24
In Safwâns Büro war es ruhig. Er sass da und starrte Löcher in die Luft. Vor ihm stand ein Aschenbecher, in den er ein ganzes Feld von Zigarettenstummeln gepflanzt hatte. Da klopfte Mustafa Ârif an die Tür und kam schnellen Schritts, enthusiastisch und mit triumphierendem Gesichtsausdruck herein.
»Was gibt’s?«, fragte Safwân.
»Alles ist Ihren Anordnungen gemäss verlaufen, mein Herr«, antwortete Mustafa.
»Haben Sie es nachgeprüft?«
»Gerade vor fünf Minuten ist die Zielperson im Leichensaal des Krankenhauses in den Kühlschrank geschoben worden. Ich habe damit gewartet, Sie zu informieren, bis ich es mit meinen eigenen Ohren gehört hatte. Und bevor er in seine Wohnung kam, haben wir dort allerhand sichergestellt. Jeden Stein haben wir umgedreht.«
»Waren irgendwelche Originale da?«
»Nicht direkt …«
»Was soll das heissen, nicht direkt?«
»Wir haben ein paar Unterlagen über die Zentralbank gefunden. Einen Artikel über Bestechungen und Provisionen und eine zweite Kopie der Papiere, die wir schon in der Zeitung konfisziert hatten. Ausserdem ein paar Fotos.«
»Keine Originale? Keine Negative?«
»Leider nein. Aber etwas anderes …«
»Was?«
»Einen Schlüssel. Den Schlüssel zu einem Bankschliessfach.«
»Wo ist er?«
Mustafa zog ihn aus der Tasche und reichte ihn Safwân, der ihn begutachtete.
»Von welcher Bank ist er?«
»Der Schriftzug der Bank ist nicht mehr vorhanden, den muss jemand abgefeilt haben. Nur eine Nummer ist noch da. Eine Schliessfachnummer.«
Safwân betrachtete den Schlüssel. Auf einer Seite stand die Nummer 570. »Können Sie herausfinden, von welcher Bank er stammt?«, fragte er.
»Gleich morgen schicke ich einen meiner Leute zu den Banken, in denen es Schliessfächer gibt.«
Safwân untersuchte den Schlüssel genauer. »Es ist eine alte Bank. Das ist ein mechanischer Schlüssel, nicht so einer wie bei den neuen Banken.« Er rutschte mit dem Stuhl ein Stück zurück, öffnete die rechte Schreibtischschublade, nahm eine Lupe heraus, legte den Schlüssel darunter und zog den Lampenschirm näher heran. »Hier war eine Gravur«, sagte er, während er die eine Schlüsselseite betrachtete. »Man erkennt, dass jemand versucht hat, sie mit einem scharfen Werkzeug zu beseitigen. Hier steht: ›Bank al-…‹, nur der Name fehlt. Das erleichtert die Sache etwas. Die Banque Misr kann es also nicht sein, auch nicht die National Bank of Egypt, aber möglicherweise die Bank al-Iskandarîja oder die Bank al-Itimân. Vielleicht auch die Bank al-Kâhira – die Banque du Caire. Es muss eine sein, deren Name mit ›al-‹ beginnt. Sagen Sie mir morgen früh, welche es ist! Wo haben Sie diesen Schlüssel gefunden?«
»Bei seiner Unterwäsche in der Schrankschublade.«
»Die Wahrscheinlichkeit, dass die Originale in diesem Schliessfach liegen, beträgt neunzig Prozent. Ich möchte, dass diese Geschichte morgen vorbei ist, Mustafa.«
»Gewiss, mein Herr.«
»Und was ist mit der zweiten Sache?«
»Wir haben nur noch einen Achmad Kamâl übrig und wollen bloss noch sicherstellen, dass er der Richtige ist.«
»Halten Sie mich auf dem Laufenden!«
»Wenn es Neuigkeiten gibt, rufe ich Sie sofort an.«
»Wir sind noch nicht fertig, Mustafa. Ich will, dass Sie keinerlei Risiko eingehen, bevor das abgeschlossen ist, verstanden?«
»Verstanden, mein Herr. Morgen Abend ist alles vorbei. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.«
Genau in dem Augenblick, in dem Mustafa die Tür zu Safwâns Büro hinter sich zuzog, wurde ins Schloss der Wohnungstür in Manjal ein Schlüssel gesteckt.
Omar sass am Computer, sicherte auf Achmads Anruf hin die Dateien mit einem Passwort und verbarg alles, was mit Alâa in Verbindung stand, einschliesslich der unseligen Fotos. Mit einem Mal hörte er, wie sich die Tür öffnete, und fuhr vor Schreck zusammen. Er sprang auf, schnappte sich Achmads Bügeleisen und stellte sich damit neben die Tür, um den Eindringling abzupassen. Als er Schritte näher kommen hörte, hob er das Bügeleisen und wollte ihn damit niederschlagen, als er plötzlich sah, dass es Achmad war. Der wich dem Schlag erschrocken aus, der ihn hätte töten können.
»Was soll denn das?!«
»Ich dachte, du wärst jemand anders«, sagte Omar. »Was ist passiert?«
Achmad setzte seine Brille ab, warf sich auf die Matratze in der Mitte des Raums und schloss für eine Minute die Augen, während Omar ihn unaufhörlich löcherte, was denn nun vorgefallen sei. Achmad fühlte sich seltsam entspannt, als hätte er ein starkes Beruhigungsmittel genommen. Omars Worte waren wie ein unverständliches Flüstern. Ausserdem spürte er infolge des zerbrochenen Brillenglases einen Schmerz hinter dem rechten Auge, in den Adern ein zähes Gefühl, als hätte er einen grossen Blutverlust erlitten, und in der Schulter pochte ein Schmerz wie von einem Messerstich.
Von dem, was Omar sagte, bekam Achmad nicht ein Wort mit, bis schliesslich der Satz fiel: »Ich lösche die Fotos.«
Da stand er auf und zog sich das Hemd aus. »Du wirst keinerlei Fotos löschen, Omar!«
»Dann erzähl mir, was passiert ist!«
»Alâa ist tot. Es war jemand in der Wohnung gewesen, bevor er raufging … Eine furchtbare Explosion …«
»Geht es eins nach dem andern?«
Achmad erzählte ihm in allen Einzelheiten von dem Treffen, den Umständen der Explosion und Alâas Tod, bis Omar fast der Speichel aus dem Mund lief.
»Bist du dir sicher, dass da Licht im Fenster war?«, fragte er schliesslich.
»So sicher, wie ich weiss, dass du jetzt vor mir sitzt.«
»Und du hattest keine Zeit, die Nummer des Mercedes zu erkennen?«
»Es ging alles zu schnell.«
»Und dann sagst du mir, ich soll die Fotos behalten und nicht löschen? Du bist verrückt! Bis jetzt war ja alles noch sehr spassig …«
Achmad schoss hoch wie ein überkochender Kessel: »Niemand schlägt dir aufs Händchen, wenn du nicht mehr mitmachen willst! Schmeiss einfach die Fotos auf eine CD, ich komm schon zurecht.«
»Gehst du jetzt auch noch auf mich los? Ich will doch nur das Beste für dich, du Idiot. Aber so verrennst du dich, und mich ziehst du mit dir!«
»Ich weiss genau, was ich tue.«
»Du weisst gar nichts. Wenn du dich so aufregst, machst du nur Fehler, falls du sie nicht längst gemacht hast.« Omar begann, im Kreis um Achmad herumzulaufen. »Nun sind diese Leute schon bei Alâa, da wird es nicht lange dauern, bis sie auch Informationen über dich haben. Jetzt denk mal in Ruhe nach! Hast du mit ihm telefoniert?«
»Ja, das hab ich.«
»Wann?«
»Unmittelbar vor der Explosion, wie gesagt.«
»Ich denke nicht, dass sie dir schon auf der Spur sind. Schalt vorsichtshalber das Handy aus, und nimm die SIM-Karte raus! Meinst du, diese Leute haben die Wohnung durchsucht? Das heisst, haben sie was bei ihm gefunden, das sie zu uns führen könnte?«
Achmad entfernte erst den Akku aus dem Handy, dann die SIM-Karte. »Das ist nicht, was ich befürchte. Das Problem ist, dass sie bestimmt den Schlüssel gefunden haben. Die Originale sind im Schliessfach, und Alâa hatte Angst davor, sie bei sich zu haben, falls er verhaftet würde.«
»Aber die Geheimzahl, die du hast, wissen sie nicht.«
»Das wird sie nicht aufhalten. Wenn sie sie erfahren wollen, erfahren sie sie.«
»Aber nur wenn sie die Bank kennen. Hattest du nicht gesagt, Alâa hat den Namen abgefeilt?«
»Ja, nur die Schliessfachnummer ist noch da. Aber das wird sie auch nicht stoppen, es hält sie höchstens ein paar Stunden auf.«
»Zeig mir mal den Schlüssel!«
Achmad zog ihn aus der Tasche und reichte ihn Omar.
»Das müssen wir alles loswerden. Hör auf meine Worte, Achmad!«
»Wir gehen die Sachen holen, später nutzen sie so oder so nichts mehr.«
»Was willst du denn mit den Originalen? Diese Leute werden nicht zulassen, dass diese Informationen irgendwie veröffentlicht werden. So was geht in anderen Ländern, aber nicht hier. Oder willst du, dass wir den gleichen Weg wie Alâa gehen?« Achmad vergrub das Gesicht in den Händen, während Omar fortfuhr: »Hör auf meine Worte, Achmad! Wir können uns diesen Leuten nicht in den Weg stellen. Das ist jetzt kein Spiel mehr. Du weisst sehr genau, dass wir für sie letztendlich nur Kinder sind. Du hast es versucht, aber mit Galâl und dem Skandal, den wir ihm bereitet haben, ist es genug. Wir hatten ja auch viel Spass, war toll bis jetzt. Oder hast du vor, dich umzubringen?«
»Das ändert aber nichts daran, dass ich das Schliessfach öffnen muss.«
»Und wenn du sie da triffst?«
»Sie sind nicht schneller als ich. So einfach ist das nicht, es gibt eine ganze Menge Banken. Ich gehe die Originale holen, und danach überlegen wir. Morgen stelle ich mich ganz früh vor die Bank. Fünf Minuten, dann hab ich die Sachen.«
Omar stand auf, lehnte sich mit dem Rücken an den Computertisch und sah Achmad mit aufeinandergepressten Lippen, zusammengekniffenen Augen und gerunzelter Stirn an. »Ist das dein letztes Wort?«, fragte er.
Achmad blickte ihm nicht in die Augen. »Der Herr stehe uns bei!«
»Ich wusste, dass du das sagen würdest. Dein ›Der Herr stehe uns bei‹ heisst ›nein‹. Wir müssen jede Chance ergreifen, uns diese Leute vom Leib zu halten!«
Achmad hob den Kopf. »Ich hab’s dir doch gesagt: Der Herr stehe uns bei!«
Dabei hielt er den Blick auf etwas hinter Omars Rücken gerichtet: auf den Computerbildschirm. Der zeigte gerade eine geöffnete Fotodatei. Es handelte sich um das Bild von Alâa, das Omar auf der Strasse aufgenommen und später so skandalös bearbeitet hatte.
»Wir verbrennen das Ganze, damit es ein für alle Mal weg ist«, schlug Omar vor. »Ich möchte mich nicht verprügeln lassen. Ich kenne mich, ich würde dich bei der ersten Ohrfeige verraten.«
»Schschsch!« Achmad stand auf und schob Omar vom Bildschirm weg. »Komm, setz dich!«
»Was willst du denn noch?«
»Öffne mal Alâas Bild in Photoshop!«
»Hatten wir nicht gesagt, es ist genug?«
»Und hast du nicht gesagt, wir müssen jede Möglichkeit nutzen, uns diese Leute vom Leib zu halten?«
Omar öffnete das Foto. »Was geht bloss in deinem Kopf vor?«
»Hast du deinen Ausweis dabei?«
»Was hast du vor, verdammter Kerl?«
»Du hast dir doch noch nicht den neuen mit der nationalen Identifikationsnummer machen lassen, oder?«
»Nein, noch nicht«, sagte Omar und zog die Schreibtischschublade auf, um seine Brieftasche herauszuholen. Sie war aus schäbigem schwarzem Schlangenleder. Würde sie noch von Saladin stammen, hätte sie vermutlich in keinem schlimmeren Zustand sein können. Jede Menge Zettel und Geldscheine steckten darin, zusammengerollt wie pharaonische Papyri. Aus diesem Wrack zog Omar nun seinen Ausweis, der zerschlissen war wie ein antikes Manuskript oder eine Schatzkarte. Das Foto darauf zeigte einen türlosen Kühlschrank mit struppigem Haar und in blauem Hemd, ähnlich dem eines Strafgefangenen. Das war Omar mit sechzehn Jahren.
Achmad nahm den Ausweis mit spitzen Fingern entgegen, sah ihn sich an und legte ihn in den Scanner. Als Omar dann die Hand nach der Schublade ausstreckte, um sie wieder zu schliessen, sah Achmad etwas silbrig aufblitzen. Er packte Omars Hand und zog die Schublade weiter heraus. Was er gesehen hatte, war ein Ring. Ein Ring mit dem Buchstaben G. Sein Herz schlug wie wild. Er nahm ihn heraus und fragte Omar, der gerade seinen Ausweis scannte: »Was ist denn das?«
»Du bist ein Dummkopf!«
»Wer hat diesen Ring hier reingelegt?«
»Meine Mutter.«
»Ich mache keine Witze!«, schrie Achmad.
»Junge, bist du verrückt geworden? Du selbst hast ihn hier deponiert.«
»Mit diesem Ring hab ich nichts zu tun, ich weiss nur, wer ihn trägt. Und ich weiss, dass ich nicht …«
»Was ist los, Achmad? Dieser Ring gehört dir, mein Lieber. Hast du das vergessen oder was?«
»Der Ring gehört nicht mir.«
»Beim Propheten, ich hab keinen Nerv für deine Blödheiten!«
Achmad beschwor ihn: »Omar, tu’s für mich, antworte mir ernsthaft! Wem gehört dieser Ring? Habe wirklich ich ihn da reingelegt?«
»Diesen Ring hast du für Ghâda machen lassen, mein Guter. G ist der erste Buchstabe ihres Namens. Was ist los mit dir, hast du dich zugedröhnt?«
»Wann hab ich denn das getan?«
»Ich kann es nicht glauben, dass du jetzt Witze machst.«
»Antworte mir doch nur! Wann hab ich ihn machen lassen?«
»Nachdem du sie zum ersten Mal angerufen und erfahren hattest, dass sie Ghâda heisst. Du hast ihn bei einem Silberschmied in al-Hussain anfertigen lassen. Fünfundsechzig Pfund hat er dich gekostet. Noch was?«
»Und warum hab ich ihn hierhergelegt?«
»Weil es dir zu peinlich war, ihr zu zeigen, dass du dich gleich beim ersten Treffen in sie verliebt hast. Was soll das sein, ein Verhör?«
Achmad ging wieder zu seiner Matratze und setzte sich. Er hielt den Ring hoch und betrachtete ihn, dann steckte er ihn an den Finger. Er passte. Dafür hatte er keine Erklärung. Die Nacht war so ereignisreich gewesen, dass für Weiteres kein Raum mehr war. Aber eines fiel ihm noch ein: ein Foto. Das Foto von Galâl, das er im Kasino von ihm gemacht hatte, als er ihn dort zum letzten Mal sah, bevor er ihm die verstörende Nachricht geschrieben hatte.
»Omar, zeig mir doch mal die letzten Fotos von Galâl! Das Foto von ihm und dem jungen Mädchen.«
»Wie kommst du denn jetzt auf den?«
»Ich will nur was nachsehen.«
Omar öffnete das Foto. Achmad ging mit dem Kopf ganz nah an den Monitor heran und suchte den oberen Bereich des Fotos ab. Die Stelle, von der aus ihm der Mann mit dem Ring zugewinkt hatte, als er ihm den leeren Zettel gegeben hatte. Er war nicht da. Der Tisch hinter Galâl und seiner Begleitung war frei.
»Hast du diese Bilder beschnitten, Omar?«
»Ich hab nichts daran gemacht.«
»Der Hintergrund! Da war ein Mann im Hintergrund.«
»Was für ein Mann?«
»Der Mann, dem dieser Ring gehört.«
»Da war niemand im Hintergrund, Achmad, was ist los mit dir?«
Achmad warf sich auf die Matratze. Blitzlichtartig flackerten Bilder vor seinen Augen auf: kurze Szenen von ihm selbst, wie er den Ring auf ein weisses Blatt Papier zeichnete. Wie er den Ring in der Silberschmiede entgegennahm, ihn im Kasino am Finger trug. Und eine Szene, in der er sich allein an einem Tisch sitzen sah. Ein Tisch ganz hinten im Kasino, direkt hinter Galâl Mursi.
Das war mehr, als er ertragen konnte. Sein Körper wurde immer schlaffer, und schliesslich ergab er sich. Er schlief ein, schlief tiefer als jemals zuvor. Besser gesagt, er verlor das Bewusstsein. Dabei sah er sich selbst mitten in seinem Zimmer vor einem Spiegel stehen. Vor einem Spiegel, der alles im Raum reflektierte, bis auf eine Kleinigkeit – ihn selbst. Er hatte kein Spiegelbild.
»Achmad! Achmad! Achmaaaaad!« Die Stimme wurde immer lauter, bis er schliesslich die Augen öffnete. Omar sass noch immer an seinem Platz. »Was ist denn bloss los?«
»Bin ich eingeschlafen?«
»Du bist gestorben!«
Für weitere Analysen oder Schlussfolgerungen war er jetzt nicht in der Verfassung. Es war Zeit, einen Notfallplan zu entwerfen. Achmad steckte den Ring in die Tasche und versuchte, alle unerklärlichen Gedanken zu verscheuchen. Doch der mysteriöse Mann ging ihm nicht aus dem Kopf.
»Öffne Gûdas Fotos!«, sagte er zu Omar.
»Wie kommst du denn jetzt auf Gûda?«
Achmad kniff sein rechtes Auge zu, vor dem das Brillenglas zersplittert war, und richtete den Blick auf den Bildschirm. »Ein alter Gefallen, den man erwidern sollte.«