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Am nächsten Morgen, 6 Uhr 15

In dem ruhigen Schlafzimmer klingelte ein Handy. Ein Mann mit Strubbelkopf streckte eine Hand aus und tastete auf der Kommode herum, bis er gefunden hatte, was er suchte.

Auf dem Display blinkte die Anzeige »Private Nummer«. Er drückte auf die grüne Taste und fragte heiser: »Hallo?«

»Guten Morgen, Mustafa«, sagte eine Stimme.

»Guten Morgen, mein Herr.«

»Ich bin im Büro. Wann können Sie hier sein?«

»In zwanzig Minuten.«

»Verspäten Sie sich nicht!«

6 Uhr 45

Mustafa Ârif klopfte an Safwân al-Buhairis Bürotür. Seine Augen waren noch rot vom Schlaf, aus dem er gerissen worden war.

»Kommen Sie rein!«

Das war Safwâns Stimme. Mit offenem Hemd und loser Krawatte, die ihm wie ein Galgenstrick auf der Brust baumelte, sass er da und betrachtete mehrere Fotos, die vor ihm auf dem Tisch lagen.

»Guten Morgen, mein Herr.«

»Wie geht es Ihnen, Mustafa? Kommen Sie, nehmen Sie Platz!«

»Was ist los, mein Herr? Sie haben mir Angst gemacht«, fragte Mustafa, während er sich setzte.

»Operation 63.«

»Die Bar?«

»Es gibt einen Zeugen, der Aufnahmen von dem Vorfall gemacht hat.«

»Wie denn das, mein Herr? Die Ziele wurden doch alle ausgeschaltet.«

»Er hat von einem anderen Gebäude aus fotografiert. Und zwar alles.« Safwân nahm einen weissen Umschlag von seinem Schreibtisch und warf ihn Mustafa hin.

Der ergriff ihn und sah sich mit plötzlich hellwachem Blick die Fotos an. »Wie sind Sie zu diesen Bildern gekommen, mein Herr?«

»Galâl Mursi. Zu unserem Glück hat der Zeuge ihm diese Fotos gestern geschickt.«

»Heisst das, wir haben den Zeugen?«

»Nein. Dies ist leider ein Erpressungsversuch. Der Zeuge ist unbekannt.«

»Und was hat Galâl damit zu tun?«

»Der Zeuge hat auch Fotos von ihm. Sie wissen ja, er hat auch keine weisse Weste: diese Sache mit den kleinen Mädchen. Er hat ihm gedroht: Wenn Galâl diese Bilder hier nicht veröffentlicht, will er sie zusammen mit denen von Galâl an eine andere Zeitung schicken.«

Mustafa betrachtete gerade das Foto mit dem Spiegelbild desjenigen seiner Männer, der die Operation durchgeführt hatte, und meinte: »Das eigentliche Problem ist das Foto von Târik. Wenn diese Aufnahmen publiziert werden, steht die Welt kopf.«

»Die Führung weiss noch von nichts. Aber uns bleibt sehr wenig Zeit. Wir müssen handeln. Das Kasino, das er besucht, muss durchforstet werden. Galâl sagte, er hatte so einen jungen Journalisten namens Alâa Gumaa. Er hat ihn gefeuert, und nun sind sie verfeindet. Diesen Kerl verdächtigt er, hinter den Fotos zu stecken. Vielleicht ist er derjenige, der ihn zum Narren hält.«

»Und wenn sich das bestätigt?«

»Er ist im Begriff, sich davonzumachen. Er, seine Fotos und seine Quelle, falls es sie gibt. Uns bleibt keine Zeit, Mustafa. Falls erforderlich, muss Galâl auch verschwinden, damit er Ihnen nicht im Weg steht. Wo ist Târik zurzeit?«

»Im Urlaub, mein Herr. Er ist für zwei Wochen an die Nordküste gefahren.«

»Er braucht es erst mal nicht zu wissen, es sei denn, es passiert was.«

»Er ist ziemlich mit den Nerven fertig, mein Herr. Bevor er abreiste, hatte er mich angerufen. Er möchte auf einen Schreibtischjob versetzt werden.«

»Dafür ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Verlängern Sie seinen Urlaub, bis wir uns einen Überblick über das Desaster, in das wir da geraten sind, verschafft haben. Vielleicht kehrt er ja gar nicht mehr an seine Arbeit zurück.«

»Okay. Haben Sie noch einen Auftrag für mich, mein Herr?«

»Nach all der Zeit werde ich diesen Ort hier nicht wegen eines Skandals verlassen. Wenn es auf eine Liquidierung hinausläuft, liquidieren Sie! Verstanden, Mustafa? Wir haben sehr wenig Spielraum. Ich möchte nicht, dass irgendeine Kreatur Wind davon bekommt. Wenn ich meinen Platz räumen muss, dann Sie Ihren auch, merken Sie sich das gut!«

Mustafa nickte verständnisvoll. »Machen Sie sich keine Sorgen, mein Herr!« Er zog sich zurück und liess Safwân allein, der den Bürokalender zur Hand nahm.

Er hatte nur noch ein Jahr. Ein Jahr, bis er aus dem Dienst ausscheiden würde. Er hatte sich auf einen ehrenvollen Abschied eingestimmt, darauf, für das Zehnfache seines jetzigen Gehalts in einer Erdölfirma zu arbeiten, auf Freizeit, das Aufziehen seiner Enkel und den Genuss seiner Privilegien. Jetzt aber breitete sich dichter Rauch in seiner Brust aus. Er hatte zunehmend das Gefühl, keine Woche mehr durchzustehen.

Am selben Tag um halb fünf stand Achmad vor dem Blumenladen Jasmîna in der Nähe der Creation Gallery. Der Friseur hatte ungefähr fünfundvierzig Minuten gebraucht, um sein Haar zu stylen. Danach hatte er eine halbe Tube Gel hineingetan, um es in die vom Kamm vorgegebene Richtung zu zwingen. Achmad trug ein schwarzes Hemd, ähnlich wie Amr Diâb in dem Videoclip zu dem Lied Zwei Monde, seine pechschwarzen Schuhe hatte er poliert und auch seine Uhr und das gefälschte Hugo-Parfum nicht vergessen. Die Cleopatra-Zigaretten hatte er in eine Marlboro-Schachtel gesteckt und vor dem Spiegel verschiedene Posen ausprobiert, um einzuüben, wie Ghâda ihn beim ersten Mal wahrnehmen sollte. Er sah gut aus.

Ein wenig später hielt er eine rote Rose in den Händen und starrte, noch immer vor dem Blumenladen, unentwegt in die Richtung, aus der Ghâda kommen musste. Die verschiedensten Szenarien gingen ihm durch den Kopf, deren traurige Ausgänge er wegliess, um sich ganz seinen fruchtbaren Phantasien hinzugeben. Damit er als cooler Typ rüberkam, stützte er, ähnlich wie Amr Diâb in einem seiner Videos, den rechten Fuss auf ein geparktes Auto.

Die Uhrzeiger rückten langsam vorwärts. Achmad war sehr aufgeregt und angespannt. Eine halbe Stunde war vergangen, und er befand sich schon in der Nachspielzeit, als er in der Ferne eine Gestalt bemerkte. Eine vertraute Gestalt. Doch als das Mädchen näher kam, stellte sich heraus, dass es nicht Ghâda war. Sie war nicht so schön wie sie, auch wenn sie von weitem ihr rein körperlich glich.

Es wurde halb sechs. Vielleicht war sie ja mit der Arbeit im Verzug. Warum hatte er ihr auch nicht seine Telefonnummer aufgeschrieben? Idiot!

Sechs. Die Rose in seiner Hand begann zu welken. Der Eigentümer des Blumenladens holte sich einen Stuhl, setzte sich vor sein Geschäft und rauchte Schischa, genau in Achmads Rücken. Aus zwei Gründen war dem ziemlich unbehaglich zumute: erstens, weil er sich beobachtet fühlte, und zweitens – das fiel ihm im Moment nicht ein. Wie Tropfen aus einem Wasserhahn, der nicht richtig zugedreht war, erschien in der Ferne ein Mädchen nach dem anderen. Die Dämmerung und seine alte Brille, die, wie ihm jetzt auffiel, dringend ersetzt werden musste, verwandelten alle auf der Strasse in Ghâdas.

Sieben Uhr. Sie war nicht gekommen. Der Ladenbesitzer brachte einen zweiten Stuhl heraus und lud Achmad ein, Platz zu nehmen: »Setzen Sie sich, mein Lieber, Sie stehen hier schon so lange. Warten Sie auf jemanden? Möchten Sie telefonieren?«

Achmad wünschte sich, ein Meteorit würde auf den Laden stürzen und ihn in Staub verwandeln. Oder es gäbe gar einen Terrorangriff mit einer Cruise-Missile mitten auf den Kopf dieses aufdringlichen Kerls, der ihn hier verspottete – so kam es Achmad jedenfalls vor, als er zum tausendsten Mal auf die Uhr schaute. Sie kommt nicht, sagte er sich. Sie wird kommen!, redete er sich ein.

Er warf die Rose weg und zündete sich eine Zigarette an. Es war zwanzig nach acht. Sollte er zur Galerie gehen? Vielleicht hielt man sie dort gefangen, und sie wurde, mit erhobenen Händen und dem Gesicht zur Wand, gerade bestraft? Nein, das war eine Abfuhr. Vielleicht gefiel er ihr nicht. Vielleicht war sie mit ihren Freundinnen im Auto an ihm vorbeigefahren, hatte auf ihn gezeigt, und alle hatten gelacht: »Wie sieht der denn aus, Ghâda? Ein Shrimp mit Brille!« Ihr lautes Gelächter und das Echo ihrer Stimmen schwollen immer weiter an. Beängstigende Hitchcock-Szenarien wurden der Kassenschlager in seinem Kopf.

»Ich zähle bis sechzig, wenn sie bis dahin nicht kommt, gehe ich.«

»245, 246, 247, 248 … Ich zähle bis dreihundert …«

Es wurde zehn.

Sie war nicht gekommen.

Das Seekalb würde sich an seinem Unglück weiden.