15
»Ooooch, sie ist nicht gekommen?«
»Nein, ist sie nicht«, beschied Achmad.
Wie jeden Tag sassen sie im Café Lajalîna.
»Hab ich’s doch gewusst!«, rief Omar. »Hab ich es dir nicht gesagt, mein Lieber?«
»Es reicht, machen wir kein Drama daraus! Ausserdem kann ihr ja auch was dazwischengekommen sein, wie willst du das wissen?«
»Halte du jetzt nur durch! Offen gestanden würde ich mich an deiner Stelle verbrennen. Hattest du ihr nicht deine Telefonnummer gegeben?«
»Nein. Und lass das Thema doch jetzt!«
»Aber kann es nicht sein, dass sie vorbeigekommen ist, ohne dass du es bemerkt hast?«
»Ich bin zwar kurzsichtig, aber nicht blind. An mir ist kein Mädchen vorbeigekommen, das ich nicht gesehen hätte.«
»Ach so: Er kann das Warten nicht länger ertragen, weil seine Füsse schon Wurzeln schlagen.«
»Wunderschön, Gnädigste.«
»Aber die Hauptsache ist: Was denkst du, wie es unserem Freund geht?«
»Er ist jetzt schon kurz vor dem Explodieren und kann nicht mehr schlafen.«
»Morgen rufen wir ihn an«, schlug Omar vor, »und dann setzen wir ihm richtig zu. Hätten wir nicht einen Fünfziger von ihm verlangen sollen, als kleine Finanzspritze für uns?«
»So würden wir den Plan durchkreuzen. Eile mit Weile.«
»Denkst du, er weiss, von wem die Drohung kommt?«
»Das Bild ist ohne Blitz gemacht, mein Lieber«, meinte Achmad. »Wir haben es in der Qualität eines Handyfotos ausgedruckt und alle Details wegretuschiert. Er wird denken, es war jemand vom Nachbartisch. Auf mich wird er nicht kommen: Wer mit einem Mädchen zusammen ist, kriegt nicht mehr viel mit.«
Zwar hatte er Mister Dracula nicht vergessen, den einzigen Zeugen. Aber irgendetwas in seinem Inneren liess ihn sicher sein, dass dieses lästige Wesen nicht vorhatte, ihm zu schaden. Hätte er das gewollt, hätte er es gleich von Anfang an getan.
»Von wo aus willst du ihn anrufen?«, fragte Omar.
»Von dem Ort aus, der ihm als Allerletztes in den Sinn käme.«
Achmad durchlebte in der Nacht ein Wechselbad der Gefühle. Er schwankte zwischen der Freude über den kinoreifen, dem Film Ich weiss, was du letzten Sommer getan hast31 entlehnten Schlag, den er Galâl versetzt hatte, und seiner Enttäuschung darüber, dass Ghâda ihn ignoriert hatte. Was ihm allerdings am meisten zu schaffen machte, war, dass er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte. Sollte er am Ball bleiben oder sich zurückziehen? Hatte irgendein Problem sie gehindert zu kommen? Etwas in ihm bat um Entschuldigung für sie, schliesslich hatte sie nicht gefühllos oder eingebildet gewirkt. Er wälzte seine Gedanken hin und her, bis ihm die Lider schwer wurden. Der morgige Tag würde es in sich haben.
Die Nacht verging, und am Morgen ging Achmad wie gewöhnlich zum Studio. Sein Kopf war klarer als am Abend zuvor. Er war zwar angespannt, aber ruhig. Gutgelaunt sah er dem Feierabend entgegen, während er eine Aufnahme nach der anderen machte: ein Foto für einen Personalausweis, eines für die Arbeit, eines für einen Pass. Eine Karte mit dem Bild eines Mädchens, das seine Haare hochhielt und sich wie ein Covergirl vorkam. Eine andere legte das Kinn in die Hand und schaute romantisch-verträumt in die Kamera. Eine dritte liess sich mit ihrem Freund ablichten, der so tat, als lege er ihr die Hand auf die Schulter, wobei seine Finger sie aber kaum berührten.
Um halb sieben machten Achmad und Omar sich ins Stadtzentrum auf, zum Sitz der Zeitung Freiheit.
»Bist du sicher, dass es okay ist, was du vorhast?«, fragte Omar.
»Hör auf, dir Sorgen zu machen! Mach mich nicht auch noch nervös!«
»Mit diesem Mann ist nicht zu spassen. Er hat bestimmt schon was unternommen, er wird ja nicht schlafen. Schau!«
Sie waren an dem Gebäude angekommen, vor dem zwei Offiziere mit Sternen und Adlern an der Uniform neben einem Polizeitransporter standen.
»Galâl hat sich tatsächlich sehr schnell bewegt«, sagte Achmad.
»Was wirst du tun?«
»Lauf weiter. Komm, wir gehen ins Tachrîr.«
Das Tachrîr: ein grosses Café, in dem, einem Heuschreckenschwarm gleich, chirtîja herumschwirrten. Chirtîja waren Fremdenführer ohne Zeugnisse oder Lizenzen. Sie begleiteten einen Touristen während seines Aufenthalts, feilschten für ihn, betreuten ihn beim Besuch touristischer Stätten, indem sie ihm in den Basaren Andenken kauften oder sogar echte Altertümer, wenn der Kunde ein Fan ägyptischer Antiquitäten war. Sie versorgten ihn mit Alkohol, Drogen und wenn nötig mit Sex, begleiteten Touristinnen, die allein und ohne Mann gekommen waren, und verkehrten mit ihnen so, wie diese es verlangten. Alles, was der Tourist begehrte, war vorhanden. Solange er zahlte, bekam er es, wie seltsam oder pervers seine Wünsche auch erscheinen mochten. Darüber hinaus erhielten die chirtîja Provisionen vom Basar, von den Restaurants und Hotels sowie vom Taxifahrer des Touristen. Selbst der am wenigsten Begabte unter ihnen beherrschte vier Sprachen.
Das Café war brechend voll mit ihnen und ihren Touristen, das Sprachengewirr erinnerte an eine Versammlung der Vereinten Nationen. Achmad und Omar wirkten hier wie Fremde, wie sie ganz am linken Rand dasassen und Tee tranken.
»Siehst du, hab ich’s dir nicht gesagt? Der Mann ist ganz schön ausgefuchst.«
»Das hatte ich erwartet.«
»Überleg dir das mit diesem Telefonanruf noch mal!«
»Ich möchte nicht, dass er sich zu wohl fühlt und sich zufrieden zurücklehnt«, sagte Achmad. »Ich will, dass er das Gefühl hat, dass der, der ihn zum Narren hält, stärker ist als er, sogar stärker als die, die ihn schützen. Einmal soll auch er sich bedroht fühlen. Hast du das Foto dabei?«
»Hab ich. Was willst du damit?«
»Warte hier!«
Als Achmad aufstand, griff Omar nach seiner Hand. »Die Polizei ist mit im Spiel«, sagte er. »Nimm das nicht auf die leichte Schulter! Erklär mir, was du vorhast!«
»Hast du ein Taschentuch?«
Omar zog eines heraus und reichte es ihm.
»Bezahl den Tee, und geh auf die andere Seite, Richtung Kasr-al-Nil-Brücke. Warte da auf mich, und behalt mich im Auge!«
Er nahm das Foto und das Taschentuch an sich, stand auf und ging ruhig hinaus, während Omar das Café verliess und zur anderen Strassenseite wechselte.
Achmad ging zu einem öffentlichen Fernsprecher in einiger Entfernung vom Café, zog eine Menatel-Telefonkarte heraus und schob sie in den Apparat. Während er Galâls Nummer wählte, wischte er die Fingerabdrücke von dem Foto und steckte es anschliessend in einen kleinen weissen Umschlag. Viermal klingelte es, bevor Galâls Stimme zu hören war.
»Hallo?«
»Guten Abend«, sagte Achmad, der betont rau klingen wollte. »Herr Galâl Mursi?«
»Mit wem spreche ich?«, fragte Galâl in scharfem Ton.
»Ich wusste nicht, dass Sie die Sache so schwernehmen. Ein Knüller wird Ihnen praktisch vor die Haustür gelegt wie eine geschälte Mandel. Wenn Sie ihn veröffentlichen, kommen Ihre Fotos nie ans Licht. Warum müssen Sie das Ganze derart aufblasen und so viele Leute mit reinziehen? Sie schaden sich doch nur selbst.«
»Damit Sie’s wissen: Was Sie hier machen, wird Sie ins Verderben stürzen. Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Hauen Sie ab! Laufen Sie, so schnell Sie können, denn wenn ich Sie in die Finger kriege – die Schmerzen, die Sie dann erleiden werden, können Sie sich gar nicht vorstellen. Ich …« Er hielt inne und schwieg, als diktiere ihm jemand etwas. Schliesslich fuhr er fort: »Oder wir einigen uns.«
Achmad durchschaute, was vor sich ging. »Zwischen Ihnen und mir gibt es keine Einigung.«
»Kommen Sie, wir treffen uns und reden miteinander. Vielleicht springt dabei ein hübsches Sümmchen für Sie heraus. Seien Sie kein Dummkopf. Solch heikle Themen aufzugreifen liegt nicht in meiner Macht.«
Diesen Satz bekam Achmad schon nicht mehr mit. Der Telefonhörer lag bereits auf der Gabel, ohne jedoch die Verbindung zu unterbrechen. Unter ihm steckte, neben einem weissen Umschlag, Galâls Feuerzeug, das Achmad ihm im Kasino abgenommen hatte. Derweil überquerte er die Strasse, um Omar zu treffen.
»Was hast du gemacht?«, fragte der.
»Du wirst schon sehen.«
Im selben Moment tauchten auf der Kasr-al-Nil-Strasse blinkende Blaulichter auf. Die Sirenen kamen schnell näher, rasten zum Tachrîrplatz, umrundeten ihn und stoppten schliesslich vor der Telefonzelle – derjenigen, die Achmad gerade erst verlassen hatte. Eine Gruppe von Polizisten stieg aus und schwärmte ins Café und zwischen die Passanten aus. Andere begannen die Telefonzelle zu untersuchen, und einer griff nach dem Umschlag und dem Feuerzeug.
»Wie ich es mir gedacht hatte«, sagte Achmad. »Er hat die Leitung überwachen lassen. Ab mit uns!«
»Eine Minute, und wir wären verloren gewesen, Gott zerstöre dein Haus!«, rief Omar.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Achmad, während er ein Taxi herbeiwinkte, »das ist schon kaputt.«
Das Taxi fuhr los, und Achmad schaute durch das Rückfenster, um zu beobachten, was geschah. Ein hochrangiger Offizier mit Adlern und Schwertern an der Uniform entriss einem jungen Hauptmann den Umschlag und öffnete ihn. Währenddessen kam ein Auto angefahren, dem eilig Galâl Mursi entstieg. Seine Hände bewegten sich fahrig, während er mit dem Offizier sprach, den er schliesslich am Ellenbogen packte und aus dem Lichtkegel zog.
Kurz bevor das Taxi im Verkehr verschwand, sah Achmad auch noch ihn. Er sass vor einem Café neben der Telefonzelle, adrett und elegant in weissem Anzug, rauchte seine Zigarette und lächelte Achmad zu, der sich tief in die Rückbank sinken liess, um sich vor diesem Herrn des Rings, des Rings mit dem Buchstaben G, zu verstecken, während das Taxi seine Fahrt in Richtung Manjal fortsetzte.
Wenig später war Galâl in sein Büro zurückgekehrt. Nur der schwarze Rabe kreiste noch im Zimmer über seinem Kopf, fand aber – anders als der Rabe in der Geschichte von Kain und Abel im Koran32 – niemanden, den er hätte begraben können, um Galâl zu lehren, wie er seine Gräueltat verbergen könne. Galâl war äusserst besorgt. Es war ein Gefühl, als hätte er von einem bösartigen Tumor erfahren, der sich in seinem Körper ausbreitete. Er schickte alle fort, sowohl die Angestellten der Zeitung als auch die Polizisten. Er musste seine Gedanken ordnen und die kommenden Schritte planen. Wie er es gewohnt war, begann er sein Feuerzeug auf- und zuzuklappen – das Feuerzeug, das er inzwischen wiedererhalten hatte.
Es war fast Viertel nach zwölf, als sein Telefon klingelte.
»Hallo?«
»Ja, Galâl«, sagte eine Stimme.
»Guten Abend, Pascha.«
»Sehen Sie, welche Scherereien wir Ihretwegen haben?«
»Aber Pascha, was kann denn ich dafür?«
»Ihre schmutzigen Fotos. Schämen Sie sich! Sind Sie stolz auf sich?«
»Das ist doch schon lange her.«
»Aber jetzt sind sie aufgetaucht. Sagen Sie mir, was ich mit Ihnen machen soll, wenn jetzt was passiert!«
»Ich bin bereit, alles mir Mögliche zu tun. Morgen starte ich eine Kampagne gegen Bildmanipulationen am Computer. Ich werde nicht schweigen. Und irgendwann macht der, der mich zum Narren hält, einen Fehler.«
»Und auf diesen Fehler sollen wir warten?«
»Es tut mir leid, Pascha.«
»Wir haben Sie geschaffen, Galâl. Wissen Sie, was das heisst? Das heisst, wir können das Ganze auch jederzeit wieder rückgängig machen. Das wollte ich Ihnen zum Abschluss noch sagen. Der Pascha ist sehr aufgebracht. Wenn die Sache sich ausweitet, ziehen Sie sich in Würde zurück. Zwingen Sie mich nicht, persönlich Massnahmen gegen Sie zu ergreifen und Ihre Stelle an jemanden zu vergeben, der sich unter Kontrolle hat.«
»Wie Sie meinen, Pascha.«
Galâl legte den Hörer auf, beugte sich über den Schreibtisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Er wusste, dass er sich in einer schwachen Position befand, spürte, dass die gewetzten Messer schon auf ihn lauerten und sein Ende nahte. Ein Ende, das nicht leicht sein würde. Er hob den Kopf und fegte alles auf den Boden, was auf seinem Schreibtisch lag. Nur das Feuerzeug blieb liegen.
In Manjal war es indes auch nicht ruhiger.
»Ich bin schon aufgeregt genug. Spiel mir nicht den Kämpfer vor. Jeder macht doch Fehler, Che Guevara.«
Omar rannte um Achmad herum, der auf der Matratze lag und ein Exemplar der täglichen Ausgabe der Freiheit las.
»Und du wolltest ihn schon von unten, direkt vor dem Sitz der Zeitung, aus anrufen!«, fuhr Omar fort. »Dabei hab ich dir doch gesagt: Der Mann hat Beziehungen und wird nicht stillhalten. Nächstes Mal kommst du mit so was nicht durch, dann lässt man uns hochgehen. Hast du nicht gehört, was bei der Staatssicherheit los ist? Selbst Hitler persönlich würden sie, wenn sie ihn festgenommen hätten, aufhängen und dazu bringen, zuzugeben, dass er einer Terrorzelle in Imbâba angehört, die die Regierung stürzen will.«
»Hast du nicht bemerkt, dass dieser Mann von der Regierung selbst geschützt wird? Du hast mir doch geglaubt, als ich dir gesagt habe, dieser Mann ist kein ehrenhafter Kämpfer gegen Unterdrückung und Tyrannei, wie er behauptet. Er ist nur die Fassade für etwas Grösseres, ein Maulheld. Und du hast auch mitgekriegt, wie schnell ich die Falle gerochen habe, diese Sache mit der Telefonüberwachung. Das hast du doch wohl, mein Lieber!«
»Du hast ihn ganz schön in Aufregung versetzt, James Bond, der wird noch bis ins nächste Jahr unter Strom stehen. Aber das kommt ja noch dazu: Solange er, wie du sagst, geschützt wird, werden sie auch hinter dem her sein, der ihn bedroht. Mit anderen Worten: Es reicht jetzt wirklich, Achmad, ich halte das nicht länger durch.«
»Ist denn irgendwas passiert, mein Freund?«
»Soll ich etwa darauf warten, dass was passiert? All das wird ja auch nichts ändern. Wir ändern die Welt nicht.«
»Beruhige dich, Omar! Habe ich denn gesagt, dass ich die Welt ändern will? Ich bin nur jemand, der von Gott ein Geschenk bekommen hat und es nutzt.«
»Mir scheint, du begreifst jetzt, dass der Mann die Fotos von der Bar Vertigo auf keinen Fall veröffentlichen wird.«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Und was kann man da tun?«
Achmad blickte auf einen kleinen Kasten unten links auf der Titelseite der Freiheit. »Alâa Gumaa«, sagte er.
»Wer?«
»Hör zu!« Achmad faltete die Zeitung zusammen und las den Text vor, der in roter Schrift unter einem Foto Alâa Gumaas abgedruckt war:
Warnung
Die unabhängige Zeitung Freiheit warnt davor, in ideeller oder materieller Hinsicht mit dem Journalisten Alâa Hussain al-Sajjid Gumaa, bekannt unter dem Namen Alâa Gumaa, zusammenzuarbeiten. Der Grund dafür ist sein Fehlverhalten, als er erfundene Nachrichten publizierte, die dem Ruf und dem Ansehen dieser Zeitung abträglich sind, sind ihre Leser doch an glaubwürdige Meldungen und überprüfte Informationen gewöhnt. Aufgrund dessen hat sich die Zeitung entschlossen, Alâa Gumaa zu entlassen und den Sachverhalt dem Vorsitzenden des Journalistenverbandes vorzulegen, damit dieser alles Weitere veranlasst. Die Zeitung übernimmt für die Textproduktion oder Erklärungen vonseiten des erwähnten Journalisten keinerlei Verantwortung. Der Erhabene sprach: »Oh ihr, die ihr glaubt! Wenn ein Lasterhafter mit einer Nachricht zu euch kommt, so sucht Klarheit zu gewinnen, dass ihr nicht Leute aus Unkenntnis verletzt und dann das, was ihr tatet, bereuen müsst.«33 Gott sprach die Wahrheit.
»Und was hast du nun mit ihm vor?«, fragte Omar.
»Das Letzte, was dieser Alâa geschrieben hat, stand in der letzten Wochenausgabe«, meinte Achmad. »Warte, die hab ich noch.« Er stand auf und kehrte das Unterste zuoberst, bis er die Zeitung schliesslich unter der Matratze fand. »Bestimmt hat er was geschrieben, was man nicht schreiben sollte«, meinte er. »Und daraufhin hat die Zeitung ihn gefeuert. Da ist was faul. Zu neunundneunzig Komma neun Prozent steckt irgendein hohes Tier dahinter.«
Achmad schlug die Zeitung auf und begann zu suchen, bis er Alâas Namen unter einem Artikel mit der Überschrift »Der dritte Mann« fand. »Hm, hm … ah, hör mal, die letzte Zeile. Es geht um Scharîf Amîn.«
… ganz zu schweigen von seinem Sohn Habîb, der ein Urlaubsresort an der Nordküste eröffnet hat, und von dessen auf Staatskosten unternommenen Erholungsreisen nach Europa. All diese Ausgaben haben die Geringverdiener zu tragen, damit die Söhne der Mächtigen sich amüsieren können, die ja sonst nichts zu tun haben, weil sie etwas geerbt haben: nämlich die Macht.
»Der Mann haut ganz schön auf den Putz«, sagte Omar. »Nur gut, dass sie den gefeuert haben. Das war das Geringste, was sie tun konnten.«
Achmad hörte ihm nicht zu. Er starrte auf diesen Namen: Habîb, Sohn von Scharîf Amîn. Habîb Amîn. In seiner Erinnerung kehrte er zu seiner letzten Nacht mit Gûda zurück. Die Worte, mit denen dieser ihn zu beruhigen versucht hatte, fielen ihm wieder ein: »Dieser Habîb Amîn ist zwar ein bisschen hohl, aber ein anständiger Kerl, und er kann gut reden. Seinen Vater, Scharîf Amîn, kennst du ja. Ein grosses Tier, er wird von allen umworben, revanchiert sich aber bei niemandem. Und das ist auch sein gutes Recht.«
Achmad sprang vom Stuhl, setzte sich an den Computer und ging seine Bilderordner durch, bis er den von Fathi al-Assâl fand. Er klickte sich durch die Fotos, bis er ein bestimmtes entdeckte.
»Wer ist das?«, fragte Omar.
»Hab ich es dir nicht gesagt? Mir hat Gott ein Geschenk gemacht. Das ist Habîb Amîn.« Achmad zeigte auf das Foto, das Habîb zusammen mit Fathi al-Assâl und Nâni zeigte.
»Machst du Witze?«
»Das ist der, mit dem ich diese Auseinandersetzung hatte.«
»Dieser Mistkerl, der dich geschlagen hat? Aber er sieht, ehrlich gesagt, ganz anständig aus. Wer ist denn die Sahneschnitte da?«
»Das ist Nâni, Fathi al-Assâls Freundin.«
»Schon über dreissig, siebenunddreissig vielleicht, aber sagenhaft! An den alten Hühnern ist doch am meisten dran. Guck dir mal diese Arme an: so weich und weiss! Und die Brust: wie bei Aphrodite A, der Frau von Mazinger Z, mit ihren zwei Raketen aus Stahl.«
»Omar, bist du noch bei der Sache?«
»Was denn?«
»Das ist Habîb Amîn, der Sohn von Scharîf Amîn, über den Alâa Gumaa den Artikel geschrieben hat.«
»Ach du Scheisse!«
»Wieso? Komm, starte mal Photoshop!«
»Sag mir nicht, dass du mit Habîb dasselbe vorhast wie mit Galâl!«
»Doch, sieht ganz so aus. Warum nicht?«
»Sein Vater ist Scharîf Amîn, mein Lieber, nicht bloss irgend so ein Journalist. Wenn schon Galâl die Welt auf den Kopf stellt, was wird Scharîf dann erst tun? Möglich, dass der Amerika mit reinzieht, und uns setzt man dann in Abu Ghraib fest!«
»Du bist vielleicht ein Feigling!«
»Ich, ein Feigling? Um dich habe ich Angst! Wenn ich ein Feigling wäre, hätte ich dich längst alleingelassen.«
»Ich habe nichts zu verlieren.«
»Du musst wissen, was du tust.«
Omar setzte sich an den Computer und begann, die Fotos von Habîb Amîn aus verschiedenen Lebensphasen durchzusehen. Auf den neueren Bildern war er meist zusammen mit Fathi al-Assâl zu sehen, auf den alten mit diversen anderen Personen, darunter war eine beträchtliche Anzahl von Fotos mit Sally und ein paar Mädchen, die im Kasino ein und aus gingen wie Derwische in ihrem Konvent.
»In ein paar Tagen hat sich alles beruhigt, und wir kümmern uns um Habîb«, sagte Achmad. »Aber morgen früh haben wir erst mal was sehr Wichtiges in der Pyramidenstrasse zu erledigen. Und ein paar Telefongespräche.«
»Gibst du diese Anrufe immer noch nicht auf?«
»Diesmal brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Es wird alles gutgehen. Aber sag mal ehrlich, dieser Hassan, dein Cousin, ist der noch immer in Saudi-Arabien?«
»Ja. Wie kommst du denn jetzt auf den?«
»Schreibt er euch?«
»Gerade vor einer Woche hat er einen Brief geschickt.«
»Habt ihr den noch?«
»Zu Hause, bei meiner Mutter. Warum? Hast du solche Sehnsucht nach ihm?«
»Nein, ich brauche nur den Briefumschlag.«
»Und was willst du damit?«
»Ich habe einen Verdacht, ich erklär es dir später. Bring mir jetzt vor allem sofort den Umschlag, bevor deine Mutter ihn wegwirft! Und sag mal ehrlich, kann man mich über mein Handy orten?«
»Schon möglich. Das Netz ist mit einem Satelliten verbunden, und über GPS können sie deine SIM-Karte lokalisieren.«
Augenblicklich zog Achmad sein Handy aus der Tasche. »Gib mir mal einen Zettel!«
Omar gab ihm einen. Achmad schrieb ein paar Nummern darauf, entfernte dann den Akku, nahm die SIM-Karte heraus und brach sie in der Mitte durch.
»Super!«, sagte Omar. »So ist es perfekt. Was machen wir denn morgen eigentlich in der Pyramidenstrasse?«
»Wir statten dem Kasino einen Besuch ab. Dem Kasino Paris.«
Die Nacht brachten sie damit zu, über Achmads nächsten Schritt zu streiten. Er hatte mittlerweile seinen Spass an diesem Katz-und-Maus-Spiel.
Omar fertigte eine sorgfältige Kopie des Umschlags an. Er entfernte die Briefmarke mit Wasserdampf, zeichnete mit Photoshop den Stempelabdruck nach und fügte dann, damit alles echt wirkte, Achmads Namen sowie ein paar hingekritzelte Unterschriften hinzu, wie sie meist in der Eile geleistet werden.
Währenddessen versuchte er Achmad, der bereits Stein für Stein seine Luftschlösser errichtete, ein wenig zu zügeln. Aber Omar eignete sich nicht besonders gut als Ratgeber. Das Ganze war einfach zu faszinierend: eine Herausforderung für Omars Fähigkeiten. Ausserdem steckte hinter jedem Bild eine Geschichte. Viele Gesichter vor ihm entblössten ihre dunkle Seite, kein Glanz lag in ihren Augen. Diese Gelegenheit würde Omar sich nicht entgehen lassen. Er gab nach und spielte die ganze Nacht mit den Fotos. Er feilte und wetzte daran herum, bis sie zur scharfen Klinge wurden – einer Klinge, die durchbohren und töten konnte.