Aber schon vor dem zweiten »Hallo« hatte Achmad aufgelegt. Sein Atem kam etwas zur Ruhe, und er ging zu seiner Bank zurück. Dann stand er jedoch wieder auf, steckte die Karte erneut in den Schlitz und wählte die Nummer. Aber bevor er durchkam, hatte er die Karte schon wieder herausgezogen. Noch einmal steckte er sie hinein, hörte den Wählton. Obwohl das Mädchen direkt neben dem Telefon sass, rührte sie sich nicht.

»Creation Gallery, hallo?« Das war wieder die Stimme des anderen Mädchens.

»Ja, hallo, guten Tag. Ist dort die Creation Gallery?«

»Ja, mein Herr, guten Tag. Mit wem spreche ich?«

»Ähm, ich bin Ingenieur Kamâl Ibrahîm, ich würde gerne Ihre Öffnungszeiten erfahren. Ich bin nämlich mal bei Ihnen gewesen, und da war die Galerie geschlossen.«

»Wir haben jeden Tag, ausser freitags, von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends geöffnet. Von fünf bis halb sechs haben wir eine halbe Stunde Pause. Sind Sie Kunde bei uns?«

»Nein, ich war erst einmal da und habe mir auf die Schnelle ein paar Sachen angesehen. Eine junge Dame hat mich bedient, aber mir fällt nicht mehr ein, wie sie hiess. Sie hat mir ein paar sehr schöne Kataloge gezeigt. So eine Hübsche mit einem Muttermal. Leider kann ich mich an ihren Namen überhaupt nicht erinnern.«

»Sie müssen Ghâda meinen.«

»Ja, vielleicht. Ist sie da? Kann ich mit ihr sprechen? Ich will sie ein paar Dinge fragen, vielleicht erinnert sie sich ja an mich.«

»Sure. Bleiben Sie bitte kurz dran, mein Herr.«

Sie drückte auf den Folterknopf, durch den monotone Musik erklingt, um den Wartenden zu unterhalten. Achmads Stirn troff vor Schweiss, und sein Herz begann wie ein Hilti-Presslufthammer zu klopfen. Während das Mädchen zu Ghâda ging und ihr die Situation erklärte, hatte er keinen Schimmer, was er ihr gleich sagen sollte.

Ghâda legte die Hand ans Ohr und nahm dann den Hörer. »Hallo?«

»…«

»Hallo?«

»Guten Tag … Fräulein Ghâda?«

»Ja. Darf ich erfahren, mit wem ich spreche?«

»Ich bin Kamâl Ibrahîm, der vor eineinhalb Monaten bei Ihnen war und sich mit Ihnen unterhalten hat.«

»Willkommen, mein Herr. Könnten Sie meinem Gedächtnis ein bisschen auf die Sprünge helfen?«

»Ich glaube nicht, dass Sie sich an mich erinnern. Aber ich wollte ein paar Dinge für meine Wohnung kaufen.«

»Haben Sie etwas bei uns gesehen oder reserviert?«

»Ehrlich gesagt habe ich noch nichts reserviert, aber ich habe ein paar schöne Sachen gesehen. Ach ja, ich wollte Sie bitten, mir zu erlauben, dass ich meinen Sohn Achmad bei Ihnen vorbeischicke, damit er sich umschauen kann. Ich möchte wissen, was er davon hält. Sind Sie jeden Tag da?«

»Jeden Tag bis fünf, ausser freitags.«

»Dann wird er nach Ihnen fragen, wenn er kommt.«

»Gerne, mein Herr.«

»Danke, Fräulein Ghâda – oder Frau Ghâda?«

»Fräulein Ghâda.«

»Vielen Dank. Auf Wiederhören!«

»Auf Wiederhören!«

Ghâda hiess sie also. Sie war nicht verheiratet. Und sie ging um fünf nach Hause. Achmad fühlte grosses Mitleid mit den Geheimdiensten, dass sie ihn nicht beschäftigten. Als er weiterging, wusste er in seinem tiefsten Inneren, dass er bald das Mädchen treffen würde, das sich seiner Sinne bemächtigt hatte.