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Mai 2006

Ein Jahr war seit dem Vorfall im Hotel vergangen. Sainab Hassan Nasr, Achmads Mutter, war inzwischen mit fünfundsechzig Jahren an den Folgen ihres Diabetes verstorben, nachdem schon ihre Zehen ihr einer nach dem anderen ins Grab vorangegangen waren. Und Âja war nun drei volle Jahre mit Machmûd Hassîb, dem stämmigen Nachbarssohn, verlobt, die schlanke, schwarzhaarige Âja mit ihrer zarten Nase und den feingeschwungenen Augenbrauen. Sie hatte ein Studium der Soziologie absolviert und arbeitete zurzeit als Sekretärin bei einer Importfirma in Schubra, das von Sajjida Sainab aus, wo sie nach dem Tod der Mutter noch zusammen mit ihrem Bruder wohnte, mit der Metro gut zu erreichen war. In Machmûd war sie schon seit der Mittelschule verliebt gewesen, eine stille Liebe, die sich allmählich entwickelt hatte: Blicke aus dem Balkonfenster, Briefe, ein Treffen nach der Schule, ein roter Teddy für achtzehn Pfund aus der Boutique Valentine, eine Kette mit einem Baumblatt, das aus zwei Teilen bestand und als Aufschrift das Glaubensbekenntnis »Es gibt keinen Gott ausser Gott, und Muhammad ist sein Prophet« trug, ein Fläschchen des Parfums Touch, nächtliche Telefonate, nach denen man durch die Kairoer Parks pilgerte, eine Nilfahrt vom Maspero-Gebäude bis zu den Staumauern, Radtouren, heimliches Händchenhalten und nervöse Umarmungen – und schliesslich die lange Verlobungszeit mit dem verliebten Nachbarn beziehungsweise Professor Machmûd, wie der Türsteher des Hauses ihn nannte. Das Gebäude gehörte zur Hälfte seinem Vater Hagg Hassîb, der sich an der Miete von zwanzig Pfund für jede Wohnung berauschte. Machmûd hatte ein Informatikstudium abgeschlossen und sich wie jeder anständige Absolvent eine Stelle gesucht, die mit seinem Studienfach so wenig wie möglich zu tun hatte. Zunächst arbeitete er in einer Firma, die Münzfernsprecher herstellte, später im Devisenhandel und daneben nachmittags in einem karitativen Bekleidungsgrosshandel in Muski, der Scheich Akram gehörte. Dieser Mann führte Machmûd in eine Welt ein, von der er bisher nichts gewusst hatte. Hatte er sich früher, abgesehen davon, dass er rauchte, Musik hörte und sich mit seinen Freunden dubiose Videos anschaute, nur freitags und an den Feiertagen zum Beten berufen gefühlt, begab er sich nun, dem Vorbild des Firmeneigentümers und seiner Kollegen folgend, jeden Tag pünktlich zu den Gebetszeiten in die Moschee. Von seinen früheren Freunden zog er sich zurück und begann mit gesenktem Blick umherzugehen und die Frauen des Viertels nicht mehr zu grüssen. Sein Gilbab wurde kürzer, seine Hosenbeine krempelten sich in die Höhe, und an die Stelle der Schuhe traten Lederschlappen mit Zehentrenner. Ein Fusselbart überzog sein Gesicht, und die Zahnpasta musste dem Zahnholz weichen. Redensarten wie »Gott möge es dir mit allem Guten vergelten« und »Unser Herr schenke dir ein gutes Ende« fanden Eingang in sein Vokabular. Um sich von jeder zweifelhaften Tätigkeit fernzuhalten, gab er seine morgendliche Beschäftigung im Devisenhandel auf und arbeitete nur noch in Scheich Akrams Firma. Eines Tages schliesslich legte er sich einen Sprengstoffgürtel um und sprengte sich auf dem Tachrîrplatz in tausend Stücke …

Neinneinnein! In die Luft sprengte er sich nicht. Machmûd gehörte keiner Terrorzelle an – das Unternehmen, in dem er arbeitete, bestand nur aus einer Gruppe von Leuten, die auf eine in ihren Augen vorbildliche Weise Gott näherzukommen suchten. In anderer Hinsicht jedoch hatte Machmûds Veränderung eine durchschlagende Wirkung, denn Âja wurde davon bis ins Mark getroffen. Sie machte sich seine Ansichten allmählich zu eigen. Seine Geliebte zu überzeugen ist schliesslich für einen jungen Mann nicht schwer, vor allem vor der Hochzeit, wenn die Liebe sie noch blind macht. Und so beschritt Âja denselben Weg, durchschnitt die Bande zu ihren Freundinnen und ersetzte sie durch ein paar – grösstenteils verheiratete – »Schwestern«. Handschuhe und der bis zur Taille reichende schwarze Chimâr traten an die Stelle des Hidschâb, die Augenbrauen wucherten wild, und auch ihre zweifelhafte Erwerbstätigkeit gab sie auf, als der Inhaber begann, Kosmetika zu importieren. Auf ihrem Nachttisch lagen nun Bücher mit bunten Umschlägen, auf denen der Antichrist, Gog und Magog oder Grab und Feuer abgebildet waren – oder die kahlen Schlangen (als gäbe es auch behaarte!), von denen diejenigen, die die Almosensteuer nicht entrichteten, am Jüngsten Tag bestraft würden. Jedoch wurde auch ihre Beziehung zu Machmûd von alldem in Mitleidenschaft gezogen. Sie wurde zu unter Asche begrabener Glut, zu dem auf die Sättigung folgenden Hunger, und weil er die Heirat immer weiter aufschob, waren sie schliesslich zu dreijähriger Haft verurteilt, während deren sie ohne ein Hochzeitsdatum auf den Entlassungsbescheid warteten.

Schliesslich kam der Tag, an dem Âja ihrem Bruder mit Gesichtsschleier die Tür öffnete.

»Was machst du denn da?«, fragte Achmad.

»Soll ich etwa die Tür öffnen, ohne mein Gesicht zu verhüllen?«

Achmad trat ein, stellte seine Tasche auf den erstbesten Stuhl, zog die Schuhe aus, setzte sich und befreite seine müden Füsse von den Socken. »Willst du den jetzt immer anlegen?«

Âja zog den Schleier vom Gesicht. »Ich denke darüber nach.«

»Dann weiss ich aber nicht mehr, wie ich dich erkennen soll, wenn ich dir auf der Strasse begegne«, meinte er. »Gib mir dann also ein Zeichen. Oder besser, flüstere mir das Geheimwort zu, wenn du an mir vorbeikommst! Nehmen wir kukuwawa, okay?«

»Der Herr zeige dir den rechten Weg!«

»Natürlich, Machmûdchen, dein Glaubenskämpfer, hat dich angewiesen …«

»Für den Nikâb braucht man keine Anweisungen von irgendwem. Unser Herr, der Gepriesene und Erhabene, hat ihn uns befohlen. Wenn du dich ein bisschen mit den religiösen Pflichten beschäftigt hättest statt mit dem Firlefanz, mit dem du dich immer abgibst, wüsstest du das auch. Die Religion besteht nicht nur aus Beten und Fasten, lieber Achmad.«

Âja kannte seine schlechte Laune schon. Von Anfang an hatte er Machmûd Hassîb nur akzeptiert, weil ihre beiden Mütter miteinander befreundet gewesen waren. Dann war seine Mutter gestorben, und nachdem bei dem Vorfall vor einem Jahr schon sein Kindheitsfreund Hussâm Munîr von ihm gegangen war, hatte er durch ihren Tod eine unheilbare Verletzung erlitten. Kurz darauf hatte er sich mit Salîm, der die Fotografen für das Hotel anheuerte, zerstritten und aufgehört, bei ihm zu arbeiten. Ohne Beschäftigung hatte er zu Hause herumgesessen, bis eines Tages ein Bekannter ihm einen Job als Fotograf bei einem Freund im Kasino Paris an der Pyramidenstrasse vermittelt hatte. Dort arbeitete er nun von neun Uhr abends bis sieben Uhr morgens und wurde jeden Tag, wenn er um acht nach Hause kam, von seiner Schwester mit hämischen Bemerkungen über seine Situation und sein sündiges Geld in Empfang genommen.

Heute allerdings wollte sie sich nicht über ihn lustig machen. »Möchtest du was essen?«, fragte sie ihn nur.

»Bring mir bloss ein Glas Milch!«

Âja zog das Kopftuch ab und ging in die Küche, während Achmad den Kopf ans Sofa lehnte, den Fernseher einschaltete und mit abwesendem Blick auf den Bildschirm starrte. Schliesslich kam sie zurück, setzte sich neben ihn, sah ihm beim Trinken zu und wartete auf die Gelegenheit, ein Thema anzusprechen, das sie schon lange beschäftigte.

»Machmûd lässt dich grüssen«, sagte sie endlich.

Âja wartete, aber er antwortete nicht.

»Er wollte dich sehen«, fuhr sie fort, »aber bei deinen Arbeitszeiten geht es nicht.«

»Dann lass ihn doch nach seinem Feierabend bei mir im Paris vorbeikommen.«

»Der Herr vergebe dir!«

»Wenn ich was anderes finden würde, ginge ich da ja nicht hin. Oder soll ich etwa auch Wäsche und Unterhosen in Muski verkaufen?«

»Warum kannst du ihn nicht leiden?«

»Weil er kein Mann ist und sich vor der Verantwortung drückt. Er hat Geld und lässt dich – ich weiss nicht, warum – seit drei Jahren hängen.«

»Das Geld, das er hat, reicht nicht für eine Wohnung, das weisst du.«

»Seinem Vater gehört doch ein Teil des Hauses. Soll er das verkaufen und dich heiraten!«

»So einfach ist das nicht. Es gibt auch noch andere Erben an dem Haus.«

»Mach dich doch nicht lächerlich. Wenn er dich heiraten wollte, würde er es auch tun.«

»Genau darüber wollte ich mit dir reden.«

Achmad blickte sie fragend an.

»Machmûd hat mir vorgeschlagen, dass du uns helfen könntest, wenn du willst, dass wir es hinter uns bringen.«

»Wie denn das?«

»Indem wir zusammen hier wohnen.«

»Hab ich’s mir doch gedacht!«

»Wir beide können sowieso nicht hierbleiben, der Vertrag lief auf Mamas Namen, und sie ist tot. Aus lauter Anstand lässt Machmûds Vater uns noch gewähren, aber er wird sein Apartment zurückwollen. Wenn Machmûd und ich nach unserer Hochzeit hier wohnen würden, ginge es auch nicht an einen Fremden, es ist schliesslich auch mein Zuhause.«

»Also bin letztendlich ich derjenige, der euch im Weg steht?«

»Du kannst uns helfen und kriegst gleichzeitig deinen Willen.«

Achmad warf den Kopf zurück, rieb sich die Augen und sah sie an. »Und was ist mit mir?«, fragte er. »Wo soll ich hin?«

»Du bist ein Mann und kommst zurecht. Aber du kannst dir nicht vorstellen, unter welchen Druck mich die Blicke der Leute setzen. Ich kann es nicht länger aushalten, Achmad, seit drei Jahren warte ich jetzt schon auf meine Hochzeit, die Nachbarn machen mich fertig. Für ein Mädchen ist es was anderes als für einen Jungen, das verstehst du doch sicher.«

Er stand auf und klopfte seiner Schwester auf die Schulter. »Genug, Âja«, sagte er. »Ich hab verstanden.« Er ging in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Um fünf Uhr zog er sich an, nahm seine Kamera und war zum Aufbruch bereit. Als er in Âjas Zimmer trat, war sie gerade beim Bügeln. »Nächste Woche hab ich einen Ort gefunden, wo ich bleiben kann«, erklärte er ihr.

Âja sah ihn an und konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. Als sie ihm um den Hals fiel, sagte er: »Aber wenn dieser Dickwanst dich ärgert, werfe ich ihn aus dem Fenster. Genug, wein nicht! Ich gehe dann mal.«

Die folgende Woche war sehr ereignisreich. Achmad packte zusammen, was in der Wohnung von seinem Leben noch übrig war: einen Koffer mit Kleidern, einen Computer, ein paar Habseligkeiten. Den Saalmanager des Paris hatte er um den abgeschlossenen kleinen Raum neben dem Fotolabor gebeten, der früher einmal als Abstellkammer gedient hatte. Für eine Miete von hundert Pfund erklärte er sich einverstanden. Dorthin brachte Achmad die Rudimente seines Lebens und seiner selbst und sagte seiner Schwester Lebewohl, die still und leise zu Machmûd, beziehungsweise Scheich Machmûd, übergelaufen war, denn endlich hatte er sie geheiratet, und zwar in einem Saal, den ein grosser Vorhang in zwei Bereiche trennte, einen für Männer und einen für Frauen.

Achmad brachte sie noch zur Tür ihrer ehemaligen elterlichen Wohnung, die nun in den Besitz ihres Ehemannes übergegangen war, und liess es sich auch nicht nehmen, ihr zweihundertfünfzig Pfund in die Hand zu drücken, beinahe alles, was er in der Tasche hatte. Eine Umarmung, eine Träne, ein Kuss auf die Stirn, ein schönes Gesicht, unter dem Schleier grelles Make-up, Frauen mit Tabletts voll gefüllter Tauben und das Geräusch einer sich schliessenden Wohnungstür: das waren die letzten Eindrücke, die Achmad noch im Gedächtnis blieben, als er auf dem Weg zu seiner neuen Unterkunft über die Universitätsbrücke ging.

Zwei Wochen verstrichen, bis Achmad sich an sein neues Zuhause gewöhnt hatte. Er kaufte sich ein Bügeleisen, eine Matratze und ein neues Laken und hängte das Foto von sich und Amr Diâb an die Wand. Meistens sass er am Computer und vertrieb sich die Zeit mit Photoshop. Das Programm benutzte er normalerweise, um Fehler auf seinen Bildern zu korrigieren, aber auch um sich selbst auf einem Foto neben irgendwelche Prominente zu setzen, ohne sich die Mühe machen zu müssen, sie wirklich zu treffen. Allerdings liess er sich dabei von einem Kumpel helfen, der sich mit Fotomontage besser auskannte: seinem alten Schulfreund Omar. Der erstellte ihm Bilder, auf denen er zusammen mit Jennifer Lopez, Marilyn Monroe und Ahmed Zaki8 zu sehen war. Am liebsten allerdings war ihm noch immer das echte Foto mit Amr Diâb.

Achmad liess den Cursor über den Bildschirm kriechen, öffnete einen Ordner, den er so sorgfältig verborgen hatte, wie es nur jemand tut, der gewohnt ist, seine Geheimnisse im Leben zu wahren, und begann durch die Bilder zu scrollen: ein Foto von einem jungen Mann vor einer Bar, auf dem nächsten kam ein zweiter hinzu, Bilder vom Nil, ein Schiff, das mit einer solchen Geschwindigkeit vorbeifuhr, dass es wie ein gleissender Lichtstrahl aussah, ein paar Bilder von Mädchen, die bei einer Hochzeitsfeier auf einem Nilboot tanzten. Durch all das klickte sich Achmad so schnell durch, als wäre er dieser Szenen längst überdrüssig, doch schliesslich stoppte er und betrachtete eine Fotoserie von zwei ins Gespräch vertieften Männern hinter einer Glasscheibe. Nahaufnahmen von Mündern und Händen, dann verwackelte Fotos von wildem Durcheinander überall, im Bildhintergrund Personen in Bewegung, andere rücklings auf dem Boden. Man erkannte, wie sich jemand der Scheibe näherte, danach das Spiegelbild eines fallenden Mannes in cremefarbenem Anzug. Zum Schluss eine Weitwinkelaufnahme von der Bar. Sie sah aus wie die Sainhum-Leichenhalle, wenn die Ärzte dort beschlossen hätten, die Toten auf den Fussboden zu legen, der so rot geworden war wie der Teppich bei den Festspielen von Cannes. Links im Bild ein ihm wohlbekannter Körper, an dem nichts mehr lebendig war und dessen reglose Finger das Sprichwort bestätigten, dass die Finger des Pfeifers mit ihm sterben.

Ein ganzes Jahr lang waren Achmad diese Bilder nicht aus dem Kopf gegangen, wie auch der Gedanke, dass seine einzige Reaktion darin bestanden hatte, die Kamera zu betätigen. Was war er doch für ein Feigling gewesen! Könnte sein Freund noch gelebt haben, als er gegangen war? Allerdings hatte er nicht so ausgesehen. Wie hatte er sich dazu zwingen können, den Ort zu fotografieren, ohne dass es ihm in den Sinn gekommen wäre, seinem Freund den Puls zu fühlen? Wie Hussâm ihn angesehen hatte, bevor er seine Augen für immer schloss! Später der Anblick von Hussâms Mutter, wie sie sich an die Schulter ihrer Schwester lehnte und nicht mehr wahrnahm, was um sie herum geschah. Er konnte nicht vergessen, dass sein Freund im Begriff gewesen war, sich zu verloben. Niemandem hatte Achmad verraten, dass er dort gewesen war und alles durch sein Objektiv beobachtet hatte. Wie feige er sich vorkam! Der Schock hatte ihn verstummen lassen, reglos gemacht wie ein Möbelstück.

Wie zum Hohn hatte die Kamera, weil die Angreifer so schnell gewesen waren und die Belichtungszeit zu lang, keines der Gesichter klar erfassen können. Alle Personen sahen aus wie eilig vorbeihuschende Gespenster, die verwischte Schlieren hinter sich herzogen, so dass ihre Konturen sich nicht deutlich vom Hintergrund abhoben. Achmads verzweifelte Reaktion am folgenden Morgen hatte darin bestanden, eine CD mit diesen dürftigen Bildern anonym an die Staatsanwaltschaft zu schicken, wo sie still und leise verschwunden war wie in einem bodenlosen Brunnen. Dreimal hatte er dies als »ein unbekannter Wohltäter« wiederholt. Als solcher der Polizei gegenüber aufzutreten hatte er nämlich beschlossen, nachdem er einmal eine lebensgefährlich verletzte ältere Dame, die von einem jugendlichen Handtaschenräuber mit dem Klappmesser niedergestochen worden war, ins Krankenhaus gebracht hatte. Zur Belohnung hatte man ihn damals ins Kreuzverhör genommen und ihn über Nacht im Polizeirevier festgehalten, bis seine Unschuld bewiesen war.

Er hatte die Fotos sogar in einem verschlossenen und an den Herausgeber adressierten Umschlag bei einer regierungsnahen Zeitung abgegeben, doch alles umsonst. Schliesslich hatte er sie an das Boulevardblatt Freiheit geschickt, an dem sich die Sensationsgierigen ergötzten. Wie bei solchen Postillen üblich, bot sie detaillierte Berichte aus diversen Schlafzimmern sowie von Ministern, die das Land für fünfzehn Pfund verkauften, und zog in ihren Dossiers über diese Leute her. Die Zeitung war in letzter Zeit zu einer der auflagenstärksten geworden und traf am ehesten Achmads Geschmack, denn dort las er genau das, was er lesen wollte, schrie, verfluchte seine Landsleute, Gross und Klein, und deckte Verschwörungen auf, ohne aus dem Sessel aufzustehen. Er spähte ins Schlafzimmer einer jeden Schauspielerin, und wenn es ihm gelang, aus dem Kontext zu schliessen, wer jener H. M. war, der mit ihr schlief, wurde ihm seine ganze Klugheit bewusst.

Er wartete. In den folgenden Tagen machten die offiziellen Berichte gross mit persönlichen Fotos der beiden Geschäftsleute auf und brachten detaillierte Beschreibungen, wie sie aufeinander geschossen hätten. Die Schlagzeilen sprachen vom Kampf zweier Giganten, der zu einem Blutbad geführt habe, bei dem einer von ihnen zu Tode gekommen und der andere zum Krüppel geschossen worden sei. Dieser sei inzwischen zur Therapie ins Ausland gereist. In kleiner Schrift wurden die Namen der Opfer aufgelistet, darunter auch Hussâm Munîr.

Die verschiedensten Ursachen wurden für das Gemetzel angeführt: ein Streit zwischen den Leibwächtern, der zu einer Auseinandersetzung und schliesslich zu einer Schiesserei geführt habe; persönliche Rache zwischen den beiden Männern, die in einem Moment des Zorns ausgeartet sei; nicht zu vergessen die Theorie von einem Geistesgestörten, der das Feuer in der Bar eröffnet habe, um ein gottgefälliges Werk zu tun. Die Boulevardpresse indessen, allen voran die Freiheit, verfolgte ihren üblichen Weg: »Der Vorfall in der Bar Vertigo in allen Einzelheiten«, »Mädchen entfacht Feuer zwischen den grössten Geschäftsleuten des Landes«, »Der Getötete und seine Liebschaften«, »Das Mädchen, das kurz vor dem Hotelmassaker verschwand«, »Das Geheimnis der Damenunterwäsche in Hischâm Fathis Tasche«, »Die Schauspielerin, die ihre beiden Liebhaber umbrachte«, »Laila Alwi9 ist der Grund für das Massaker an den Geschäftsleuten«.

Im Innenteil war ein Bericht, in dem es hiess, Laila Alwi lese gerade ein Drehbuch für einen Film über den Vorfall im Hotel. Als Sensation druckte die Freiheit Achmads Fotos unter der Überschrift »Exklusiv aus verlässlicher Quelle: streng geheime Fotos vom Schauplatz des Verbrechens, von der Gerichtsmedizin nach dem Anschlag aufgenommen«. Daneben befand sich ein Kasten mit aufreizenden Bildern eines berühmten deutschen Models im Badeanzug, über den Augen ein schwarzer Balken. Darunter stand in roten Lettern: »Exklusiv: das erste Foto von der Beschuldigten im Fall des Massakers an den Geschäftsleuten.« Allerdings gab die Zeitung keinerlei Hinweis auf den Unbekannten, der ihr die Bilder zugespielt hatte.

Und wie es im Leben so ist, verschwanden diese Nachrichten allmählich wieder, und andere, heissere Meldungen nahmen ihren Platz ein, bis die Story schliesslich gestorben war und die Wahrheit mit ihr. Achmads Fotos hatten nicht mehr bewirkt, als der Boulevardpresse einen Köder zu verschaffen, mit dem sie ihre wöchentlichen Verkäufe ankurbeln konnte.

Der Gipfel des Hohns war Kristinas Heirat mit Salîm zwei Wochen später, dem Inhaber des Fotostudios im Hotel, der sie schon immer mit den Augen verschlungen hatte, wenn sie an ihm vorbeigegangen war. Zuvor hatte er dem Künstleragenten angeboten, sie zu einer ehrbaren Frau zu machen, natürlich nur damit sie ihre Aufenthaltsgenehmigung nicht verliere, Gott behüte, aus keinem anderen Grund! Kristina willigte ein, wie eine Rose sich dreinschickt, getrocknet zu werden: innerlich hohl und nur noch äusserlich schön. Sie trauerte sehr um Hussâm, aber sie musste auch ihren Lebensunterhalt bestreiten.

Den erbärmlichen Dialog mit Kristina hatte Achmad noch nicht vergessen. »Salîm?«, hatte er entgeistert gefragt.

»Ja, Salîm, der Fotograf.«

»Der ist doch in Wirklichkeit gar kein Fotograf. Und ausserdem, hast du denn Hussâm schon vergessen?«

»No, no, das verstehst du ganz falsch, Achmad. Hussâm ist hier« – sie zeigte auf ihr Herz –, »aber ich muss mich verloben, wegen der Aufenthaltserlaubnis. Du weisst ja, wie das ist mit der Bürokratie und dem Pass.«

»Salîm, und das nach Hussâm, Kristina?«

»Of course gibt es niemanden mehr wie Hussâm. Aber mein Visum läuft in einem Monat ab.«

»Das ist doch ein Schwein!«

»Achmad, please! Mister Salîm ist ein Gentleman.«

»Hussâm hatte dir einen Verlobungsring gekauft, weisst du das?«

»Sorry, für mich ist das Ganze auch nicht leicht, but life must go on.«

»Sicher«, sagte Achmad, und in Gedanken setzte er hinzu: Verflucht sei dein Vater, du Hundetochter!

Damit begann eine Reihe von Auseinandersetzungen zwischen Achmad und Salîm, die sich über einen Monat hinzogen. Achmad konnte den Anblick der beiden nicht ertragen. Als Salîm vom Hintergrund ihrer Beziehung zu Hussâm und von dessen Freundschaft mit Achmad erfahren hatte, fing er ausserdem an, Achmad absichtlich zu drangsalieren und zu quälen, so dass dieser ihn schliesslich verliess und mit leeren Taschen in die Welt hinausging.

Es war schon nach elf Uhr abends, als Achmad aus einer Flut von Erinnerungen aufschrak, die wie Mittelmeerwellen im Novembersturm über ihm zusammengeschlagen waren. Gûda klopfte an seine Tür.

Dies allerdings war eine andere Geschichte.

Im April 1967, als Gûda Hauptfeldwebel in der ägyptischen Armee war, hatte sich das Rad der Geschichte für ihn noch gedreht. Wenn er von seiner Einheit heimkam, erbebte die Erde unter ihm. Stieg er dann aus dem Mannschaftswagen wie Julius Cäsar im Jahr 47 vor Christus bei seiner Rückkehr aus dem eroberten Alexandria, versammelten sich im Café Ibâda hinter der Pharmafirma die jungen Leute des Viertels Amirîja, um ihm zu lauschen. Während er mit seinem Militärschnauzer, mit übereinandergeschlagenen Beinen und in seiner Armeeuniform dasass, harrten sie seiner Worte. Zwischendurch nahm er ein paar Schlucke von seinem Tee, die den Fluss der Geschichten und Neuigkeiten unterbrachen wie die öden Reklamespots eine Fernsehserie. Für die jungen Leute war er Amirîjas Informationsminister. Die Spannungen auf der internationalen Bühne kündeten von einem nahenden Krieg, und die Erklärungen der politischen Führung stützten diese Einschätzung, denn sie gingen so weit, baldige Klassenfahrten nach Tel Aviv zu versprechen. Die Äusserungen von Hauptfeldwebel Gûda konnten sich mit denen des israelischen Ministerpräsidenten Levi Eschkol messen, waren vielleicht sogar glaubwürdiger. Ihm gefielen die Blicke, die an seinen Lippen hingen, die seinen Worten atemlos folgten und auf jedes Bruchstück einer Nachricht warteten, um es jubelnd zu begrüssen. Noch mehr Freude machte es ihm allerdings, plötzlich in der Rede innezuhalten und dies damit zu begründen, es handele sich hier um Militärinformationen, die er nicht verraten dürfe. Schon sah er in ihren Augen den Neid auf seine ihm von Gott gewährte Zusammenarbeit mit der Armeeführung. Er erhob sich, man bezahlte seine Rechnung, Gross und Klein wünschte ihm Gesundheit, klopfte ihm auf die Schulter, um des Segens seiner schwarzen Uniformstreifen teilhaftig zu werden, und freute sich dabei schon auf das Wiedersehen. Mit stolzgeschwellter Brust lief Gûda anschliessend zu dem Häuserblock, wo er im Erdgeschoss wohnte, ass etwas Warmes, das seine Mutter für ihn gekocht hatte, und legte sich für zwei Stunden aufs Ohr. Um sieben Uhr stand er wieder auf und begann seinen Arbeitstag. Und was tat Gûda am Abend? Er arbeitete in Hâlas Studio. Wer ist Hâla? Die Tochter von Jûssuf, Gûdas Jugendfreund.

Auf nichts im Leben verstand Gûda sich so gut wie aufs Essen und aufs Fotografieren. Dick war er und kahl – bis auf ein Haarbüschel, das so wenig von seinem Vorderkopf weichen wollte wie Machmûd al-Malîgi in dem Film Das Land 10 von seinem Feld. Über dem rechten Ohr liess er sein Haar länger wachsen, so dass es seine Glatze zur Hälfte bedeckte und sich wie die Kasr-al-Nil-Brücke bis zum anderen Ufer erstreckte. Mit Vaseline eingeschmiert, sah es aus wie die feinen Linien in einer Bauzeichnung. Er trug eine Brille wie aus den Böden von Wassergläsern, mit schwarzem Rahmen und breiten Bügeln, dieselbe, die er schon Anfang der sechziger Jahre besessen hatte. Sommers wie winters war er schweissüberströmt, daher war sein in der Stadt Mahalla al-Kubra gefertigtes Taschentuch für ihn die wichtigste Errungenschaft seit der Erfindung von Elektrizität und Halwa. Seinen ansehnlichen Bauch bedeckte eine Lederweste mit vielen Taschen, in denen er eine mobile Apotheke mit sich herumtrug. Dort gab es Mittelchen gegen Kopfschmerzen und Durchfall, möglicherweise auch Mull, Mercuchrom und sogar ein Skalpell für eine notfallmässige Operation. Fachlich gesehen war Gûda ein ausgezeichneter Hochzeitsfotograf. Er hatte keinerlei Scham, genierte sich vor niemandem und litt auch nicht wie viele junge Fotografen unter der Einbildung, von allen Gästen angestarrt zu werden. Vielmehr trat er ihnen gegenüber, als wären sie Soldaten seiner Einheit. Seine ausdrucksvollen, heiteren Bilder machte er mit einer russischen Retina-Kamera und einem Blitz von der Grösse eines Kochtopfdeckels, mit dem er Gefahr lief, die Braut in Flammen zu setzen, den Bräutigam zu entstellen und ein paar Gäste hinwegzuraffen, um sie alle, sobald das Buffet eröffnet wurde, das für ihn das Paradies auf Erden war, schwerverletzt zurückzulassen. Danach verabschiedete er die Brautleute mit einer Aufnahme, auf der sie durch das Rückfenster des Autos in die Kamera winkten, um anschliessend bei Jûssuf den Film zu entwickeln und Abzüge zu machen.

Es war ein geregeltes, ungetrübtes Leben, bis Gûda am 5. Juni 196711 im Radio die Nachrichten hörte. Er hatte gerade frei, und so sprang er gleich in seine Uniform und lief unter den Segenswünschen der herbeiströmenden Nachbarn zu seiner Einheit.

Fünf Monate lang blieb er verschollen, der Krieg hatte ihn geschluckt, und viele fragten sich, wohin es ihn wohl verschlagen habe. Manche nannten seine alte Mutter sogar schon die »Mutter des Märtyrers«. Eines Tages jedoch kam ein staubbedeckter Bus angefahren, beladen mit Sorge, Trauer und Soldaten, unter ihnen, mit gesenktem Kopf, Gûda. Er rannte gleich in seine Wohnung und verkroch sich dort drei Tage lang. Dann erschien er erneut im Café, um sich die Fragen der Nachbarn nach seinem Verschwinden anzuhören und sich für das, was auf dem Schlachtfeld geschehen war, zu rechtfertigen.

Allerdings hatte er dieses im Grunde gar nicht betreten, denn Gûda kämpfte weder in vorderster Linie, noch bildete er die Nachhut. Den Rang des Hauptfeldwebels hatte er in der Abteilung für moralische Angelegenheiten, die für die Öffentlichkeitsarbeit der Armee zuständig war.

Das hatte niemand gewusst und würde auch in Zukunft niemand wissen. Hauptfeldwebel Gûda war jetzt einer der Helden von 67, er hatte mit blossen Händen fünfundzwanzig israelische Soldaten getötet, war fünfundvierzig Tage in Gefangenschaft gewesen, bevor er geflohen und barfuss über den Sinai zurückgekehrt war. Präsident Gamâl Abdel Nasser hatte ihm die Tapferkeitsmedaille verliehen, ihm auf die Schulter geklopft, gesagt: »Wir alle sind stolz auf dich, Gûda«, und befohlen, dass er dem Militärischen Nachrichtendienst zugeteilt wurde.

Dreimal umrundete er den Globus, sah, was kein Auge zuvor gesehen hatte, liebte die schönsten Frauen der Welt und zeugte in jedem Land ein Kind, selbst in Israel. Eine Generalstochter dort hatte sich in ihn verliebt, ihm die Dokumente ihres Vaters abfotografiert und sich umgebracht, als sie erfuhr, dass er Ägypter war und gar nicht Isaak hiess. Aus jeder Wunde, die er sich durch Verbrennen am Bügeleisen, eine Impfung oder beim Kartoffelschälen zuzog oder weil er etwa mit dem Hammer seinen Finger statt den Nagel getroffen hatte, machte er Schuss- oder Stichverletzungen, erlitten in Erfüllung seiner Pflicht. Bei Sadats Ermordung auf der Rednertribüne gelang es ihm als Einzigem, einen der Angreifer niederzustrecken. Später wurde der berühmte Spion Raafat al-Haggân12 sein Kollege im Geheimdienst. Ausserdem wurde das Goethe-Institut nach ihm benannt, weil man sich davon Glück erhoffte, denn der deutsche Kanzler hatte ihn liebgewonnen und die berühmten Worte an ihn gerichtet: »Goetha, wir in Deutschland sind alle stolz auf dich. Isch liba disch.« Leider hatte er den Termin, sich für eine Weltraummission anzumelden, verpasst, und so war ihm Neil Armstrong zuvorgekommen. Sonst hätte er als erster Mensch den Mond betreten. Letzte Nacht, als er mit Präsident Gamâl Abdel Nasser zu Abend gegessen hatte, hatte dieser ihm Mixed Pickles angeboten und geschworen …

Kurzum, wäre es James Bond bestimmt gewesen, Gûda zu treffen, dann hätte er sich aus Höflichkeit nur noch 003 statt 007 genannt und diese Ehre ihm überlassen.

1976 schliesslich heiratete Gûda eine altjüngferliche Nachbarstochter, und im selben Jahr fiel die Entscheidung, ihn zum Stabsfeldwebel zu befördern und anschliessend vorzeitig zu pensionieren. Der Brigadegeneral seiner Einheit hatte sich seiner erbarmt, bevor eine medizinische Untersuchung ans Licht bringen könnte, worauf sein sich mit der Zeit immer weiter verschlimmernder Zustand hinauslief: bildete er sich doch Geschichten und Ereignisse ein, die gar nicht stattgefunden hatten! Und so fand sich Gûda plötzlich ausser Dienst gestellt.

Doch während die Tage vergingen, verliess er weiterhin jeden Morgen das Haus und kam erst am Abend wieder, so dass die Menschen um ihn herum meinten, er sei noch immer in der Armee. In Wirklichkeit allerdings verbrachte er seine ganze Zeit mit Jûssuf in Hâlas Studio und wartete dort auf die Hochzeitsfeiern am Donnerstag und am Sonntag, um sich sein Brot zu verdienen. Danach ging er wieder ins Café, um seine Geschichte von dem schmutzigen Witz zu Ende zu erzählen, den er dem Präsidenten zum Besten gegeben haben wollte. »Gûda, du Teufelsbraten!«, habe der daraufhin laut lachend zu ihm gesagt. Schliesslich hatte sich durch einen seiner Kollegen die Möglichkeit ergeben, im Kasino Paris in der Pyramidenstrasse zu arbeiten. Und diese Gelegenheit fasste er beim Schopf.

Zwei Monate später ging Gûda wie gewöhnlich aus dem Haus, um ins Kasino zu fahren, das ihm nun zur Zuflucht geworden war. Aber als er sich ein Taxi nehmen wollte, rief der Fahrer ihm zu: »Vergessen Sie es!« Er hatte nur angehalten, um Gûda davon in Kenntnis zu setzen, dass die Pyramidenstrasse zum Schauplatz eines Partisanenkrieges geworden war. Es war der Tag im Februar 1986, an dem die Polizisten der Zentralen Sicherheit meuterten und die Angestellten des Kasinos Whiskyflaschen als Molotowcocktails einsetzten, um ihr Auskommen und ihr Leben zu verteidigen, und in dessen Folge Innenminister Achmad Ruschdi zurücktreten musste.13 Für Gûda war die Lage schwierig. Selbst seine Geschichten wurden von seiner materiellen und psychischen Situation beeinträchtigt, und schliesslich war er gezwungen, drei Armreife zu verkaufen, die seiner ein Jahr zuvor verstorbenen Frau gehört hatten. Aber noch waren keine drei Monate vergangen, da nahmen die Lokale ihre Arbeit schon wieder auf, und auch Gûda kehrte zu seiner löblichen Tätigkeit zurück. Und mit ihm seine Geschichten und Abenteuer, die er sowohl den Gästen als auch den Kollegen zu Gehör brachte, um ihnen damit kräftig einzuheizen.

Doch all dies wusste Achmad nicht. Er kannte Gûda nur von seiner normalen Seite. Zwar wurde er sich durch die augenzwinkernden Witzeleien der Kollegen irgendwann über den Wahrheitsgehalt seiner Geschichten klar, trotzdem aber lauschte er ihnen weiterhin unbeschwert, aus Respekt vor Gûda und zu seinem eigenen Amüsement. Manchmal kitzelte er ihn gern ein wenig, indem er ihn nach irgendeinem Ereignis fragte. Und Gûda überraschte ihn jedes Mal mit seiner angeblichen Beteiligung daran. Einmal erzählte Achmad ihm sogar vom Massaker in der Bar Vertigo und dass er seinen besten Freund dabei verloren habe, ohne jedoch darauf hinzuweisen, dass er selbst am Tatort gewesen war. Und zu seiner Überraschung gestand Gûda, genau zu jener Stunde auf dem Balkon eines der Hotels am Nil gewesen zu sein. Zufälligerweise habe er dort nämlich gerade bei einer Hochzeit fotografiert und so den Vorfall mit einem 500-Millimeter-Zoom aufgenommen. Die Negative seien noch in seinem Besitz. Aber obwohl ihn Achmad mehr als einmal darum bat, entschuldigte er sich immer damit, im Labor herrsche ein solches Chaos, dass man dort nichts wiederfinde, er habe den Film aus Schusseligkeit verloren oder er mache sich Sorgen um Achmad, sollte er das Abgebildete sehen. Ausserdem sei einer der beiden Geschäftsleute Kunde im Kasino gewesen, und um nicht in die Sache involviert zu werden, habe er die Existenz der Bilder verschwiegen.

Trotzdem mochte Achmad Gûda sehr, denn er sah, dass er ungeachtet seiner Übertreibungen ein grosses Herz hatte. Gûda, der, wären ihm Kinder beschieden gewesen, einen Sohn in Achmads Alter gehabt hätte, ging es ebenso. Innerhalb kurzer Zeit wurde Achmad für ihn der Sohn, den er nie gehabt hatte. Jeden Abend wartete Achmad darauf, dass Gûda ihn abholte, um mit ihm zusammen zum Kasino zu fahren. Ebenso normal war es geworden, dass Gûda dort als sein Führer fungierte und ihn mit den verborgenen Seiten, den Anhängern und den Konventionen jener Welt bekannt machte. Ja, mit ihren Konventionen.

Cabaret – ein Wort, das wir sonst nur in alten arabischen Filmen aus der Ära eines Youssef Wahbi, einer Naîma Âkif 14 und ihresgleichen vernehmen, wo es im Plot die zentrale Rolle spielte. In diesen Streifen war das Cabaret der Zufluchtsort für den verlassenen, betrogenen oder gar ausgebrannten Liebhaber, an den er sich zurückzog, um seine Geliebte zu vergessen, die sich von ihm getrennt hatte oder gestorben war. Ausserdem bot es ihm Gelegenheit, zu randalieren oder sich mit einer Tänzerin oder weichherzigen Prostituierten anzufreunden und so aus dem Kelch des Vergessens zu trinken. Manchmal war es auch der Ort, wo der Held in Streit geriet, sein glänzend schwarzes Haar zerzaust in die Stirn hängen liess und die aus Stroh gefertigten Stühle ihm schon in der Hand zerbrachen, bevor sie mit den Köpfen der Betrunkenen überhaupt in Berührung kamen. Und die sagten daraufhin immer nur: »Ich bin ein Gentleman!«, als hätten alle Komparsen, die in sämtlichen Filmen gleich aussahen, sich darauf geeinigt, jedes Mal, wenn sie tranken, diesen Standardsatz aufzusagen. Besonders bei dem finster dreinschauenden Kahlkopf, den der Held am Ende immer verhaut, war das der Fall und bei dem braunhäutigen Mann mit den typisch ägyptischen Zügen, den alle kennen, ohne dass jemand seinen Namen wüsste. Einer der grössten Vorzüge des Cabarets war es zudem, dass es dem Regisseur dabei half, den Heisshunger des Ticketschalters zu stillen, was sowohl seinem Wunsch als auch dem des Produzenten entsprach. In den meisten alten ägyptischen Filmen wimmelt es von Tänzerinnen und Revuedarbietungen, auch wenn der Held eigentlich nur dabei gezeigt werden soll, wie er sein erstes Glas trinkt. Im Cabaret sehen wir dies zur Vollendung gebracht. Sein Name lautete daher entweder »Weisse Rose« oder »Stars«. Das war die Welt des Cabarets im Kino.

In der Realität allerdings war es ganz anders. Es war eine Zuflucht für die oberste Gesellschaftsschicht, die es sich leisten konnte. Prostitution war dort legal, sie wurde von der Polizei und vom Gesundheitsamt überwacht, man vergab für die Ausübung dieses Berufs Lizenzen und führte zum Ausschluss von Krankheiten in der al-Haudh-al-Marsûd-Klinik für Dermatologie regelmässige Check-ups durch. Eine Prostituierte konnte man sich an den Tisch bestellen wie eine Flasche Whisky. Diese Frauen hatten einen gesonderten Raum, der unter der Aufsicht des Hotelmanagers stand. Der sogenannte Engagé zahlte die Rechnung und nahm dafür die Dame mit. Das Lokal profitierte, und das Mädchen bekam seinen Anteil.

Abkömmlinge der königlichen Familie, Kaufleute, Politiker, Schauspieler, Zuhälter, Trinker, Gauner und Prominente – sie alle waren Gäste des Cabarets. Mehrere Gründe führten sie an diesem Ort zusammen: Frauen, Alkohol, Rivalitäten, der Wunsch, den Gegner zu übertreffen und mit seinen ungeheuren Reichtümern zu prahlen.

Die Zeit verging, die Namen änderten sich, aber im Kern blieb alles beim Alten. Ende der vierziger Jahre erging ein Gesetz, das Prostitution verbot. Doch die Leute in den Cabarets umgingen dieses Gesetz. Die Prostituierten setzten sich nun an einen besonderen Tisch und taten, als wären sie ganz normale Gäste, die miteinander lachten und mit den Kunden Adressen tauschten. Später stiessen, als eine natürliche Erweiterung des Gesetzes von Angebot und Nachfrage, auch Schwule und Transsexuelle dazu, besonders in den heissen Sommermonaten, wenn die Touristen von der Arabischen Halbinsel kamen. Danach trafen sich alle, Prostituierte und Freier, draussen, um den Ereignissen ihren Lauf zu lassen. Wichtig war nur, dass das Ganze nicht innerhalb des Etablissements stattfand.

Weitere Jahre vergingen, in denen das Cabaret in Variété umbenannt wurde, dann in Nachtklub, und wenn es sich einen Namen gemacht hatte, wurde es zu einem Kasino. Wie das Kasino Paris.

Professor Doktor Gûdas erste Vorlesungen zielten darauf ab, die einzelnen Fakultäten des Kasinos und die Fächer, die dort unterrichtet wurden, zu erläutern.

»Um dir hier dein Brot zu verdienen, musst du mutig und schlau sein und darfst nicht anecken.«

»Um dir hier dein Brot zu verdienen, musst du lernen, zu hören und nicht zu reden.«

»Um dir hier dein Brot zu verdienen, musst du lernen, in den Augen der Menschen zu lesen.«

»Um dir hier dein Brot zu verdienen, musst du wissen, wann du fotografieren kannst und wann nicht.«

Gûda sass im Labor, trank einen Eimer Tee und trichterte Achmad mit gedämpfter Stimme ein, wie er sich sein Brot verdienen solle, so als stopfe er eine Gans. Dabei kam er ganz nahe an Achmads Gesicht heran, so dass diesem der üble Geruch seines Knasters in die Nase stieg. Denn die Zigaretten verschlang Gûda mehr, als dass er sie rauchte. Seine Liebe zu ihnen war so gross, dass jeder, der ihm im Gespräch zu nahe kam, das Gefühl hatte, neben dem Schornstein einer Dampflok zu stehen. Wo immer er war, stiess er eine Rauchwolke aus, die über seinem Kopf waberte. Wenn er etwas sagen wollte, begann er stets mit dem Ausdruck »unter uns«, so als habe er etwas zu verbergen und geheim zu halten, auch wenn es sich um ganz banale Themen handelte: »Unter uns, es ist heiss heute.« Ganz nahe rückte er dann an Achmad heran und flüsterte ihm alles ins Ohr wie ein buddhistischer Weiser, der das Geheimnis offenbart, wie man übers Wasser laufen kann. Zu jeder Person, auf die sie trafen, erzählte er detailliert die Hintergründe und gab erhellende Hinweise, so wie ein Platzanweiser im Kino den Zuschauern mit der Taschenlampe den Weg weist.

Das Innere des Kasinos war geräumig. Vier Stufen führten hinauf und enthoben den Besucher des Lärms der Pyramidenstrasse, dieser von Cholesterin und Fetten verstopften Arterie, die dringend eine Aufweitung benötigte, mit dem ganzen Chaos dort und all den weissen Mikrobussen, die täglich um die Wette eilten wie Spermien auf der Suche nach der Eizelle. Beim Eintreten ging man an Hassan Abdu und Sajjid Kadari vorbei, den beiden Walen, denen nur noch Blasloch und Finne auf dem Rücken fehlten. Mit aufgepumpten Oberarmen und geblähter Brust lauerten sie tagtäglich vor dem Kasino, in sehr engen schwarzen T-Shirts, die an ihnen klebten wie der Putz an der Wand, um sie nur noch kompakter und geschwollener wirken zu lassen. Und dann der von einem breiten Ledergürtel eingeschnürte Bauch! Sie sahen kaum anders aus als die Schläger der fünfziger Jahre, es fehlten nur die Nietenarmbänder. Drei Grundprinzipien versuchten sie dabei stets zu beherzigen: Erstens sollte man sie als nicht gerade freundlich gesinnte Wesen fürchten. Zweitens sollte der Besucher sich vorstellen können, welche Folgen es haben mochte, sich ihnen zu widersetzen. Und drittens waren sie gleichzeitig sehr bemüht, sich mit den Gästen als der Quelle diverser Gaben gut zu stellen. So umarmten sie sie zur Begrüssung übertrieben herzlich, um damit auszudrücken, dass sie sich hier ganz zu Hause fühlen sollten. Ihr Lohn war nämlich nicht höher als das typische Einstiegsgehalt bei der Regierung von einhundertsiebzig bis zweihundert Pfund. Der Eigentümer des Kasinos wusste schliesslich genau, dass sie ein Vielfaches davon als Trinkgelder einnahmen. Neuankömmlinge tasteten sie zunächst mit ihren Fühlern ab, und mit Hilfe ihrer Erfahrung, die sie befähigte, potentielle Unruhestifter zu erkennen, entfernten sie die Unerwünschten. Besonders bemüht waren sie jedoch darum, Streitigkeiten zu beenden und, falls ein Besucher sich ungebührlich benahm, ihm eine kostenlose Privatlektion zu erteilen, um dann beim Erscheinen der Polizei flugs zu verschwinden, so dass nun der Gefängnisdirektor das Problem am Hals hatte. Ja, der Gefängnisdirektor, diese kugelsichere Weste, die den Lokalbetreiber davor bewahrte, vor der Staatsanwaltschaft erscheinen zu müssen, der Prügelknabe, der alles ausbaden musste, falls die Decken einstürzten und Blut floss. Alles war zu haben, solange man nur dafür zahlte, von Drogen bis zu Waffen. Die meisten Stammgäste bedurften des Schutzes und eines ostentativen Auftritts und kamen in Begleitung eines bewaffneten Leibwächters, der sie im Notfall verteidigen konnte. Man brauchte Hassan oder Sajjid nur fünfzig oder hundert Pfund in die Hand zu drücken, dann konnte man selbst eine Panzerfaust mit hineinnehmen. Oder auch einen Apache-Helikopter.

Es war bereits nach halb zwei morgens, als der Saal nach Rabîa al-Badris Auftritt vor Applaus erbebte. Er winkte den vor ihm Sitzenden und warf ihnen Kusshände zu, als sei er ein wirklicher Sänger, während einer der Zuschauer aufstand und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Rabîa nickte lachend und sagte: »Aber bitte sehr, mein Lieber!«

Er grinste, als wäre er eines der letzten noch lebenden Nashörner, so dass seine weissen Zähne leuchteten, deren noch leicht verfärbte Zwischenräume verrieten, dass sie eine professionelle Reinigung hinter sich hatten. Dann legte er seinem Bewunderer die Hand auf die Schulter, blickte in die Handykamera und machte dabei ein Gesicht, das beinahe barst vor Glück. Es folgten zwei, drei weitere Fans, die ebenfalls mit ihm fotografiert werden wollten. Sollte jedoch jemand Rabîa al-Badris traurige Lieder unterbrechen, schrie er wutentbrannt auf und verfiel in Krämpfe. Deshalb war es den Pistazien- und Rosenverkäufern sowie den Schischaverleihern untersagt, während seines Auftritts umherzugehen, ja, damit nur ja nichts von seiner Darbietung verlorenging, die er als absolut einzigartig betrachtete, durften nicht einmal die Fotografen den Kunden ihre Bilder aushändigen. Inzwischen galt dies generell, wenn er oder jemand anders auf der Bühne war. Vor allem die Tänzerin Sally hatte verboten, dass man während ihrer Vorführung im Saal umherging, und ihre Vorgängerin Dunja hatte sogar einmal einen Rosenverkäufer geohrfeigt, der zu lange brauchte, um bei einem Kunden zu kassieren und ihm das Wechselgeld herauszusuchen, während sie ihrer offiziellen Arbeit nachging. Deshalb rannten all diese Profiteure zwischen den Auftritten in den Saal, um sich ihr Brot zu verdienen. Denn die Rosen- und Pistazienverkäufer, Schischaverleiher und Fotografen, die eine Lizenz für das Lokal hatten, waren wild darauf, etwas zu verkaufen, um die exorbitante Gebühr bezahlen zu können. Sie mussten sonst niemandem etwas abliefern, deshalb war ihnen jeder ein Dorn im Auge, dessen Interessen den ihren zuwiderliefen. In erster Linie galt dies für die Oberkellner im Saal, die die Gäste bedienten. Sie waren für die anderen eine Last, weil diese meinten, sie machten ihnen das Recht auf ihren Anteil am Portemonnaie des Kunden streitig. Niemand hätte gezögert, falls nötig, einen von ihnen umzubringen. Der Kunde war immer im Recht, und sollte es zwischen ihnen und einem Besucher zum Streit kommen, würde der Oberkellner oder »Captain« zu Superman, um den Gast ihren Klauen zu entreissen, einen von ihnen zum Sündenbock zu machen und ihm notfalls vor aller Augen die Haut abzuziehen.

Die einzige Beziehung, die nicht von gegenseitiger Abneigung geprägt war, war die zwischen den Fotografen und den Tänzerinnen, Sängern und Sängerinnen, denn diese waren sehr daran interessiert, mit den Gästen fotografiert zu werden, weil sie nach Publicity gierten, das Rampenlicht liebten und den Absatz ihrer lauwarmen Ware fördern wollten. Die Künstler der Pyramidenstrasse waren in jedem Fall nur zweit- oder drittklassig, bis sie möglicherweise ganz plötzlich eine Popularität erlangten, die ihnen ihre Zukunft sicherte. Im Rückblick war dann die Pyramidenstrasse für sie mit der Muhammad-Ali-Strasse in den alten Filmen vergleichbar, wo der Held, nachdem er berühmt geworden ist, auf die Mitglieder seiner ehemaligen Band herabsieht, so tut, als kenne er sie nicht mehr, und zu ihnen sagt: »Später, später, im Moment hab ich keine Zeit.« Viele, die sich einen Namen gemacht hatten, hatten sich angewidert von den Kasinos abgewandt und wollten nicht mehr, dass auch nur eine ihrer Nächte dort erwähnt wurde. Die Kasinos der Pyramidenstrasse waren die erste Stufe auf dem Weg zum Ruhm. Es folgten Auftritte auf Hochzeiten, dann Konzerte, später Videoclips, wo vor Weiblichkeit strotzende Frauen ihr Billigfleisch wabbeln liessen und der Zuspruch für Waren jeder Art garantiert war. Das hiess jedoch nicht, dass die Profitmöglichkeiten in der Pyramidenstrasse begrenzt waren. Es gab Fälle, da ein Bewunderer sein Geldbündel zückte und der Tänzerin tausend Pfund oder mehr zuwarf, was sowohl der Künstlerin als auch dem Kasino und den anderen Beschäftigten ein angenehmes Leben garantierte. Einmal, Anfang der Neunziger, hatte sich die Summe unter den Füssen einer Tänzerin auf sechzigtausend Pfund belaufen. Um ihr seine Wertschätzung zu zeigen, hatte ein reicher Golfaraber ihr die Tausendpfundnoten eine nach der anderen hingeworfen, damit ihre zarten Füsse mit den grellrot lackierten Nägeln sie abstempeln konnten – als Liebespfand und als Preis für eine Nacht, in der sie diesem Reichen alles, was sie hatte, zum Geschenk machen würde. Damit ein Künstler des Kasinos style wurde, brauchte er jedoch den sozialen Aufstieg. Die Mädchen mussten ihm überallhin nachlaufen und seine Poster an ihre Zimmerwände pinnen, oder eine Tänzerin musste von den Augen eines jeden, der sie betrachtete, verschlungen und zum Ziel aller Wünsche werden. Aber auch als Gnadenhof für die Künstler, die der Vergangenheit angehörten und aus der Mode gekommen waren, taugten die Kasinos und Vergnügungslokale dieser Strasse. So wie ein unfruchtbarer Mann immer wieder den Türknauf in der Moschee unseres Herrn Hussain in die Hand nimmt, kehrten die alten Künstler ins Kasino zurück, damit es ihnen noch einmal zu Leben und Ruhm verhalf – oder zu dem Geld für ein würdiges Begräbnis.

Das ganze System Kasino beruhte darauf, den Gast wie eine Kuh zu melken, bis seine Tasche den allerletzten Tropfen hergegeben hatte. Dabei war er selbst zum Verbluten bereit, denn von seinem Eintreten an verteilte er das Bakschisch in alle Richtungen, so wie ein Bauer auf dem Feld die Körner ausstreut: angefangen beim Taxifahrer, der für jeden Gast eine Provision erhielt, über den Parkwächter, den Bodyguard, den Kellner und den für die Bestellungen verantwortlichen Oberkellner, den aufdringlichen Pistazienverkäufer und den noch aufdringlicheren Rosen- und Jasminverkäufer – bis zur Toilette, wo den Gast wieder jemand mit Handtüchern und billigem Eau de Cologne erwartete, der eine Gebühr dafür bezahlt hatte, dass er dort stehen, für seine Gesundheit beten und von ihm dafür eine grosszügige Gabe erwarten durfte. Und zuletzt kam noch der Fotograf, der nur darauf wartete, dass der Gast ihn anlächelte oder ihm durch ein anderes Zeichen grünes Licht für ein Foto gab, um sofort herbeizustürzen. Mancher zahlte grosszügig dafür, dass der Fotograf ihn ignorierte, seine Anwesenheit vergass und ihn nicht in entehrender Situation oder Gesellschaft ablichtete.

Was den Alkohol betraf, so brachten die meisten Stammkunden ihn selbst mit, denn sie wussten sehr wohl, dass die Etablissements nur gepanschten Fusel aus einheimischer Produktion anboten. Auf der Rechnung standen dann nur ordîf al-masa (abgeleitet von Horsd’œuvre) oder ein Salatteller, ein paar Knabbereien, Eiswürfel und Gläser. Hinzu kamen die Soft Drinks, wie zum Beispiel Mangosaft, der in Wirklichkeit aus im Mixer zerkleinerten Riesenkürbissen oder Süsskartoffeln hergestellt wurde, unter Zugabe einer kleinen Menge Saftkonzentrat, damit er echt schmeckte und das Lokal nichts kostete.

Man verliess sich darauf, dass die Kunden zu Füssen der Tänzerin in einen noblen Wettstreit traten. Vier oder fünf mit zahlungskräftigen Männern besetzte Tische waren dann genug, um jeden der Profiteure mit vollen Taschen nach Hause gehen zu lassen. Ausserdem frisierte man, besonders bei unerfahrenen Gästen, die Rechnungen, indem man zusätzliche Posten hinzufügte, wie das Auftragen der bestellten Gerichte oder das anschliessende Abräumen. Manchmal wurden auch eine oder zwei Nullen an den Rechnungsbetrag angehängt, die Summe erschien zweimal, es wurden Bestellungen aufgeführt, die der Gast gar nicht erhalten hatte, oder man erhob eine Gebühr für das Öffnen der Flaschen, die der Kunde selbst mitgebracht hatte.

Was den Manager des Kasinos betraf, so flossen all diese Beträge durch seine Hände. Er war kein gewöhnlicher Charakter, sondern musste erfahren, gewitzt und nervenstark sein, denn die meisten Gemüter, mit denen er es zu tun hatte, waren ziemlich durch den Wind. Er hatte zahlreiche Kniffe parat, um das Kasino am Leben zu erhalten oder wieder hochzubringen, wenn es ins Straucheln geriet. So wusste er beispielsweise, dass Rivalität zu Eigensinn führte und dieser wiederum zu der Unbesonnenheit, aus der heraus die Männer mit den dicken Taschen auch noch ihr letztes Tröpfchen Blut hergaben wie sonst nur ein Tier am Opferfest. Wenn die Darbietungen nicht den Erfolg hatten, den er erwartete, begann er die Atmosphäre durch eine Tänzerin mit Vergangenheit anzuheizen oder sogar mit einer neuen, die, um sich einen Namen zu machen, ihre Reize dreist zur Schau stellte, vielleicht auch mit einer »russischen Show« oder Folkloresängern, die mit Liedern über Trauben, Datteln und Mangos – manchmal auch über Esel – die Bühne betraten. Wer wusste denn, mit was für Liedern andere begonnen hatten, bevor sie mit einem Videoclip im Fernsehen populär geworden waren? Wenn er das Feuer noch weiter anfachen wollte, nahm er aus dem Kasinotresor ein paar Geldscheine, die einen speziellen Stempelaufdruck trugen. Die liess ein falscher Gast in den Saal fliegen, so dass die Besucher sich dazu animiert fühlten, nun mit Geldbündeln und Tausendpfundnoten um die Wette zu werfen. Danach kamen junge Männer mit sauberen Besen und Kehrschaufeln herbei und brachten die Ernte ein. Dabei traten sie mit ihren Schuhen auf einen oder zwei grössere Geldscheine, woraufhin diese wie durch Hexerei erst in ihre Socken und dann in ihre Brieftaschen wanderten. Anschliessend wurde das Geld einer Prüfung unterzogen. Die gestempelten Scheine legte man beiseite, den Rest deponierte man im Safe, abgesehen von dem, was unter die Profiteure, nämlich den Sänger, die Tänzerin oder die Angestellten, aufgeteilt wurde.

Eine der Hauptattraktionen des Managers jedoch waren die Freundinnen des Kasinos, die ihre Dienste bereitwillig zur Verfügung stellten und den Gast professionell zu beglücken wussten. Man deckte ihnen eine reiche Tafel, die wie ein blankes Elektrokabel in einem Schwimmbad jeden unter Strom setzte, der daran vorbeikam. Zu ihnen stiessen ihre »derzeit angesagtesten« homosexuellen Schwestern, und man warf sich gegenseitig Telefonnummern und Adressen zu. Angebahnt wurde drinnen, vollzogen an passendem Ort. Manchmal kam auch eine von ihnen mit einem Kunden von draussen herein, um auf seine Rechnung etwas zu konsumieren. Auf seine Kosten verteilte sie Trinkgelder an alle ringsum, selbst an den, der ihr die Autotür öffnete, sie begrüsste und ihr seine Reverenz erwies.

Noch weitere Würze erhielt das Lokal durch Fussballspieler, zweit- und drittklassige Schauspieler und Starlets, die bereit gewesen wären, für ein grosszügiges Geschenk, ein Auto oder eine Eigentumswohnung beispielsweise, in die Niagarafälle zu springen. Daneben gab es Makler, Zuhälter und Leute für Vorlieben jeder Art. Sie alle wurden vom Betreiber des Etablissements bezahlt, um den Gast bei Laune zu halten und zu garantieren, dass der Umsatz nie einbrach.

Die Atmosphäre, der unerträglich laute Gesang, der aufreizende Tanz, die Flaschen Alkohol sowie der Tisch mit den äusserst freizügigen Amazonen und ihren Kameraden, alles zusammen ergab ein Gericht, auf das der Gast zusteuerte wie ein Hungriger auf ein Kebabrestaurant, dessen Düfte ihn anlocken. Mancher kam einmal im Monat, mancher einmal die Woche und mancher jeden Tag. Das Kasino war ihr Café, wo sie sich mit Freunden und Freundinnen trafen, Geschäfte machten und den Sängern und Tänzerinnen ihre Almosen zuwarfen. Sogar ein paar Offiziere der Sittenpolizei erhielten ihren Anteil an dem locker sitzenden Geld in der Tasche des Gastes und verdienten sich mit jedem Besuch ein luxuriöses Abendessen für sich und ihre Familie sowie, wenn sie Wert darauf legten, ein eisgekühltes Getränk, ganz abgesehen von den weitreichenden Kontakten, die sie hier knüpfen konnten. Beteiligt waren zudem die Steuerbeamten, die jeden Abend im Kasino erschienen, um den Gewinn zu berechnen und die Vergnügungssteuer einzuziehen, welche je nach Dicke des freundlich überreichten Umschlags, der in ihre Tasche wanderte, höher oder niedriger ausfiel. Funktionäre der Aufsichtsbehörde, die die Lizenzen der Darsteller prüften, sowie die Angestellten des Berufsverbandes, die die vorschriftsgemässen Zahlungen eines Künstlers oder einer Tänzerin sicherstellten, legten ihrer Direktion tägliche oder wöchentliche Berichte vor, dass alles in wünschenswerter Weise vonstattengehe, die Gäste vor Beginn der Vorstellung gemeinsam das Abendgebet vollzogen und den Beschäftigten Almosen gegeben hätten, während sie ihren Anis-, Minze- oder Ingwertee mit Eis schlürften. Auf diese Weise lebte ein ganzer Bienenstock auf Kosten des eleganten Pfeffersacks, der mit Dinaren säckeweise um sich warf.

Also sprach der weise Guddha – ich meine Gûda – zu seinem Schüler, der sich in kurzer Zeit alles aneignete. Die ganzen Erfahrungen, die Gûda im Laufe von dreissig Jahren, in süssen und in bitteren Tagen, gesammelt hatte und die ihm mit blossem Auge sichtbare seelische Verletzungen zugefügt hatten, liess er Achmad zukommen: in Form von Erzählungen und Geschichten, die er ihm mittels einer konzentrierten Injektion, als Essenz eines langen Lebens voller Leid und Not an diesem elenden Ort, verabreichte.

Wiîdu, abgeleitet von duetto, nannte man solch ein Fotografenpaar, und genau das waren Achmad und Gûda, denn es mussten immer mindestens zwei Fotografen anwesend sein: Während der eine die Fotos entwickeln ging, blieb der andere im Saal zurück, damit der potentielle Kunde nicht schon ohne die Bilder verschwand. Kassiert wurde nämlich erst, nachdem sie übergeben worden waren. Deshalb ging Gûda normalerweise hinaus, überwachte den Druck und machte, um einen Gast, der nicht mehr zählen konnte, übers Ohr zu hauen, von jedem Bild mehrere Abzüge, während Achmad im Saal blieb, um den Gast im Auge zu behalten und weitere Kunden zu fotografieren.

So verbrachte Achmad seine Tage. Er schlief bis mittags, bis sechs Uhr morgens arbeitete er, und tagsüber, vom Mittag bis neun Uhr abends, wenn die ersten Gäste kamen, hatte er frei. Er verdiente nicht schlecht, besonders donnerstags und samstags, für den Lebensunterhalt und seine Grundbedürfnisse reichte es ihm. Ausserdem konnte er immer eine kleine Summe beiseitelegen, um seiner unglücklichen Schwester etwas zu kaufen oder ihr das Geld als Unterstützung in die Hand zu drücken, allerdings nur hinter dem Rücken ihres Mannes, für den alles, was von Achmad kam, tabu war und der es deshalb nicht annahm. Oder er kaufte sich etwas zum Anziehen und setzte sich, im Andenken an die Schulzeit, als das Leben ihm noch wohlgesinnt gewesen war, mit einem alten Freund ins Café.

Rabîa al-Badris Band hatte ihre Instrumente eingepackt und war bereit zum Aufbruch in ein anderes Kasino, wo er weitersingen würde, falls er nicht eine Tour zu zwei, drei Hochzeiten machte, wo er einem Bräutigam und einer Braut mit seinen lauten Songs, den Strömen von Schweiss, dem mit Henna gefärbten Haarflaum, um die kahle Stelle am Kopf zu verbergen, und seiner immer hungrigen Band alle Kraft rauben würde. Sieben in identische schwarze Satinhemden mit weissen Spitzenmanschetten gekleidete Männer lösten ihn nun auf der Bühne ab. Sie hatten mehrere unregelmässig geformte Koffer dabei, wie man sie üblicherweise zum Transport von Musikinstrumenten verwendet, und begannen die Bühne für Sallys Empfang vorzubereiten.

Sally war sechsunddreissig Jahre alt, sah aber aus wie achtundzwanzig. Ihre Haut war weiss wie Wachs, ihr langes, gewelltes kastanienbraunes Haar reichte ihr bis zur Taille, und ihr Gesicht war unwiderstehlich. Das langjährige Tanzen hatte zur Folge, dass ihr Körper ständig vibrierte, selbst wenn sie schlief, und der Blick in ihre Augen sagte einem: »Ich bin sehr gewieft.« Sie war ein Geschöpf der Nacht, und mit ihrem schmächtigen Körper und dem gepflegten, transparenten Teint hatte sie grosse Ähnlichkeit mit den weiblichen Vampiren in den Dracula-Filmen.

Ursprünglich hatte sie an der Philosophischen Fakultät studiert, mit einundzwanzig machte sie ihren Abschluss und arbeitete dann als Stewardess bei einer Fluggesellschaft. Doch bevor sie ihr zweites Jahr dort beendet hatte, gab sie ihren Job schon wieder auf, und ihr Lebenslauf und der Ruf, der ihr vorausging, öffneten ihr neue Türen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Nachdem sie in einem Studio in Schubra eine ansehnliche Reihe von Aufnahmen gemacht hatte, auf denen sie herzeigte, was Gott ihr gegeben hatte, kam sie bei einer Werbeagentur unter. Danach fand sie mit Hilfe von Videoclips Einlass in die Welt der Kunst. Zusammen mit mehreren Kolleginnen war sie im Hintergrund eines Sängers zu sehen, wo sie sich wand, als hätte ihr jemand böswillig Gift eingeflösst. Ihre Bewegungen ähnelten ein wenig denen eines spärlich bekleideten Kraken. Danach erschien sie in einem Clip als Angebetete eines Sängers mit breiten Schläfen15, der seiner Geliebten nachweinte, die zusammen mit einem anderen Mann auf einer Harley Davidson durch die Wüste davonfuhr, während er neben einer blauen römischen Säule und einem muskulösen Saxophonisten, der auf blosser Haut eine goldene Weste trug, zurückblieb. Ausserdem ging Sally ein paar Beziehungen zu Produzenten ein, die darauf bestanden, höchstpersönlich in ihrem Schlafzimmer eine Talentprobe durchzuführen, und dabei stellte sie ihr Können und ihre Leistungsbereitschaft unter Beweis.

Sie erkannte jedoch, dass dieser Weg sie nicht an die Spitze führen und sie auf diese Weise immer zweitklassig bleiben würde. Deshalb nutzte sie die Gelegenheit zu einem Videoclip mit einem berühmten Sänger, vor dem sie einen Bauchtanz hinlegte wie noch nie zuvor, so dass sie danach in aller Munde war. Von nun an stand ihr die Welt des Tanzes offen, eine Welt, in der sie ihre Begabung ausleben konnte. Wenn sie tanzte und mit den kleinen Füssen auf den Boden stampfte, um die Herzen zu bezirzen und alle ringsum zu bezaubern, traf sie überall auf bewundernde, lüsterne Blicke, die sie verschlangen, sich an ihr labten und in jede Zelle ihres Körpers vordrangen. Wie Frösche zur Paarungszeit drängten sich die Männer um sie, damit einer von ihnen sie erobern konnte. Bis Ägypten eines Morgens durch ein dubioses Video aus dem Schlaf gerissen wurde, auf dem Sally zusammen mit dem bekannten Geschäftsmann Hischâm Fathi zu sehen war. Die Aufnahme war echt, und wie alle anständigen Sexfilme verbreitete sie sich auf Computern und Videokassetten immer weiter, auch ein paar Zeitungen veröffentlichten Standbilder daraus. Sally erlitt einen Zusammenbruch. Sie behauptete, mit Hischâm eine Ehe nach Gewohnheitsrecht eingegangen und von ihm betrogen worden zu sein. Zweimal pilgerte sie nach Mekka, und hätte sie die Möglichkeit dazu gehabt, wäre sie auch nach Jerusalem gegangen. Für mehrere Monate hatte man sie vergessen, doch dann erschien sie in einer Fernsehsendung und vergoss dort ein paar Tränen der Reue und des Kummers über die Menschen, die sie erst verraten und dann fallengelassen hatten.

Eine Weile lebte sie diese Opferrolle aus, doch dann beschloss sie, ein Comeback zu starten, allerdings unter der Bedingung, angesichts des vorangegangenen Skandals nicht mehr das gleiche Honorar zu erhalten wie zuvor – sondern das fünffache! Denn wer wollte Sally nicht sehen, nachdem er sie in ihren intimsten Momenten beobachtet hatte? Sie war eine Ware geworden, die immer ging. Allerdings war das Kasino Paris für sie nunmehr die schlechteste Verbindung mit ihrer Vergangenheit. Wäre nicht ihre Beziehung zu dem Betreiber, der sie in der Zeit der Not unterstützt hatte, so eng gewesen, hätte sie sich grösste Mühe gegeben, ihren Vertrag aufzulösen. Allerdings reduzierte sie ihre Anwesenheit dort auf drei Tage pro Woche, abgesehen von den Neujahrspartys, Privatfeiern und Besuchen in den Golfstaaten, bei denen sie sich einen unvergleichlichen Namen machte. Sie wurde zur Legende.

Und da war noch Karîm Abbas, ihr Manager, ein dünner Mann, der durch seinen dicken Schnurrbart ständig nach vorn zu fallen drohte. Vom Beginn des Skandals an bis zu ihrer Rückkehr ins Rampenlicht hatte er sich um sie gekümmert. Seine Freundlichkeit und die Tatsache, dass er ihr zur Seite gestanden hatte, als viele sie nicht mehr kennen wollten, würde sie nie vergessen. Er trug zerrissene Jeans mit Flicken auf den Knien und am rechten Handgelenk ein Glücksarmband, und sein Handy nahm er keinen Augenblick vom Ohr. Über der Stirn wurde er schon ein wenig kahl, und auf seiner Nase hatte er infolge einer früheren Auseinandersetzung, die nicht zu seinen Gunsten ausgegangen war, eine Narbe. Seine Lippen waren blau, weil er alles rauchte, was auf Erden wuchs, abgesehen von Muluchîja. Seinen Weg in diese Halbwelt hatte er schon vor langer Zeit gefunden. Damals war er ein Kunde gewesen, für den sich alle Türen öffneten und dem man Rosen streute, bis er süchtig geworden war und alles verloren hatte, was er besass. Die Armut war ein tödlicher Schlag für ihn, er begann zu schwindeln und zu betrügen und endete als Zuhälter, bereit, sogar auf der Hochzeit der erstgeborenen Tochter des Satans zu tanzen und zu singen, wenn der Preis stimmte. Er heiratete Sally nach ihrem Skandal, was im Einklang mit ihren beiderseitigen Interessen stand, und teilte sie, obwohl sie seine teuerste Ware war, mit allen anständigen Kunden, ob Geschäftsleuten, Abgeordneten oder reichen Golfarabern, für so viel Geld, wie zehn Beamte im Jahr verdienten. Immer auf ihre Unversehrtheit bedacht, brachte er sie selbst zu den Treffen und holte sie am folgenden Tag wieder ab. Die Ausbeute teilten sie sich. Sie waren ein seltsames Paar, vom gemeinsamen Interesse zusammengehalten. Allerdings existierte zwischen ihnen offenkundig Zuneigung, deren Reinheit durch die Umarmungen eines reichen Liebhabers, der sich Sally wie ein Fahrrad mal für eine Tour auslieh, nicht verdorben, ja nicht einmal getrübt wurde. Nach dem Skandal konnte sie ihre Geschäfte ausweiten und gewann neue Kundenkreise hinzu. Ihr Preis stieg, und Sally al-Iskandarâni wurde in den Hotels und Kasinos zur gefragtesten Nummer, zuvorderst im Kasino Paris, der Perle der Pyramidenstrasse.

Ein Monat war vergangen, in dem Achmad sich einigermassen bemüht hatte, sich an die Atmosphäre des Ortes und sein neues, winziges Zimmerchen zu gewöhnen. Er versuchte, ein Gespür dafür zu entwickeln, welcher Gast ein Foto wünschte und welcher nicht. Anfangs hatte es mehrere peinliche Szenen gegeben, in denen sich zwei Kunden ihm zuwandten und ein dritter ihm ein Zeichen machte zu verschwinden, weil er seine Dienste nicht wollte. Danach hatte er versucht, sich anzupassen, aber bis er diesen Ort verstehen würde, hatte er noch einen weiten Weg vor sich. Selbst mit Gûdas Unterstützung, die er sich nur damit erklären konnte, dass der Mann so gutherzig war und um seine Lage wusste, gelang es ihm nicht, sich wirklich zu arrangieren. Gûda folgte ihm, wohin er ging, und lehrte ihn die Regeln des Kasinos und die Art und Weise, wie man denen, die insgeheim dort verkehrten, seinen Anteil am Brot entreissen konnte.

In seinem täglichen Programm, das das Satellitenfernsehen nicht sendete, legte Gûda ihm die Hintergründe der meisten regelmässigen und berühmten Gäste offen. Und ganz gegen seine Gewohnheit, seine Geschichten mit magischen Zutaten anzureichern, gab er, wenn er den Lebenslauf der Besucher des Lokals referierte, von diesen Gewürzen nicht viel hinzu. Nur dass er die einzelnen Episoden stets mit einer oder zwei Geschichten beendete, in denen es um seine Leiden in der Kriegsgefangenschaft ging, um die betörende Jungfrau, die sich umgebracht hatte, weil er sie abgewiesen hatte, oder um das Krokodil, das im Roten Meer vor ihm aufgetaucht war und dem er mit einer Plastikschaufel das Auge ausgestochen hatte. Bei seinen Erzählungen über die Besucher jedoch lag der Wahrheitsgehalt bei mindestens siebzig Prozent, und die restlichen Informationen bezog Achmad von anderen Leuten im Kasino.

»Aufwachen, Achmad!«, rief Gûda.

Achmad hatte gedankenverloren auf einen mit acht Bierflaschen bestückten Tisch gestarrt, an dem ein sehr dicker Mann sass, ein Goldhändler, wie er von Gûda erfahren hatte. Mit der einen Hand spielte er mit seinem dichten Schnurrbart, während er mit der anderen seiner Begleiterin über den unteren Rücken strich. Dabei flüsterte er ihr etwas ins Ohr, und sie lachte laut auf.

Gûda liess die Kamera bei Achmad zurück. »Behalt sie bei dir«, sagte er, »und sieh mir zu!«

Er ging auf den dicken Schürzenjäger am Tisch zu, zog in aller Ruhe eine schon ziemlich ramponierte Rose aus der Tasche, steckte sie ihm ins Knopfloch seines Jacketts von der Grösse einer Autoplane, beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr. Der Mann brach daraufhin in ein solches Gelächter aus, dass er beinahe die vor ihm stehenden Flaschen vom Tisch geworfen hätte. Gûda richtete sich wieder auf und machte Achmad mit den Fingerspitzen ein Zeichen, näher zu kommen. Wieder flüsterte er dem Dicken etwas zu, und der nickte zustimmend. Achmad schoss mehrere Aufnahmen von ihm und seiner goldgelb blondierten Freundin, der, als er sie umarmte wie ein Dinosaurier einen leeren Saftkarton, beinahe die Brust aus dem Dekolleté sprang. Dabei lachte er so lauthals, dass beinahe seine Leber noch mit aufs Bild kam. Schliesslich hob er zum Zeichen, dass es genug sei, die Hand, und Gûda gab Achmad ein Signal, mit dem Mädchen allein fortzufahren.

»Mach ein paar Nahaufnahmen von der Dame, Achmad, das sind Freunde des Hauses«, sagte er und zwinkerte ihm zu.

Danach zog Achmad sich zurück, und Gûda folgte ihm.

»Gib mir den Film, und bleib hier!«, sagte er.

»Ich möchte lieber mitkommen«, meinte Achmad.

»Also gut.«

Gûda trat in sein Labor, das mit allen Sorten Plunder und Trödel vollgestopft war, die man sich nur denken konnte, denn nie warf er etwas fort. Selbst die leeren Filmdöschen aus Plastik sammelte er in einer Zimmerecke in einer Art Müllsack. Alte Kameras, die nicht mehr auf der Höhe der Zeit waren, standen da herum und seltsame Maschinen, deren ehemaliger Verwendungszweck nicht erkennbar war. Manche sahen aus wie Nähmaschinen und andere wie SA-6-Raketen. Und dann noch der alte Schrank: kein Schrank im üblichen Sinne, sondern eher eine kleine Kommode mit drei Schubladen, deren alten, rostigen, mit einem eingravierten Spatz versehenen Schlüssel Gûda stets bei sich trug.

»Was hast du eigentlich in dem Schrank da, Onkel Gûda?«

»Das ist mein Augapfel. Den hab ich schon seit den Tagen in Gisa, Achmad. Was ich da alles für schlimme Sachen drin hab: militärische Geheimnisse, Pässe, Fotos, Filme, Briefe von Abdel Nasser – meine ganze Arbeit im Geheimdienst, weisst du.«

Achmad konnte sich nur mit Mühe ein Lachen verkneifen. »Da bist du aber ein echtes Sicherheitsproblem, Onkel Gûda, du Tausendsassa! Abdel Nasser hat dir persönlich Briefe geschickt?«

»Aber sicher! Das lief alles ganz direkt hin und her. Kein Sekretariat und nicht mal ein Leibwächter war zwischen uns.«

»Dann zeig mir doch mal was!«

»Das geht nicht, Achmad. Diese Geheimnisse sind noch nicht enthüllt. Ich komme in Teufels Küche …«

Ausserdem liebte Gûda Werkzeuge. Überall lagen Schraubenzieher und Zangen herum, daneben standen Kartons mit Fotopapier und Kanister mit Entwicklerflüssigkeit, und an die Wand waren so viele vergilbte Fotos gepinnt, die meisten noch in Schwarzweiss, dass man die Farbe des Anstrichs nicht mehr erkennen konnte. Viele zeigten Gûda in seiner Jugend, auf der Nase die Persol-Brille, die er noch heute trug. Ausserdem gab es Fotos von Sängern und Tänzerinnen, und zu jedem Bild hatte Gûda eine Geschichte parat. Jede dieser Tänzerinnen war vor Liebe zu ihm dahingeschmolzen, aber er hatte sie alle für eine andere verlassen. Jeder Sänger war ein Freund von ihm gewesen, hatte ihm Geld geborgt, ihn zum Abendessen eingeladen und war Gûda atemlos nachgerannt, damit der ein Foto von ihm machte, mit dem ihm die Tore zu Ruhm und Glanz offen standen. Einmal hatte Gûda Achmad erzählt, er sei der Autor des Liedes Adawîja, das Muhammad Ruschdi16 berühmt gemacht hatte, ausserdem habe er Abdalhalîm Hâfis17 zu dem Lied Umarmungen der Geliebten inspiriert, und Umm Kulthûm habe mal zu ihm gesagt: »Gûda, mein Junge, ich möchte dich nach deiner Meinung zu einer Melodie fragen, ich wüsste gern, ob sie dir gefällt.« – »Ganz wie Sie wünschen, meine Teuerste«, habe er ihr geantwortet.

Zu ein paar Fotos von Leuten, die Achmad nicht kannte, sagte er: »Von diesen Freunden kann ich dir nichts erzählen, das hatte mit dem Geheimdienst zu tun.«

Er tauchte in seine Phantasiegeschichten ein wie Alice im Wunderland, ohne jedoch die Grenzen der Zeit und sein eigenes Alter zu berücksichtigen. So war er ein enger Freund von Muhammad Nagîb gewesen, auch persönlicher Fotograf von Abdel Nasser und Sadat, und selbst König Farûk hatte seinen Namen gekannt. Dabei gab er dieselbe Geschichte zwei-, dreimal zum Besten, jedes Mal auf eine andere Art und Weise, ohne sich je zu erinnern, dass er sie schon einmal erzählt hatte. Aber die Schilderungen waren so amüsant, dass Achmad ihnen nicht widerstehen konnte. Er verkniff sich ein Lachen und lauschte atemlos nickend, als glaube er alles.

Gûda hatte das Licht gelöscht, ohne allerdings, wie man es in arabischen Filmen sieht, das Rotlicht anzuschalten, denn er entwickelte Farbfotos. Vorsichtig nahm er das Negativ zwischen die Finger und legte es unter den Vergrösserungsapparat, um aus zwei Bildern des Händlers zehn zu machen, im Hoch- und im Querformat, als Nahaufnahme, aus der Ferne, zusätzlich eines in Herzform und anschliessend diverse Porträtaufnahmen von dem Mädchen allein. Danach ging er zu dem Kunden, der schon ganz vergessen hatte, dass er fotografiert worden war. Um dem Mann und seiner Freundin die Fotos vorzulegen, hatte Gûda sie zuvor in Alben gesteckt, die mit dem Namen des Kasinos bedruckt waren. Der Kunde zog ein von einem Gummiband zusammengehaltenes Bündel Hunderter aus der Tasche, mit dem man sämtliche Staatsschulden Ägyptens hätte zurückzahlen können, entnahm ihm vier Scheine und stopfte sie Gûda in die Tasche. Weil seine Begleiterin ihm jedoch zuflüsterte, er solle etwas freigebiger sein, erlöste er noch zwei weitere Scheine aus ihrem Gefängnis. Danach nahm das Mädchen die Bilder an sich, wählte die aus, auf denen es allein zu sehen war, und er griff sich die übrigen, um sie unter dem Tischtuch in kleine Stücke zu zerreissen.

»Der Mann hat die Fotos zerrissen!«, rief Achmad Gûda zu.

»Das weiss ich.«

»Haben sie ihm denn nicht gefallen?«

»Doch, haben sie.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Er will sich nur zusammen mit ihr auf einem Foto sehen, einen glücklichen Moment festhalten und sie dann vergessen. Er ist verheiratet und hat Kinder in deinem Alter.«

»Das ist alles?«

»Das ist alles. Und die Dame bei ihm ist hier immer zu Gast. Alle paar Tage zerrt sie einen Festtagshammel herein, damit er geschlachtet wird und sie ihre Provision kriegt. Aber auch er schleppt alle paar Tage eine Neue an und lässt sich mit ihr fotografieren, um dann die Bilder zu zerreissen. Sollen wir ihm etwa sagen, das geht nicht? Was hältst du denn davon: Einmal habe ich ihm ein Foto gegeben, das er sofort bezahlt und dann zerrissen hat, und eine Stunde später habe ich dasselbe Bild noch mal ausgedruckt und ihm gegeben, und er hat es noch mal bezahlt und zerrissen.«

Achmad verschlug es die Sprache.

»In ein paar Augenblicken begegnen Sie dem Star Ägyptens: der Königin des Bauchtanzes, der Künstlerin Saaaaaaally!«, schrie der Ansager, und die Band, die sich schon länger bereitgehalten hatte, stimmte Umm Kulthûms berühmtes Lied Du bist mein Leben an.

Achmad zog sich in den rückwärtigen Teil des Saals zurück, lehnte den Kopf gegen die Wand und zündete sich eine Zigarette an. Aber schon nach zwei Zügen drückte er sie wieder aus.

Die Band verbrachte etwa fünf Minuten mit dem Intro des Liedes, immer wieder begann sie von vorn, bis die einen schon anfingen zu pfeifen und andere seufzten. Doch endlich wurden sie erlöst, als Sally, gefolgt von einem Lichtkegel, von rechts auf die Bühne trat. Sie trug ein goldenes Glitzerkostüm, das den Männerseelen die heissesten Gelüste entlockte. Ihr kastanienbraunes Haar wirbelte umher, wenn sie sich drehte, wand und mit dem Kopf nach vorn neigte. Wie die Eisenspäne auf einen Magneten richteten sich alle Köpfe auf sie aus, und wie an unsichtbaren Fäden gezogen, gingen die meisten Männer bis dicht an die Bühne. Teure, mit Kameras ausgestattete Handys kamen zum Vorschein und hielten den einzigartigen Moment fest, in dem sich Sally langsam vorbeugte, so dass ihre Brust sichtbar wurde, die gross genug war, das ganze Stadtzentrum einschliesslich Abdîns zu säugen. Um in den Männern einen Orkan an Phantasien zu entfesseln, steckte sich Sally ausserdem den Zeigefinger in den Mund. Und jeder, der einen Blick oder ein Zwinkern von ihr auffing, glaubte, sie tanze nur für ihn. Währenddessen drehte Karîm Abbas wie ein Streifenwagen seine Runden hinter den Tischen und beobachtete die Gäste wie ein Bergbüffeljäger, der seine Beute auswählt. Schliesslich fiel sein Blick auf einen eleganten kleinen Geldsack, der an einem Tisch direkt neben der Bühne sass. Der Mann zog ein Banknotenbündel aus seiner Anzugtasche, zählte daraus zwanzig Hundertpfundscheine ab und drückte sie einem der Kellner in die Hand. Zusätzlich steckte er ihm noch fünfzig Pfund in die Tasche und flüsterte ihm dabei ins Ohr, er solle sich beeilen. Der Kellner ging mit dem Geld hinter die Bar, und nachdem er seine private Gebühr abgezogen hatte, bastelte er daraus eine Banknotenkette. Damit kehrte er zu dem Mann zurück, der schwankend aufstand und zur Bühne ging. Kaum hatte Sally ihn gesehen, lief sie auch schon auf ihn zu, so wie eine Giraffe an den Zaun kommt, um sich von den Besuchern füttern zu lassen. Er tanzte ein wenig neben ihr, legte ihr dann die Kette um den Hals, und Gûdas Blitz traf ihn zweimal auf die schweissnasse Stirn, einmal, als er die Hand der Tänzerin ergriff, und ein weiteres Mal, als er ihr die Kette umhängte. Währenddessen blickte Abbas zu dem Oberkellner hinüber, der mit gerecktem Daumen signalisierte, dass keine Sittenpolizei im Saal war. Daraufhin machte er Sally ein Zeichen, dass die Luft rein sei, und sie ging zu dem Mann vor der Bühne, der ihr die Kette geschenkt hatte, legte ihm den linken Fuss auf den Oberschenkel und tanzte in dieser Position weiter. Mit ihren rotlackierten Zehennägeln drückte sie ihm auf die Nerven und kitzelte seine Hypophyse, bis er aus seiner Anzugbrust Geldbündel absonderte und begann, ihr einen Schein nach dem anderen zu Füssen zu werfen. Das brachte einen anderen Gast an der gegenüberliegenden Seite in Wallung, und er zog zwei dicke Bündel aus seinem vollgestopften Jackett, legte die Scheine zu einem Kreis und forderte Sally auf, darin zu tanzen. Da liess sie den Ersten sitzen, ging zu dem anderen und erfüllte seinen Wunsch. Gûda machte von den beiden zwei Aufnahmen à la vôtre, ein Ausdruck, den man benutzt, wenn der Fotograf davon ausgeht, dass der Kunde damit einverstanden ist, abgelichtet zu werden. Diesen Schritt wagte Achmad noch nicht zu tun.

Die Tage vergingen in gleichförmiger Routine, jeden Tag wurden Tausende Pfund gnadenlos auf den Boden des Saals geschüttet, von den Füssen einer Tänzerin oder von glänzenden Schuhen zertreten und dann mit Plastikschaufeln wieder eingesammelt. Anschliessend wurde die Beute unter den Gewinnern aufgeteilt.

Wie sehr wünschte sich Achmad, an nur eine solche Schaufelladung zu gelangen! Wie oft träumte er davon, die Einnahmen eines einzigen Tages in die Hand zu bekommen!

Nach Parfum duftender Schweiss, nach Alkohol riechender Atem, Blicke und Anrufe, die hin- und hergingen, fragwürdige Abmachungen, hässliches Gelächter, eine lange Nacht, ein kurzer Tag, ein dunkles Zimmer ohne Ventilator, Aufnahmen von toten, glanzlosen Augen, Rauch, der einen für einen Monat blind machte: Achmad konnte dem Ganzen nichts abgewinnen. Er hielt es nur aus, weil er keine Wahl hatte. Provokateuren versuchte er dabei möglichst aus dem Wege zu gehen. Eine Konfrontation würde er nicht ertragen, das wusste er, ganz im Gegensatz zu Gûda, der abgestumpft war und sich für nichts mehr schämte. Er grinste nur zu den Obszönitäten, solange man ihm einen bunten Schein in die Hand drückte. Passiv wie ein UKW-Radio, nahm er all die Verabredungen und Signale auf: ihm blieb nichts anderes übrig, als sie zu hören.

Die Sonne stand schon im Zenit, als Achmad – wie immer in Begleitung seiner Kamera – ausging, um den Forderungen seines Magens nachzukommen. Auf dem Weg zum Sajjida-Sainab-Platz sah er in der Murâdstrasse nahe der Universitätsbrücke etwas, was ihn jedes Mal, wenn er dort vorbeikam, haltmachen liess. Schnell schoss er ein, zwei Fotos, dann ging er weiter zu seiner Schwester, die er fast jede Woche besuchte.