26

Achmad Râschid öffnete mehrere Türen, bis sie schliesslich in den Keller kamen, wo sich der Schliessfachraum befand. Es war ein grosser Raum, und ringsum an den Wänden befanden sich Schubladen. Der Mann nahm Achmads Schlüssel, las die Nummer darauf ab, ging ein Stück und blieb dann vor dem Schliessfach mit der Nummer 570 stehen, steckte Achmads Schlüssel ins Schloss und in die Öffnung daneben den Schlüssel der Bank. Es klickte. Er zog die Kassette heraus und legte sie auf einen Tisch in der Raummitte.

»Kennen Sie die Geheimzahl?«

»Natürlich.«

»Soll ich Ihnen eine Tüte holen?«

»Danke, ich hab was dabei«, sagte Achmad hastig. »Ich muss mich beeilen, ich hab einen Termin.«

Der Mann liess ihn allein, damit er die Kassette öffnen konnte.

Mit Hilfe der vier Rädchen, die wie Zahnräder aussahen, stellte Achmad die Geheimzahl ein: 1933. Dann drückte er auf einen Knopf daneben, und die Kassette sprang auf. Im Inneren lag ein grosser, vollgestopfter gelber Umschlag, an dem ein zusammengelegtes Blatt Papier klebte. Achmad faltete es auseinander. Es war ein Brief von Alâa, eine kurze Nachricht von wenigen Zeilen:

Habe ich dir nicht gesagt, dass manche Leute scharfe Krallen haben? Wenn du diese Nachricht liest, habe ich alles getan, was in meiner Macht stand. Ich versichere dir nochmals, dass du nichts tun musst. Behalt mich in guter Erinnerung.

Zur selben Zeit sah Omar einen schwarzen Mercedes vor dem Eingang der Bank halten. Drei Männer stiegen aus, einer von ihnen trug ein Funkgerät und an der Hüfte eine Pistole. Angeführt wurden sie von Mustafa Ârif, der über sein Handy mit Safwân telefonierte.

»Ich stehe gerade vor der Banque du Caire, mein Herr. Heute Morgen habe ich an ihrem Hauptsitz nachgefragt, und da sagte man mir, dieser Schlüssel gehöre ihnen. Wie ich ausserdem erfuhr, befindet sich das betreffende Schliessfach in der Filiale Heliopolis.«

»Wie lange brauchen Sie noch?«, fragte Safwân.

»Zehn Minuten, dann rufe ich wieder an.«

In dem roten Auto rutschte Omar vom Vordersitz so weit nach unten, dass sein Kopf nicht mehr zu sehen war. Dann zog er sein Handy heraus und wählte Achmads Nummer. Aber an sein Ohr drang nur die verhasste Nachricht: »Diese Nummer ist zurzeit nicht erreichbar.« Noch einmal versuchte er es, doch wieder antwortete dieselbe Dame.

Achmad hatte gerade das Blatt zusammengefaltet und in die Tasche gesteckt, anschliessend eine schwarze Plastiktüte herausgezogen und den gelben Umschlag hineingelegt, als er einen Anruf erhielt. Er schaute auf sein Handy und sah Omars Nummer aufleuchten. Das konnte nur eines bedeuten. Eilig zog er einen Umschlag aus der Tasche, warf ihn in die Kassette, schloss sie wieder ab und griff sich seine Tüte. Er sprang die Kellertreppe hinauf, aber oben stiess er mit jemandem zusammen. Es war Achmad Râschid, der Filialleiter.

»Wohin des Weges, Herr Gumaa?«

»Ich muss pünktlich zu meinem Termin erscheinen.«

»Möchten Sie nicht fünf Minuten in mein Büro kommen und einen Kaffee mit mir trinken?«

»Entschuldigen Sie mich bitte! Ein andermal gern.«

»Könnte ich dann Ihre Telefonnummer haben?«

Achmad diktierte ihm irgendeine Nummer. »Ich erwarte Ihren Anruf«, sagte er. »Sie bekommen einen Riesenrabatt, einen gigantischen!«

Lächelnd versuchte er, sich davonzumachen, aber der Filialleiter hielt ihn zurück: »Augenblick noch! Ich rufe Sie an, damit Sie meine Nummer speichern können.« Ohne Achmads Antwort abzuwarten, drückte er die Anruftaste und wartete, das Handy ans Ohr gepresst, auf das Klingelzeichen. »Das hier ist eigentlich gar nicht meine Aufgabe«, sagte er. »Normalerweise ist mein Untergebener dafür zuständig, aber er kommt heute erst eine halbe Stunde später. Zu meinem Glück, denn so konnte ich Sie kennenlernen.«

Es vergingen mehrere Sekunden, dann klingelte Achmads Handy kurz. Verwundert sah er auf das Display: Omar hatte durchgerufen, um ihn zur Eile anzutreiben.

»Jetzt haben Sie keine Ausrede mehr«, sagte Achmad Râschid. »Sie haben meine Nummer, speichern Sie sie! Ich werde Sie anrufen und mit den Mädchen zu Ihnen kommen. Führen Sie auch Übergrössen?«

Achmad sah zu, dass er fortkam. »Es wäre mir eine Ehre, Pascha«, sagte er noch. »Wir haben alle Grössen da. Machen Sie mir nur das Vergnügen! Auf Wiedersehen!«

»Herr Râschid, da sind Leute, die Sie sprechen möchten«, erscholl die Stimme einer Angestellten hinter einem der Kassenschalter. Der Filialleiter verabschiedete sich von Achmad und ging, seine Besucher in Empfang zu nehmen.

Achmad beeilte sich, auf die Strasse zu kommen. Er lief zu Omar, der hinter dem Lenkrad kauerte, und schlug mit der Hand auf das Autodach, so dass dieser zusammenfuhr und den Motor anliess. Sie rasten davon.

In der Bank stand währenddessen der Filialleiter Mustafa Ârif gegenüber.

»Herr Râschid, Oberst Mustafa Ârif mein Name.«

»Achmad Râschid, der Leiter der Zweigstelle«, sagte dieser und nickte zur Begrüssung.

»Wir haben den Schlüssel für ein Schliessfach und möchten es öffnen.«

»Gut, gut. Haben Sie eine Vollmacht?«

»Alles, was Sie wollen.«

Von der Tür her unterbrach ihn eine Stimme. Sie gehörte einem äusserst mageren Angestellten, der es offenbar eilig hatte. Er ging auf den Filialleiter zu und fragte: »Habe ich mich verspätet, Herr Râschid?«

»Sie kommen gerade noch rechtzeitig. Oder sollte ich den ganzen Tag Ihre Arbeit übernehmen?« Dann wandte er sich an Mustafa Ârif: »Das ist Hâni, der bei uns für die Schliessfächer zuständig ist. Er wird für Sie tun, was Sie wünschen.« An seinen Mitarbeiter gewandt, fuhr er fort: »Hâni, das ist Oberst Ârif. Tun Sie, worum er Sie bittet. Was immer er befiehlt.«

»Bitte sehr, mein Herr«, sagte Hâni und forderte Mustafa Ârif mit einem Wink auf, ihm zu folgen, während ihn der Filialleiter noch kurz beiseitenahm.

»Ich muss jetzt gehen, Hâni«, sagte er. »Wie Sie wissen, ist heute Schirîns Verlobung. Regeln Sie das mit denen, und erfüllen Sie ihre Bitten!«

»Überlassen Sie nur alles mir, Herr Râschid! Wir haben ja nur die eine Schirîn. Herzlichen Glückwunsch, Pascha. Und schalten Sie um Gottes willen Ihr Handy aus, damit niemand Sie stört!«

Dann entfernte sich Hâni, um mit Mustafa Ârif in den Keller zu gehen.

»Welche Nummer hat denn das Schliessfach, mein Herr?«

Sie standen vor der Kellertür, als Mustafa ihm den Schlüssel reichte: »Die Nummer steht drauf.«

»Ist das denn nicht Ihr Schlüssel?«

»Nein, meiner ist es nicht.«

Hâni blieb stehen. »Da haben wir ein Problem. Sie kennen also die Geheimzahl nicht?«

Mustafa legte Hâni die Hand auf die Schulter. »Ich habe eine staatsanwaltliche Verfügung. In diesem Schliessfach befinden sich Dinge, die die Sicherheit des Landes tangieren. Glauben Sie mir, Sie wollen gar nicht wissen, wer im Moment auf einen Anruf von mir wartet, damit ich ihm versichern kann, dass alles in Ordnung ist.«

»Aber ich kann das nicht allein tun, mein Herr. Ich muss die Bankleitung informieren. Und Herr Râschid ist schon gegangen.«

»Öffnen Sie jetzt das Fach, danach können Sie anrufen, wen immer Sie wollen. Für Sie zählt jetzt jede Minute, glauben Sie mir!«

»Dürfte ich dann Ihren Ausweis und die Verfügung der Staatsanwaltschaft sehen? Nur damit ich sie kopieren kann.«

Mustafa nahm seinen Ausweis aus der Brieftasche, öffnete Hânis Hand und klatschte ihm das Dokument hinein. »Kopieren Sie das, sooft Sie wollen, nur muss ich in fünf Minuten hier raus sein! Öffnen Sie das Schliessfach, danach können Sie sich die Kopien gern einrahmen oder was immer Sie damit anstellen möchten!«

Hâni verschwand für eine Minute, um danach mit zwei Kollegen, einem Umschlag und einem Schlüssel wiederzukommen. Er zog die Kassette heraus und stellte die Geheimzahl ein.

»Danke so weit«, sagte Mustafa. »Lassen Sie mich nun kurz allein! Wenn ich fertig bin, rufe ich Sie, in Ordnung?«

Die Bankangestellten gingen hinaus. Er wartete, bis sie verschwunden waren, öffnete dann das Schliessfach und fand darin den Umschlag, den Achmad hineingelegt hatte. Er öffnete ihn: Negative und ein Foto. Es zeigte zwei Personen. Mustafa nahm den Umschlag an sich, zog sein Handy heraus und wählte eine Nummer.

»Ha!«, rief Safwân am anderen Ende. »Fertig?«

»Jawohl, mein Herr.«

»Dann kommen Sie sofort zu mir! Haben Sie die zweite Angelegenheit, die mit den Ausweisen, weiter im Blick?«

»Alles erledigt, das ist jetzt nicht mehr nötig, mein Herr. Wenn Sie sehen, was ich habe, mein Herr, werden Sie verstehen.«

»Gut, dann los, halten Sie sich nicht weiter auf!«

»Auf schnellstem Wege, mein Herr.«

Bei Safwân angekommen, legte Mustafa den Umschlag auf den Schreibtisch. Der öffnete ihn und entnahm ihm ein paar Negative von Leuten im Kasino sowie ein ausgedrucktes Foto.

»Das ist Alâa Gumaa«, sagte Safwân, »sein Gesicht kenne ich. Aber wer ist das da neben ihm?«

»Das ist der Fotograf aus dem Kasino Paris, von dem ich Ihnen erzählt habe, mein Herr«, antwortete Mustafa.

»Achmad Kamâl?«

»Nein, mein Herr. Das ist Gûda, der vor einer Weile gestorben ist.«

Vor Safwân lag ein Bild von Gûda, auf dem er lächelnd und sehr vertraut den Arm um Alâa legte. Unbestreitbar ein Foto der Marke Omar™. Er hatte die ganze Nacht damit verbracht, und es war ihm gelungen wie kein Bild zuvor, auf jede Kleinigkeit hatte er geachtet. Es war ein wirkliches Meisterwerk, das allerdings nie seinen Namenszug tragen würde.

»Das heisst, sie kannten sich?«, fragte Safwân.

»Er war die Quelle, mein Herr. Offenbar hat er diese Bilder verkauft, oder vielleicht hat er sie Alâa auch vor seinem Tod gegeben. Ein altes Archiv, das er noch hatte und das Alâa benutzt hat, um seine Artikel damit zu illustrieren.«

»Sind Sie sicher, dass das Gûda ist?«

»Gûda war seit Anfang der Siebziger im Kasino beschäftigt. Es gibt dort einen Arbeitsvertrag und ein Passbild von ihm.«

»Und der andere? Achmad Kamâl?«

»Das Problem bei ihm ist, dass er mit Gûda für einen Tagessatz als Fotograf gearbeitet hat. Auf Honorarbasis, nicht fest. Es gibt keine Papiere von ihm. Auf dem Weg hierher habe ich mit der Passbehörde gesprochen, und sie sagen, dass alle Achmad Kamâls tatsächlich immer noch in Saudi-Arabien sind. Niemand ist wiedergekommen. Das Problem ist, wir wissen von ihm nur, dass er Achmad Kamâl heisst. Es ist nicht einmal bekannt, ob er Achmad Soundso Kamâl heisst oder nur Achmad Kamâl. Es gibt keinen dritten Namen und auch nichts Genaueres über seinen Wohnort. Im Kasino hat er in einem Zimmer gewohnt, das vorher ein Abstellraum gewesen war.«

»Und die Originale?«

»Offensichtlich sind das nicht alle Originale, oder Alâa hatte selbst nur Kopien und keine Originale. Möglicherweise sind die meisten in der Wohnung mit ihm verbrannt, und das ist alles, was noch übrig ist. Wir werden es nicht herausfinden. Aber, mein Herr, Tatsache ist ja: Zeugen gibt es keine mehr.«

»Ich bin es nicht gewohnt, mich auf die Zeit zu verlassen, um sicherzugehen, dass eine Sache zu Ende gebracht wurde.«

»Wir haben keine andere Wahl. Mit einer Wahrscheinlichkeit von neunundneunzig Prozent ist die Sache erledigt. Dieses eine Prozent bleibt, bis die Zeit es erweist. Und mit der Presse machen wir auch weiter, mein Herr.«

Safwâns Blick irrte ab und folgte den kreisenden Blättern des Deckenventilators. »Gut, lassen Sie mich jetzt eine Weile allein, Mustafa!«

»Zu Ihren Diensten, mein Herr.«

Aber als er an der Tür war, hielt Safwân ihn noch einmal zurück: »Mustafa, bereinigen Sie die Akten, und schliessen Sie sie. Ich will nicht, dass jemand etwas von diesen Dingen erfährt. Es muss so aussehen, als wären sie nie geschehen, verstanden? Sie wissen, ein einziges Wörtchen, und alle Mühe war umsonst. Wir wollen ja unser Werk nicht zerstören.«

»Gewiss, mein Herr, verstanden.«

Mustafa ging und liess Safwân in Gedanken versunken zurück. Nur eines ging ihm durch den Kopf: ein Prozent.

Im Fotostudio kamen sie unterdessen allmählich zur Ruhe. Achmad und Omar hatten mehr erlebt, als sie ertragen konnten. Auf dem Weg hatte Achmad eine Zeitung gekauft und suchte nun nach einem Hinweis auf Alâas Unfall. Auf Seite 14 der dritten Ausgabe stand eine kurze Meldung über die durch einen Zigarettenstummel ausgelöste Explosion einer Butangasflasche im Viertel Hilwângärten, die den Bewohner des Apartments das Leben gekostet hatte.

»Alâa hat doch gar nicht geraucht!«, meinte Omar.

»Selbst wenn er geraucht hätte – er war ja gerade erst durch die Tür gekommen.«

Es schien, als sei die Nachricht schon im Voraus verfasst worden, ein eilig hingeworfener Zeilenfüller.

Nachdem Achmad den Umschlag und die Zeitung mit der Nachricht von Alâas Tod an einem sicheren Ort versteckt hatte, widmeten sich die beiden ihrer Arbeit, um sich damit von ihrer Anspannung abzulenken.

Fünf Uhr nachmittags hörte Achmad, wie nach ihm gerufen wurde: »Herr Kamâl, da ist jemand für Sie.«

Er ging hinaus zum Empfang und fragte: »Wer denn?«

»Draussen wartet ein Fräulein auf Sie«, antwortete ihm das Mädchen, das im Studio arbeitete.

Achmad ging hinaus und sah vor sich die Person, die er zuallerletzt hier erwartet hätte. Sie trug keinen Gesichtsschleier, sondern nur einen Hidschâb. Neben ihr stand ein grosser Reisekoffer. Erschöpft und niedergeschlagen sah sie aus, blass und zerbrechlich wie ein Herbstblatt. Als würde sie anfangen zu rascheln, wenn er nur ihre Hand berührte, und davonfliegen, falls der Wind auffrischte.

»Âja!«

Ihre Augen schwammen in heissen Tränen. »Wie geht es dir, Achmad? Ich habe dich angerufen, aber dein Handy war aus.«

»Gut, dass du wieder da bist!«

Er wusste nicht, was er sagen sollte, ging auf sie zu und umarmte sie. Dann trug er ihren Koffer hinein.