20
Venetia erreichte York mitten am Nachmittag des folgenden Tages, da die Postkutsche durch Nebel in und um London beträchtlich aufgehalten worden war. Wenn Venetia diesmal auch viel besser aufgelegt war als auf ihrer Hinreise, so war sie dafür bei weitem erschöpfter. Sie stieg aus der Kutsche mit dem Gefühl, total zerschlagen und zerzaust zu sein. Statt unverzüglich eine zweispännige Kutsche zu mieten, die sie zur Priory bringen sollte, wie es ihre Absicht gewesen war, bestellte sie ein Schlafzimmer, etwas heißes Wasser und Tee. So eifrig sie darauf bedacht war, das Ziel ihrer Reise zu erreichen, wünschte sie denn doch nicht, in der Priory in einem verdrückten Kleid, mit ungewaschenem Gesicht und ungebürstetem Haar anzukommen. Als das Stubenmädchen sie im Gasthof in ein leeres Zimmer führte, genügte ein Blick in den Spiegel, sie in dem Glauben zu bestärken, daß keine Dame, wie hübsch auch immer sie war, über zweihundert Meilen in einer Postkutsche reisen konnte, die mit sechs Passagieren voll besetzt war, ohne an ihrem Bestimmungsort in einer sehr unhübschen mitgenommenen Verfassung anzukommen.
Sie hatte das Glück gehabt, in so kurzer Frist doch noch einen Sitz buchen zu können; es war natürlich kein Eckplatz, und sie war bald daraufgekommen, daß zwischen einer privaten Reisekutsche und einer Postkutsche ein weltweiter Unterschied lag. Zum Unterschied von zweien ihrer Mitpassagiere, die die ganze Nacht hindurch abscheulich schnarchten, war sie nicht imstande gewesen, zu schlafen. Und als den Reisenden zur Frühstückszeit eine Pause von zwanzig Minuten gegönnt wurde, konnte sie gerade nur zwei Schluck lauwarmen Kaffees zu sich nehmen, bevor sie auch schon wieder aufgefordert wurde, ihren Platz in der Postkutsche einzunehmen, denn sie hatte fünfzehn Minuten warten müssen, bis der gehetzte Kellner die Kaffeekanne auf den Tisch vor sie hinschmetterte.
Waschen und eine Tasse Tee belebten sie ein wenig, und sie meinte, wenn sie sich eine halbe Stunde auf das große Himmelbett hinlegte, würde vielleicht ihr Kopfweh vergehen. Das war ihr Pech. Denn kaum hatte sie die Bettdecke über sich gezogen, als sie auch schon einschlief.
Sie erwachte im Finstern, und als sie die Münsterglocke die Dreiviertelstunde schlagen hörte, sprang sie entsetzt auf und tastete nach der Klingelschnur neben ihrem Bett. Als das Stubenmädchen mit einer Kerze erschien, erfuhr sie zu ihrer Erleichterung, daß die Zeit doch noch nicht so weit vorgeschritten war, wie sie gefürchtet hatte. Es war dreiviertel vor sieben Uhr abends. Das Stubenmädchen, eine freundliche Seele, sagte, es hätte um vier Uhr zu ihr hereingeschaut, aber gedacht, es wäre einfach eine Schande, sie aufzuwecken. Es meinte, Miss müßte Appetit auf das Abendessen haben, das gerade im Eßzimmer serviert wurde. Aber obwohl Venetia geradezu heißhungrig war, bat sie das Mädchen nur, während sie in das reine Kleid schlüpfte, das sie schon früher aus ihrem Portemanteau ausgepackt hatte, zum Wirt hinunterzulaufen und bei ihm eine zweispännige Kutsche zu bestellen, oder irgendein anderes verfügbares Fahrzeug, das sie unverzüglich zur Elliston Priory bringen könne.
Venetia hatte beabsichtigt, nach der halben Stunde Erholung auf dem verräterischen Bett in Mr. Mytchetts Kanzlei vorzusprechen, denn nachdem sie ihre Karte für die Postkutsche gekauft, das Frühstück bezahlt – das sie keine Zeit zu essen gehabt – und dem Wächter ein Trinkgeld gespendet hatte, waren ihre Mittel derart zusammengeschrumpft, daß sie gerade noch die Rechnung im Gasthof bezahlen konnte. Das tat sie und kletterte gleich darauf in die Mietkutsche, zwar bettelarm, aber hoffnungsfroh, denn irgend jemand in der Priory – Aubrey oder Damerel oder Imber – würde die Rechnung des Postjungen schon auslegen.
Aber Imber, der nach halb neun Uhr dieser gänzlich unerwarteten Besucherin die Tür öffnete, machte größere Stielaugen denn je bei ihrer leicht hingeworfenen Bitte, den Postjungen zu bezahlen, und wiederholte derart verblüfft: «Den Postjungen bezahlen, Miss?!», daß Venetia, ungeduldig über jede weitere Verzögerung, sagte: «Oh, lassen Sie nur! Seine Lordschaft wird Ihnen das Geld geben! Wo finde ich ihn? Ist er in der Bibliothek?»
Imber, der sie immer noch offenen Mundes anstarrte, schüttelte langsam den Kopf. Eine lähmende Angst preßte ihr das Herz zusammen; sie stammelte: «W-weg? Imber, hat er Yorkshire ver-verlassen? Stehe Er nicht da und halte Er keine Maulaffen feil! Hält Er mich für ein Gespenst? Wo ist Seine Lordschaft?!»
Imber schluckte und antwortete: «Er ist im Speisezimmer, Miss, aber – aber er riecht nach Hullkäse, Miss Venetia! Sie hätten nicht sollen – aber, Miss ...!»
Da dieser Ausflug in den Dialekt Venetia völlig unverständlich war, beachtete sie den Beiklang dringenden Flehens in Imbers Stimme nicht, sondern ging schnell die Halle hinunter zum Speisezimmer. Sie öffnete die Tür, betrat das Zimmer und blieb einen Augenblick zögernd auf der Schwelle stehen, weil sie plötzlich bei aller Sehnsucht, ihren Liebsten wiederzusehen, Beklommenheit spürte.
Den ganzen Weg nordwärts hatte sie sich diese Begegnung ausgemalt, sich gefragt, was Damerel wohl sagen und wie er dreinschauen und was sie ihm sagen würde. Es wäre ihr nicht eingefallen, daß er weder mit ihr sprechen noch sie anschauen würde, oder daß ihre Begegnung in der Wirklichkeit so völlig anders ausfallen würde, als sie es sich in der Phantasie ausgemalt hatte.
Er war allein, lümmelte in dem geschnitzten Armstuhl am Kopfende des Tisches, der eine Arm lag auf der Platte, und seine Finger hielten den Stiel eines Weinglases umklammert. Die Tischdecke war schon entfernt worden, und neben seinem Ellbogen stand eine halbgeleerte Karaffe, der Stöpsel daneben. Damerel war schon immer gleichgültig gegen seine Erscheinung gewesen, aber noch nie hatte Venetia ihn derart unordentlich gesehen. Das Halstuch hatte er gelockert, die Weste hing offen, und sein schwarzes Haar sah aus, als wäre er in einen Sturm geraten. Er saß unbeweglich da, die Schultern gegen die hohe Rückenlehne gedrückt, die Beine lang von sich gestreckt, und sein brütender Blick war starr ins Leere gerichtet. Die harten Linien in seinem Gesicht schienen sich verschärft zu haben, und sein Hohnlächeln war noch stärker betont. Als Venetia leise in das Kerzenlicht vortrat, wandte er ihr endlich die Augen zu und schaute sie an. Sie blieb stehen, mit einem Lächeln, in dem sich Schüchternheit, Spitzbüberei und die Spur einer Frage mischten. Er starrte sie verständnislos an, und dann hob er zu ihrem Schrecken die Hand zu den Augen, um sie nicht sehen zu müssen, und stieß mit einer verquollenen Stimme voll Abwehr hervor: «O Gott! Nein!!»
Diese völlig unerwartete Reaktion auf ihre Ankunft hätte Venetia vielleicht sehr eingeschüchtert, aber da sie inzwischen erkannt hatte, daß Seine Lordschaft – sozusagen – äußerst blau war, war sie nicht entsetzt, sondern sogar ziemlich amüsiert. Sie rief aus: «O Damerel, mußt du wirklich ausgerechnet in diesem Augenblick angesäuselt sein? Wie gräßlich du doch bist, mein lieber Freund!»
Er ließ die Hand sinken; einen Augenblick lang schaute er sie ungläubig an, dann war er aufgesprungen und hatte dabei das Weinglas umgestoßen. «Venetia!» stieß er hervor. «Venetia!!»
Zwei hastige, unsichere Schritte brachten ihn um den Tisch herum; sie ging auf ihn zu und schmiegte sich in seine Arme, als er sie packte.
Er hielt sie in einer erdrückenden Umarmung, küßte sie wild und brachte nur unzusammenhängend heraus: «Meine Geliebte – mein Herz – oh, mein liebes Entzücken! Du bist es wirklich!»
Sie hatte einen Arm um seinen Hals geschlungen, und als er den Kopf hob, um ihr Gesicht mit den Augen zu verschlingen, strich sie ihm zärtlich die zerzauste Haarlocke aus der Stirn. Was immer für Zweifel oder Ängste sie bestürmt haben mochten, sie waren verschwunden. Sie lächelte liebevoll zu ihm auf und sagte – das Wort wurde zu einer Liebkosung –: «Du Dummer!»
Er lachte, und es klang wie ein Stöhnen, küßte sie wieder, und seine Arme drückten sie so fest an sich, daß sie kaum atmen konnte. Dann schien er sich etwas zu besinnen, lockerte die Umarmung und rief mit schwankender Stimme aus: «Ich muß ja geradezu nach Brandy stinken!»
«Tust du!» sagte sie aufrichtig. «Macht nichts. Ich bin überzeugt, ich werde mich bald daran gewöhnen.»
Er ließ sie los und preßte die Hände gegen die Augen. «Hölle und Teufel! Ich bin voll – besoffen wie ein Droschkenkutscher! Ich kann nicht ...» Er ließ die Hände sinken und verlangte fast zornig zu wissen: «Was hat dich hergebracht? O Gott, warum bist du gekommen?»
«Die Postkutsche hat mich hergebracht, Liebster, und warum, erzähle ich dir gleich. Oh, mein lieber Freund, ich habe dir ja so viel zu erzählen! Aber zuerst müssen wir die Kutsche bezahlen. Imber scheint kein Geld zu haben, willst du ihm daher deine Börse geben, bitte?»
«Was für eine Kutsche?»
«Die ich in York gemietet habe, um mich herzubringen. Ich hatte nicht mehr genug Geld – ja, ich bin ganz blank und muß jetzt dir auf der Tasche liegen! Damerel, geh, bitte, gib mir deine Börse!»
Er fuhr mechanisch mit der Hand in die Tasche, aber anscheinend hatte er seine Börse nicht bei sich, denn er zog sie wieder leer heraus. Seine Liebste, die ihn zärtlich als einen verworfenen Dummkopf apostrophierte, wandte sich von ihm ab, um auf Suche nach Aubrey zu gehen, und entdeckte, daß Imber unter der Tür stand, das Gesicht ein Bild der Mißbilligung, der Neugier und des Staunens.
«Marston bezahlt soeben den Postjungen, Miss», sagte er. «Aber wenn ich um Verzeihung bitten darf, falls er nach York zurückgeschickt wird – Miss Venetia, es ist doch nicht Ihr Ernst, daß Sie hierbleiben wollen?»
«O doch», antwortete sie. «Sagen Sie Marston, er möchte bitte die Kutsche fortschicken!»
Dies schien denn doch in Damerels ziemlich umwölktes Gehirn vorzudringen. «Nein!» sagte er nachdrücklich, wenn auch etwas heiser.
«Gewiß, Mylord», stimmte ihm Imber erleichtert zu. «Soll ich ihm sagen, er soll eine Zeitlang in den Ställen warten, oder ...»
«Kümmern Sie sich nicht um Seine Lordschaft!» sagte Venetia. «Sie müssen doch sicher imstande sein zu merken, daß er nicht ganz bei sich ist! Schicken Sie die Kutsche fort, und dann, wenn Sie nicht wollen, daß ich in Ohnmacht falle, bringen Sie mir etwas zum Abendessen, ich flehe Sie an! Alles, was ich seit gestern gegessen habe, ist ein einziges Butterbrot, und ich bin einfach am Verhungern! Sagen Sie Mrs. Imber, ich lasse sie um Entschuldigung bitten, daß ich lästig falle, und ein bißchen kaltes Fleisch genügt vollkommen!»
Imber schaute um Weisung auf seinen Herrn, aber da Damerel mit dem Versuch beschäftigt war, seinen in Unordnung geratenen Verstand wieder in Reih und Glied zu bringen, und ihn nicht beachtete, ging er widerstrebend weg, um Venetias Befehle auszuführen.
«Venetia!» sagte Damerel und hob den Kopf, den er sich mit beiden Händen gehalten hatte, und sprach mit sorgfältig klarer Aussprache. «Du kannst nicht hierbleiben. Ich lasse dich nicht. Außer Frage. Nicht so besoffen, daß ich das nicht weiß.»
«Unsinn, mein lieber Freund! Aubrey genügt als Anstandswauwau, den ich brauche. Wo ist er übrigens?»
Er schüttelte den Kopf. «Nicht hier. Weg – habe den Namen des Kerls vergessen – irgendein Pfarrer! Pauker!»
«Was – ist Mr. Appersett wieder daheim?» rief sie aus. «Ich habe doch gewußt, ich darf keine Stunde länger warten! Hat dich Aubrey schon verlassen? Na schön, da kann man auch nichts machen, und um die Wahrheit zu gestehen, es ist mir auch völlig egal!»
Er runzelte die Stirn. «Nicht mich verlassen. Zum Essen in die Pfarrei gefahren. Appersett. Ja, stimmt. Ist gestern heimgekommen – oder vorgestern. Kann mich nicht erinnern. Aber unwichtig. Dableiben kannst du nicht.»
Sie betrachtete ihn mit einem weisen Auge. «Ja, ich sehe, wie es ist», bemerkte sie. «Ich glaube, das ist bei allen Männern so, denn ich erinnere mich, wann immer Conway auch nur im geringsten angesäuselt war, hat er sich irgend etwas in den Kopf gesetzt, im allgemeinen etwas Idiotisches, und hat mit Zähnen und Klauen daran festgehalten.»
Er wiederholte sehr anerkennend: «Idiotisch!» Ein Lachen schüttelte ihn. «Ich hab geglaubt, ich würde dich das nie wieder sagen hören!»
«Sage ich das sehr oft?» fragte sie, und als er nickte: «O Himmel, wie lästig von mir! Ich muß mich in acht nehmen.»
«Nein. Nicht lästig. Aber», sagte Seine Lordschaft verbissen, «hierbleiben kannst du nicht.»
«Nun, ich warne dich, Liebster, wenn du mich hinauswirfst, werde ich mir eine Hütte aus Weidenzweigen vor deinen Toren bauen – und sehr wahrscheinlich an Lungenentzündung sterben, denn November ist nicht der richtige Monat dazu, Weidenhütten zu bauen! Oh – guten Abend, Marston! Haben Sie den Postjungen für mich bezahlt? Ich bin Ihnen sehr dankbar!»
«Guten Abend, Ma'am», sagte der Kammerdiener mit einem seiner seltenen Lächeln. «Darf ich sagen, wie sehr glücklich ich bin, Sie wieder hier zu sehen?»
«Danke – ich bin sehr glücklich, hier zu sein!» antwortete sie herzlich. «Aber was sollen wir tun? Seine Lordschaft hier droht mir, mich vor die Tür zu setzen – er ist überhaupt nicht froh, mich zu sehen!»
«Gewiß, Ma'am», sagte Marston und warf einen erfahrenen Blick auf Damerel. «Wenn Sie vielleicht in Mr. Aubreys Zimmer hinaufgehen wollten, um Ihr Hütchen und Ihren Umhang abzulegen ...? Oben brennt ein schönes Feuer, und ich habe das Stubenmädchen angewiesen, eine Kanne heißes Wasser hinaufzutragen, falls Sie sich die Hände zu waschen wünschen. Auch Ihren Portemanteau, Ma'am.»
Sie nickte und ging durch das Zimmer zur Tür.
«Nein!» sagte Damerel hartnäckig. «Hör mir zu!»
«Ja, Mylord, sofort!» antwortete Marston, führte Venetia aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. «Das Zimmer neben Mr. Aubrey wird für Sie gerichtet, Ma'am. Ich sollte vielleicht erklären, daß Mr. Aubrey zur Pfarrei hinübergefahren ist, um dort zu Abend zu essen, aber er wird gleich zurück sein.» Er fügte beruhigend hinzu: «Seine Lordschaft wird sehr bald wieder zu sich kommen, Ma'am.»
«Marston, war er oft angesäuselt?» fragte Venetia offen heraus.
«O nein, Ma'am! Er hat zwar immer ziemlich tief ins Glas geguckt, aber nur, wenn Mr. Aubrey schon zu Bett gegangen war.» Er zögerte und fügte dann in seiner ausdruckslosen Art hinzu: «Es ist immer ein Zeichen von Kummer bei Seiner Lordschaft, wenn er über die Stränge haut, wenn Sie verzeihen, daß ich das sage, Ma'am.»
Sie nickte und sagte mit einem kleinen Lächeln: «Wir müssen schauen, was wir tun können, um das gutzumachen.»
«Ja, Ma'am: ich wäre äußerst glücklich», sagte Marston und verbeugte sich leicht. «Darf ich das Abendessen in ungefähr – einer halben Stunde vorschlagen?»
Sie war so hungrig, daß es einer beträchtlichen Entschlußkraft bedurfte, einen instinktiven Einspruch zu unterdrücken; aber es gelang ihr, sogar gnädig zuzustimmen, da zu erkennen war, daß er wünschte, sie solle sich aus dem Weg halten. Sie ging hinauf und wurde für ihre Fügsamkeit belohnt, sowie sie in Aubreys Schlafzimmer ihr Spiegelbild erblickte. In dem unbestimmten Licht einer Kerze, die ihr das Zimmermädchen im Gasthof gebracht hatte, hatte sie sich nur aufs Geratewohl angezogen und nicht mehr getan, als hastig einen Kamm durch die Locken gezogen, bevor sie ihren Hut aufsetzte. Aber Marston hatte zwei Armleuchter auf den Toilettetisch setzen lassen, und in ihrem erbarmungslosen Licht sah Venetia mit Grauen, daß sie einen fast ebenso zerzausten Anblick bot wie ihr verworfener Gastgeber. Sie vergaß jeden Gedanken ans Abendessen, riß den Hut herunter, warf ihre Pelisse auf das Bett und machte sich an die dringende Aufgabe, sich wieder sehen lassen zu können. Als diese vollzogen war, war beträchtlich mehr als eine halbe Stunde vergangen. Sie drapierte einen sehr schönen Zephirschal nach letzter Mode um die Schultern, warf einen letzten kritischen Blick auf ihr Spiegelbild, blies die Kerzen aus und ging wieder in das Speisezimmer hinunter.
Hier fand sie die Lage sehr verbessert vor, alle Spuren der Ausschweifung entfernt, den Tisch frisch gedeckt, das Feuer angefacht, und Damerel, dessen unordentlicher Aufzug streng in Ordnung gebracht worden war, wie durch ein Wunder nüchtern. Er war eben dabei, einen Deckelkrug zu leeren, als Venetia das Zimmer betrat. Sie schaute das Gefäß etwas zweifelnd an, aber was immer der Inhalt gewesen sein mochte, schien er eine wohltätige Wirkung auf sein System bewirkt zu haben, denn er sagte in einer völlig klaren Stimme, als er den leeren Krug Marston reichte: «Jetzt ist's besser! Brot und Käse, und ich bin in Ordnung.» Er drehte sich um, lächelte Venetia an und sagte leichthin, aber mit einer Glut in den Augen, die ihr das Herz warm machte: «Du stirbst ja vor Hunger, mein armes Kind! Du wirst sofort bedient werden! Komm und setz dich nieder – und laß mich dein ängstliches Gemüt beruhigen. Ich werde dich nicht aus meinem Haus vertreiben: wir sind auf einen besseren Plan gestoßen – oder, um ehrlich zu sein, Marston war es. Mein eigener Kopf ist noch nicht fähig, Pläne zu entwerfen. Du bist hergekommen, um mit Aubrey etwas Wichtiges zu beraten – vergiß das nicht! –, und ich werde in den Roten Löwen übersiedeln. Auf diese Weise wahren wir den Anstand!» Er rückte ihr den Stuhl zurecht, als sie sich bei Tisch niederließ, und fügte, immer in dem leichten Ton, hinzu: «Du hast eine andere Frisur – sehr schick!»
Sie erkannte, daß er schwierig werden würde, war aber nicht sehr beunruhigt. Was immer sein Mund äußern mochte – seine Augen verrieten ihn. Sie sagte im Plauderton: «Gefällt sie dir? Ich hoffe, denn man hat mir versichert, es sei der letzte Schrei!»
Er hatte sich zu seinem eigenen Stuhl begeben und hob nun sein Monokel. «Ja, vorzüglich! <A la Sappho, glaube ich.»
«Elender!» sagte sie mit ihrem ansteckenden Kichern. «Kennst du eigentlich alle Namen aller Stile weiblicher Haartrachten?»
«Die meisten, glaube ich», antwortete er unverfroren. Er setzte sich nieder und ließ sein Monokel an dem langen Band fallen. «Was hat dich hergebracht, Venetia?»
«Die Postkutsche – und äußerst unbequem außerdem!»
«Keine Wortklauberei, Mädchen!»
Sie lächelte ihn an und sagte leise: «Dummer!»
Sie erhielt kein Lächeln als Antwort; er war blaß und sah ziemlich grimmig drein. Nach einer winzigen Pause sagte er: «Ich wünschte zu Gott, du wärst nicht gekommen!»
«Oh! Das – das ist ja eine gräßliche Abfuhr, besonders da ich den Eindruck hatte, daß du froh warst, mich wiederzusehen.»
«Ich war bös angesäuselt – ich bin davon immer noch ein bißchen angegriffen, aber nicht länger von Sinnen.»
«Oh, Lieber, hast du vor, mich nur zu küssen, wenn du angesäuselt bist?»
«Ich habe nicht vor, dich überhaupt zu küssen!» sagte er schroff.
«Dann natürlich will ich dich nicht dazu drängen», antwortete sie. «Nichts ist abscheulicher, als zu etwas gedrängt zu werden, was man nicht im geringsten gern tut! Ich habe in letzter Zeit sehr viel Erfahrung darin gemacht. Ich kenne nur etwas, das schlimmer ist, und das ist, von wohlmeinenden, aber vollkommen schafsköpfigen Leuten belagert zu werden, die sich nicht davon zurückhalten können, sich in Dinge einzumischen, die sie nichts angehen.»
«Venetia ...» Er hielt inne, weil Imber hereinkam, und saß stumm mit mürrischem Stirnrunzeln da, während ihr eine Tasse Suppe vorgesetzt wurde.
«Ach, wie gut die duftet!» sagte Venetia und ergriff den Löffel. «Oh, Imber, frische Haferbrötchen! Ja, natürlich will ich eines nehmen! Jetzt erst weiß ich wirklich, daß ich wieder daheim bin!» Sie wandte den Kopf, um Damerel anzusprechen. «Meine Tante, muß ich Ihnen erzählen, hat einen französischen Koch. Er bringt die lekkersten Gerichte zustande, aber ich habe mir trotzdem nicht helfen können und mich manchmal nach gewöhnlicher Yorkshire-Kost gesehnt.»
«Wie hat es Ihnen in London gefallen?» fragte er, während Imber Venetias Glas mit Limonade füllte.
«überhaupt nicht. Das heißt, vielleicht ist das ein bißchen ungerecht! Ich glaube, unter anderen Umständen hätte es mir sehr gut gefallen.» Sie fügte hinzu, als Imber das Zimmer verlassen hatte: «Ich war zu unglücklich und zu allein, um ein Vergnügen daran zu haben. Weißt du, ich hatte niemanden, der mit mir gelacht hätte.»
Er sagte gepreßt: «Natürlich hast du dich fremd gefühlt. Waren sie nett zu dir, dein Onkel und deine Tante?»
«Sehr nett. Nur – na, macht nichts. Ich glaube nicht, daß ich es dir erklären kann.»
«Es mir erklären? Glaubst du, ich kenne das nicht? Glaubst du, ich habe dich nicht jeden Tag – nicht jede Minute vermißt?!» fragte er ungestüm. «Und habe mir vorgestellt, daß du dort, genau dort sitzt, wo du jetzt sitzt, wie du an jenem ersten Abend gesessen hast, mit jenem Lächeln in deinen Augen ...» Er brach ab. «Nun, du brauchst mir's nicht zu erklären! Ich kenne es. Aber glaube mir – so glaub mir doch, mein liebes Entzücken, es geht vorüber!»
«Ja, das hast du mir schon gesagt, als du mir Lebewohl sagtest», stimmte sie ihm zu. «Meine Tante hat mir das auch gesagt, und ich zweifle nicht daran, mein Onkel würde mir's auch sagen, denn ich bin überzeugt, er hat es dir gesagt. Aber was keiner von euch mir überhaupt klargemacht hat, ist, warum es für euch <ein unwiderruflich' Ende, innigst herbeigewünscht> sein sollte! Aber ich will nicht lästig sein, daher will ich dich nicht mit Fragen quälen. O Himmel, ich höre Imber zurückkommen! Ich glaube, es wäre besser, wenn ich dir erst erzähle, was mich hergebracht hat, bis wir sicher vor Unterbrechungen sind. Ich habe dir auch so viel anderes zu erzählen. Oh, Damerel, ich habe Ihren Vetter gesehen! Er war bei einer Abendgesellschaft, ich hörte seinen Namen fallen und habe mich fast unmöglich gemacht, weil ich so lachte! Er ist ein geradezu prächtig komischer Mensch!»
Er lächelte, aber mühsam. «Ein prächtig komischer Mensch? Guter Gott, was fällt Ihnen nur ein! Er gehört doch zu den Spitzen der Gesellschaft – Alfred! Sie sollten ihn erst sehen, wenn er auf den Bummel geht! Wer ist jetzt in London? Noch nicht viele Leute, fürchte ich, aber ich hoffe, Sie haben wenigstens einige angenehme Bekanntschaften gemacht?»
Sie antwortete bereitwillig und plauderte leicht und heiter dahin, während sie ihr Abendbrot aß. Damerel sagte nicht sehr viel, sondern saß nur da und beobachtete sie mit einem seltsamen Lächeln in den Augen, so daß sie sich sehnte, ihre Arme um ihn zu legen – denn genauso, dachte sie, lächelt man, wenn man nur mehr an eine liebe Erinnerung denkt.
Als Imber die Äpfel und Nüsse auf den Tisch gesetzt und sich endgültig zurückgezogen hatte, sagte Damerel: «Und jetzt, Venetia, erzähl mir, was geschehen ist, das dich veranlaßt hat, diesen verrückten Schritt zu unternehmen!»
«Will ich», antwortete sie. «Aber zuerst, mein lieber Freund, habe ich dir eine Frage zu stellen! Warum hast du mir nie erzählt, daß meine Mutter nicht tot, sondern sogar sehr lebendig ist?»
Er zerdrückte eben eine Walnuß zwischen seinen langen Fingern, schaute aber daraufhin auf und sagte: «Also hast du das herausgefunden, ja?»
«Das», sagte Venetia streng, «ist keine Antwort!»
Er zuckte die Achsel. «Es stand mir nicht zu, dir zu erzählen, was du offenkundig nicht erfahren solltest. Wer hat es dir erzählt? Deine Tante? Sehr vernünftig von ihr! Ich hoffte, sie würde es tun, denn du hättest es eventuell auf eine Art entdecken können, die dich entsetzt hätte.»
«Nun, genauso habe ich es entdeckt! Es war sicherlich eine Überraschung für mich – aber ich hatte es schon fast erraten, bevor die arme Tante Hendred gezwungen war, mir das Ganze zu erzählen. Ich habe sie im Theater gesehen, vorgestern.»
«Teufel!» rief er stirnrunzelnd aus. «Ich habe gemeint, sie hätte sich für ständig in Paris niedergelassen!»
«Hat sie auch», antwortete Venetia und streckte die Hand nach der Nuß aus, die er eben geschält hatte. «Danke! Sie mußte nach London kommen, um sich einen neuen Reitanzug machen zu lassen. Sie erzählte mir, daß kein Franzose Reitanzüge so gut machen kann wie ein englischer Schneider.»
Er sah plötzlich verblüfft aus. «Sie erzählte dir? Du hast mit ihr gesprochen?»
«Mit ihr gesprochen? Aber natürlich! Ich habe sie im Pulteney besucht, und ich kann dir nicht beschreiben, wie lieb sie war – und Sir Lambert dazu, der ein goldiger Mensch ist, muß ich wirklich sagen! Stell dir nur vor! Er ging den ganzen Weg bis zum Ende der Bond Street mit mir, und als wäre das noch nicht genug, kaufte er mir diese entzückende Brosche! War das nicht rührend von ihm? Er erzählte mir, er wünschte, ich wäre seine Tochter, und ...»
«Das glaube ich!» unterbrach sie Damerel wütend.
«– und das wünsche ich mir auch», fuhr Venetia heiter fort, «denn meinen eigenen Vater hatte ich nicht halb so gern!»
«Willst du mir etwa erzählen», fragte Damerel, «daß deine Tante nicht mehr Verstand hatte, als dir etwas zu erlauben, das, wie jeder außer einem Grünschnabel weiß, genügt, jegliches Klatschmaul in der Stadt in Bewegung zu setzen? O mein Gott!»
«Du mußt meine Tante wirklich kennenlernen», sagte Venetia. «Ich bin überzeugt, ihr würdet euch wunderbar vertragen, denn ich sehe, du hast genau dieselben Ansichten wie sie! Weißt du, es war mir immer ziemlich rätselhaft – das heißt, bevor ich von der Existenz meiner Mutter wußte –, warum Tante mir ewig erzählte, ich müßte äußerst korrekt und steif sein, wegen meiner <Situation>. Und obwohl sie darauf aus war, einen respektablen Gatten für mich zu finden, konnte ich doch sehen, daß sie dachte, es würde eine sehr schwere Aufgabe sein. Es schien mir etwas seltsam, denn ich bin kein Abschreckungsmittel und keinesfalls arm wie eine Kirchenmaus. Natürlich habe ich gemerkt, wie es eigentlich war, als ich die Wahrheit über Mama erfuhr. Ich muß gestehen, Damerel, ich wünschte, du wärst aufrichtig zu mir gewesen – aber ich vermute, du hattest das Gefühl, daß du das nicht konntest.» Sie fügte nachdenklich hinzu: «Nein, wirklich, das konntest du auch nicht! Es war eine höchst peinliche Klemme für dich!»
«Was, zum Teufel, willst du damit sagen?» fuhr sie Damerel an, in einer derart unheilverkündenden Stimme, daß jedes andere Frauenzimmer erbebt wäre.
Venetia zeigte ihm ein Gesicht süßer Unschuld. «Nun, nur, daß ich wirklich verstehe, wie sehr schwierig – ja, ganz unmöglich es für dich war, mir zu erklären, daß es für einen Damerel einfach nie und nimmer ginge, eine Tochter der Lady Steeple zu heiraten. Ich glaube jetzt, daß du es wohl versucht hast, ein- oder zweimal, mir einen Wink zu geben, aber ...»
«Versucht, es zu – wie wagst du nur?» sagte er wutentbrannt. «Wie wagst du nur, Venetia?! Wenn du dir einbildest, ich habe dich gehen lassen, weil ich dich nicht für standesgemäß hielt ...»
«Aber das muß doch der Grund gewesen sein!» wandte sie ein. «Ich weiß, du hast mich beschwindelt, damit ich glaube, daß du es seist, der für mich nicht standesgemäß ist, und das war sehr lieb von dir und sah dir so sehr ähnlich, mein lieber Freund – war aber vollkommen albern, da ich jetzt weiß, was für eine entsetzlich unerwünschte Partie ich bin!»
Er erhob sich halb von seinem Stuhl. Sie dachte schon, er würde sie packen und wahrscheinlich ordentlich schütteln, und wartete hoffnungsvoll. Aber er sank wieder in seinen Stuhl zurück, und obwohl er sie weiterhin unheilverkündend beäugte, sah sie, daß die Wut aus seinen Augen verschwunden war. «Das glaubst du keineswegs, mein Mädchen», sagte er trocken. «Ob es dir deine Tante – und es klingt mir ganz danach, daß sie entschieden ein Kamel ist! – in den Kopf gesetzt hat, die Scheidung deiner Eltern hätte dich zu einer unerwünschten Partie gemacht, oder ob es ein Einfall ist, den du dir mir zuliebe ausgeheckt hast, weiß ich nicht, aber jetzt darfst du mir einmal zuhören – und mir glauben, daß ich die Wahrheit sage! Es gibt nicht einen Mann, der es wert wäre, überhaupt ein Mann genannt zu werden, der sich, sobald er dich kennenlernt und liebt, auch nur einen Pfifferling um diesen schwülstigen Unsinn kümmern würde! Frage deinen Onkel, wenn du glaubst, daß ich dich anlüge. Er wird dir dasselbe sagen. Guter Gott, bildest du dir ein, daß sich noch nie vorher ein Ehepaar hat scheiden lassen? jeder, der dich einen solchen Unsinn reden hört, würde meinen, deine Mutter hätte sich der Musselingesellschaft angeschlossen, statt daß sie seit fünfzehn Jahren mit Steeple verheiratet ist!»
«Nun, ich muß sagen, daß mir das einen Stein von der Seele nimmt», sagte Venetia dankbar. «Und das bringt mich zu dem Grund, weswegen ich heimgekommen bin. Ich wußte doch, daß du imstande bist, mir einen Rat zu geben! Natürlich ist Aubrey die Hauptperson, die ich fragen muß, aber er ist nicht alt genug, mich zu beraten. Damerel, ich habe einen Antrag bekommen und bin nicht ganz sicher, ob ich ihn annehmen soll oder nicht. Er ist nicht ganz das, was ich mir wünsche, aber ich glaube, ich würde ihn doch dem Alleinsein vorziehen – mein Leben zu verschwenden, hast du das genannt –, und vielleicht hast du recht gehabt.»
Er sagte hart und ziemlich hastig: «Wenn dieser Antrag von Yardley kommt, kann ich dir keinen Rat geben! Ich hätte gesagt – der letzte in der Welt, der – aber du weißt am besten, was dir paßt.»
«Von Edward? Heiliger Himmel, nein! Wie kannst du es nur für möglich halten, daß ich bei einem Antrag von ihm einen Rat brauchen würde?»
«Ich habe nicht – das heißt, ich weiß, daß er dir nach London nachgereist ist. Er ist hergekommen, um es Aubrey zu erzählen. Ich selbst habe ihn nicht gesehen.»
«Er ist mir wirklich nach London nachgefahren», stimmte ihm Venetia zu. Sie seufzte kummervoll. «Er hat sich jedoch in meinem Charakter geirrt, und ich vermute, er ist gerade auf seinem Weg zurück nach Netherfold. Er ist sehr deprimierend – aber er hat mich so gut wie sitzenlassen! Vermutlich wird er um Clara Denny anhalten.»
«Ist das ein weiterer Versuch, mich zu beschwindeln?»
«Nein, nein! Weißt du, ihm ist eine Scheidung nicht egal, und obwohl er jahrelang gegen sein besseres Wissen gekämpft hat, ist er seiner törichten Verblendung unterlegen, weil er glaubte, daß hinter all meiner Leichtfertigkeit doch Takt verborgen liege ...»
«Venetia!! Selbst ein Yardley könnte unmöglich so reden!» protestierte er, und es zuckte um seine Lippen.
Sie mußte einfach herauslachen. «Aber er hat's, versichere ich dir! Er war stark der Meinung, daß ich meine Mama schneiden sollte, weißt du, und – und er hat eine höchst unerklärliche Abneigung gegen Sir Lambert gefaßt!»
«So, hat er das, wirklich?» sagte Damerel und betrachtete sie mit grimmigem Wohlwollen. «Lambert ist ein unerträglicher Geck, aber was dich betrifft, schöne Qual ...!»
«Nun, ich sehe nichts, was ich an Sir Lambert auszusetzen hätte!» erklärte sie. «Warte nur, bis du erfährst, wie schrecklich lieb er ist! Weißt du, der Antrag, von dem ich sprach, kam von Mama!»
«Was?!»
«Kein Wunder, daß du erstaunt bist – ich war es auch! Aber auch so schrecklich gerührt! Denke nur, Damerel! Sie lädt mich ein, mit ihnen beiden nach Paris zurückzufahren und bei ihnen zu leben, solange ich mag – und mit Sir Lamberts vollster Billigung! Ich gestehe, es ist doch eine große Versuchung für mich. Weißt du, ich wollte doch immer schon so schrecklich gern reisen, und Mama spricht davon, im Frühling nach Italien zu fahren. Italien! Ich glaube nicht, daß ich widerstehen kann!»
«Venetia, du trägst viel zu dick auf!» unterbrach er sie unhöflich. «Ich kenne deine Mama! Die würde dich ebensowenig einladen, ständig in ihrem Palais zu leben, wie sie sich die Augenbrauen abrasieren würde!»
Auf diese Ungläubigkeit durchaus vorbereitet, sagte Venetia bekümmert: «O nein, Damerel! Glaubst du, sie hat es doch nicht wirklich ernst gemeint?»
«Ich glaube, sie hat nicht einmal im Traum daran gedacht, dich zu einem Besuch bei sich einzuladen, mein Liebstes!»
«Aber sie hat's!» versicherte ihm Venetia. «Es war, weil ich ihr von meinem Plan erzählte, Aubrey das Haus zu führen. Sie war genauso entsetzt wie du und sagte, ich könnte mich ebensogut gleich lebendig begraben lassen. Sie sagte, es ginge zwar nicht, daß ich mit ihr in England lebte, aber die Leute im Ausland seien nicht so engherzig, so daß – aber lies ihren Brief selbst!»
Er schaute wie vom Donner gerührt drein, als sie den Brief aus ihrem Retikül zog und ihn entfaltete. Er warf ihr einen mißtrauischen Blick zu und senkte ihn dann auf Lady Steeples bezaubernd geschriebenes Sendschreiben. Er las es mit tiefem Stirnrunzeln zweimal, bevor er Venetia wieder ansah. Er war zwar immer noch mißtrauisch, aber sie merkte, daß er doch erschüttert war. «Venetia, wie, zum Teufel, hast du sie dazu überredet, das hier zu schreiben?» fragte er.
«Nun, du siehst doch, was sie dazu überredet hat, es zu schreiben!»
«Das ist genau das, was ich nicht sehe! Aurelia Steeple aufgeregt, weil du ihr erzählt hast – oh, um Himmels willen, Venetia, verlange nicht von mir, daß ich diesen faulen Witz schlucke! Ich weiß nicht, was du angestellt hast, aber wenn das kein Schwindel ist, hoffe ich, du weißt, daß du dich auf keinen Fall dieser ménage anschließen darfst!»
Sie sagte entschuldigend: «Nein, ich fürchte, das weiß ich nicht. Ich sehe ein, es wäre nicht klug, es zu tun, wenn es mein Ehrgeiz wäre, eines dieser feinen Frauenzimmer zu werden, von denen meine Tante behauptet, sie stünden in höchstem Ansehen – aber da dies nicht der Fall ist ...»
«Jetzt hör aber auf, wie der Grünschnabel zu reden, der du bist!» sagte er streng. «Du weißt nichts von der Welt der Steeples! Nun, ich aber kenne sie – kein Mensch besser als ich –, und wenn ich glaubte, daß dies etwas anderes als ein Humb ...»
Er hob den Finger, und auch sie hörte das Geräusch: eine Kutsche näherte sich dem Haus. «Aubrey!» sagte Damerel. Seine Augen kehrten zu ihrem Gesicht zurück. «Welchen Grund beabsichtigst du ihm für deine Anwesenheit hier zu geben? Du wirst ihn doch nicht mit dem hier ergötzen wollen!» Er reichte ihr Lady Steeples Brief zurück, während er sprach.
Sie wünschte Aubrey hundert Meilen weg und hätte vor Ärger schreien können, antwortete jedoch mit geziemender Ruhe: «Aber, mein lieber Freund, ich könnte doch einen solchen Schritt nicht unternehmen, ohne zuerst zu erfahren, was seine Gefühle sind!»
«Wenn das alles ist ...»
Sie lächelte. «Seine Gefühle, Damerel, habe ich gesagt, nicht sei ne Meinung! Soweit ich ihn kenne, könnte er durchaus lieber bei den Appersetts wohnen, als zu mir nach London ziehen.» Sie lächelte unsicher. «Ich glaube, ich bin auch ihm nicht sehr nötig ...», sagte sie.
Jetzt war er aufgesprungen, stand vor ihr, packte ihre Handgelenke und riß sie fast von ihrem Stuhl hoch. «Venetia, ich würde mein Leben dafür geben, dir Schmerz zu ersparen – Enttäuschung –, alles das, was du nicht erkennst – wovon du keine Ahnung hast ...! Mein Leben! Was für leeres, schwülstiges Zeug, so etwas zu sagen! Ich hätte kaum auf etwas Wertloseres verfallen können, dir anzubieten!» sagte er bitter.
In der Halle hörte man ein Murmeln, Schritte näherten sich. «Verdammter Aubrey!» sagte Damerel leise und ließ Venetias Handgelenke los.
Aber es war nicht Aubrey. Imber riß die Tür weit auf und verkündete mit einer Stimme wie beim Jüngsten Gericht: «Mr. Hendred, Mylord!»