15
Nidd, der Damerel fast ebenso viele Jahre gedient hatte wie Marston, nahm Venetias Stute in Empfang, ohne zu verraten, daß er irgend etwas Bemerkenswertes an dem Besuch einer unbegleiteten Dame im Hause eines Junggesellen sah. Anders war das bei Imber, der sie nur widerstrebend ins Haus einließ und alle Anzeichen äußerster Mißbilligung zeigte – gerade nur, daß er sie nicht aussprach. Er führte Venetia in einen der Salons und ging, um Damerel ihre Ankunft zu melden.
Sie blieb bei einem der Fenster stehen, aber es dauerte eine Weile, bis Damerel kam. Der Salon sah unwirtlich aus, im Kamin brannte kein Feuer, und die Möbel standen steif ausgerichtet da. Sie hatten sich nie hier aufgehalten, solange Aubrey in der Priory weilte, sondern immer nur in der Bibliothek, und das Zimmer sah immer noch so aus wie eben ein Raum, der nie benutzt wird. Venetia nahm an, Imber habe sie hereingeführt, entweder um seine Mißbilligung zu unterstreichen, oder weil Damerel seine Angelegenheiten mit seinem Kommissionär noch nicht erledigt hatte. Der Raum war unfreundlich und ziemlich finster; aber vielleicht kam das daher, weil sich am Himmel dicke Wolken zusammenzogen und es zu nieseln begonnen hatte.
Sie begann sich schon zu fragen, ob sie Damerel verfehlt hatte, der vielleicht über die Straße nach Undershaw geritten war, statt den kürzeren Weg querfeldein zu nehmen, als sich die Tür öffnete, er eintrat und fragte: «Was zum Donnerwetter hat denn Ihre Kaiserin wieder angestellt, daß sie Sie von daheim vertrieben hat, bewundernswerte Venetia?»
Er sprach leichthin, dennoch mit einer Spur Schroffheit in der Stimme, als sei ihr Besuch eine unwillkommene Störung. Sie drehte sich um, weil sie in seinem Gesicht lesen wollte, und sagte mit einem schwachen Lächeln: «Haben Sie sehr viel zu tun? Es klingt nicht danach, als freuten Sie sich, mich zu sehen!»
«Ich freue mich auch nicht, Sie zu sehen», antwortete er. «Sie wissen ja, daß Sie nicht hier sein sollten.»
«Das scheint Imber auch zu denken – aber das ist mir gleichgültig.» Sie ging langsam zu dem Tisch in der Mitte des Zimmers, blieb dort stehen und zog die Handschuhe aus. «Ich hielt es für besser, zu Ihnen zu kommen, als zu warten, bis Sie zu mir kämen. Es hätte leicht sein können, daß man uns nicht allein gelassen hätte, und ich muß Sie um Rat fragen. Es ist etwas völlig Unvorhergesehenes geschehen, und ich brauche Ihren Rat, mein lieber Freund. Mein Onkel ist angekommen.»
«Ihr Onkel?» wiederholte er.
«Mein Onkel Hendred – mein angeheirateter Onkel, sollte ich eigentlich sagen. Damerel, er will mich nach London mitnehmen, und zwar sofort!»
«Aha», sagte er nach einem Augenblick des Schweigens. «Nun – so endet also eine bezaubernde Herbstidylle, nicht?»
«Glauben Sie, daß ich hergekommen sei, um Ihnen das zu sagen?» fragte sie.
Er schaute sie an, die Augen etwas schmal. «Wahrscheinlich nicht. Aber es ist wahr. Unerfreulich, gebe ich zu, aber trotzdem wahr.»
Sie hatte das Gefühl, als erstarre das Blut in ihren Adern langsam zu Eis. Er hatte sich abrupt abgewandt und ging zum Fenster hinüber; sie folgte ihm mit den Augen, sagte aber nichts. Er sagte schroff: «Ja, es ist das Ende einer Idylle. Es war ein goldener Herbst, nicht? Aber noch eine Woche, und nicht ein Blatt wird mehr an den Bäumen hängen. Ihr Onkel hat seine Ankunft gut abgestimmt. Es ist nicht Ihre Meinung, nicht, meine Liebe? Aber sie wird es werden, glauben Sie mir.»
Sie sagte immer noch nichts, weil ihr nichts einfiel, das sie überhaupt hätte sagen können. Es fiel ihr sogar schwer, den Sinn dessen zu erfassen, was Damerel so Unglaubwürdiges gesagt hatte, oder die widersprechendsten Gedankenfetzen zu entwirren, die ihr im Kopf wirbelten. Es war wie in einem bösen Traum, in dem Leute, die man sehr gut kennt, sich auf einmal phantastisch benehmen, und man machtlos ist, irgendeinem schrecklichen Verhängnis zu entrinnen. Sie hob die Hand, um sich die Augen zu reiben, als hätte sie wirklich geträumt. In einer Stimme, die aus einem Albtraum zu kommen schien, weil sie so leise war, und man in Albträumen, wenn man zu schreien versucht, doch nie imstande ist, mehr als zu flüstern, sagte sie: «Warum werde ich das einmal meinen?»
Er zuckte die Achsel. «Ich könnte es Ihnen sagen, nicht aber Sie überzeugen. Sie werden es selbst entdecken – wenn Sie weniger unerfahren sind, meine Liebe, und etwas mehr von der Welt wissen als das, was Sie nur gelesen haben.»
«Werden Sie das auch meinen?» fragte sie. Ein leichtes Rot stieg in ihre bleichen Wangen; sie fügte demütig hinzu: «Ich sollte Sie vielleicht nicht fragen, aber ich will es verstehen, und ich nehme an, ich bin zu dumm – wenn man mir die Dinge nicht erklärt.»
«Ich glaube, es wäre besser gewesen, wir hätten einander nie getroffen», antwortete er düster.
«Für Sie oder für mich?»
«Oh, für uns beide! Das Ende der Idylle steckte schon in ihrem Anfang – zumindest ich wußte das, wenn auch Sie vielleicht nicht. Und ich weiß auch, je hinreißender die Idylle ist, um so größer der Schmerz, wenn sie endet. Aber der Schmerz wird nicht andauern. In Wirklichkeit bricht kein Herz, wissen Sie. Nein, natürlich wissen Sie das nicht, aber nehmen Sie es als wahr hin, denn dafür weiß ich es!»
«Aber verwundet kann es werden», sagte sie schlicht.
«Sehr oft – aber immer wieder heilen, wie es das meine bewiesen hat!»
Sie runzelte die Brauen. «Warum sagen Sie das? Es ist, als wollten Sie mir absichtlich weh tun, aber das kann doch nicht stimmen. Ich spüre einfach, daß das nicht sein kann!»
«Nein, ich will Ihnen nicht absichtlich weh tun. Ich habe Ihnen weh tun wollen. Das Teuflische daran, mein liebes Entzücken, war, daß du zu süß, zu anbetungswürdig bist, und was der leichteste und heiterste Flirt werden sollte, verwandelte sich zu etwas Ernsterem, als ich es vorhatte – oder vorhersah – oder sogar wünschte! Wir haben uns erlaubt, uns einfach hinreißen zu lassen, Venetia. Hattest du nie das Gefühl, daß du in einem Traum lebtest?»
«Vorher nicht. Aber jetzt. Das jetzt erscheint mir unwirklich.»
«Du bist zu romantisch! Wir haben in Arkadien geweilt, mein grünes Mädchen – die übrige Welt ist nicht so golden wie dieser stille Winkel hier. Nur in der Phantasie verschwören sich alle Umstände so, daß sich zwei Menschen unvermeidlich ineinander verlieben. Wir hätten kaum isolierter sein können, wenn wir miteinander auf eine einsame Insel gespült worden wären. Nichts geschah, was unsere Idylle hätte stören können, niemand drängte sich uns auf – einen magischen Augenblick lang vergaßen wir – oder zumindest vergaß ich – jeden Gedanken an die äußere Welt – sogar, daß es andere Dinge im realen Leben gibt, als ganz in Liebe versunken zu sein!»
«Aber es war real, weil es doch geschehen ist, Damerel.»
«Ja, geschehen ist es. Laß es uns beide so hinnehmen, daß es ein bezauberndes Intermezzo war! Weißt du, es konnte nie mehr als ein Intermezzo sein – wir mußten wieder auf die Erde zurückkehren – wir hätten einander sogar ein bißchen müde werden können. Das ist es, warum ich sage, daß die Ankunft deines Onkels gut abgestimmt ist – <sich trennen, welch ein süßer Kummer> –, aber plötzlich nicht mehr lieben – o nein, was für ein graues, bitteres Ende unserer Herbstidylle wäre das geworden! Wir müssen lächelnd zurückblicken können, mein liebes Entzücken, nicht erschauernd!»
«Sag mir eines!» bat sie. «Wenn du von Gedanken an die äußere Welt sprichst – denkst du da an dein vergangenes Leben?»
«Aber ja, natürlich – aber auch an anderes! Ich glaube nicht, daß ich ein guter Gatte wäre, meine Liebe, und etwas anderes – ist unmöglich. Um offen zu dir zu sein: die Vorsehung in Aubreys Gestalt kam gestern gerade zur rechten Zeit dazwischen, um uns beide vor einer Katastrophe zu bewahren.»
Sie hob die Augen zu seinem Gesicht. «Du hast mir gestern gesagt, daß du mich liebst – bis an den Rand des Wahnsinns, sagtest du. War es das, was du damit meintest, daß es nicht wirklich war und daher nicht dauern konnte?»
«Ja, das ist es, was ich meinte», sagte er brüsk. Er kam zu ihr zurück und packte ihre Handgelenke. «Ich habe dir auch gesagt, daß wir darüber sprechen würden, wenn wir kühler wären – nun, mein Geliebtes, die Nacht bringt Rat! Und der Tag hat den Onkel gebracht – und dabei belassen wir es denn, und sagen nicht mehr als: <Da nichts hilft, komm, laß uns küssen, und dann fort>!»
Stumm hob sie ihm ihr Gesicht entgegen. Er küßte sie, schnell, derb, und stieß sie fast von sich. «Da! Jetzt geh, bevor ich deine Unschuld noch schlimmer ausnütze!» Er ging zur Tür, riß sie auf und brüllte Imber zu, Nidd Bescheid zu geben, er solle Miss Lanyons Stute vorführen. Als er sich umdrehte, sah sie das häßliche Hohnlächeln auf seinem Gesicht und schaute unwillkürlich weg. Er lachte kurz und spöttisch auf und sagte: «Schau nicht so traurig drein, mein Lieb! Ich versichere dir, es wird nicht lange dauern, bevor du Gott dankst, daß du den Klauen des Teufels in Person entronnen bist. Du wirst kein zweitesmal hineingeraten, darum hasse mich nicht – sei dankbar, daß ich dir deine wunderschönen Augen ein bißchen geöffnet habe! Sie sind so wunderschön – <und um die Augenlider soviel Süße>! Du wirst Aufsehen erregen in London – die jungen Salonlöwen werden sagen, du seist wie ein – ein Diamant reinsten Wassers –, und das bist du auch, meine Bezaubernde!»
Wieder überfiel sie das Gefühl, daß sie sich durch das Dickicht eines Albtraumes durchkämpfen mußte. Es gab einen Ausweg, schrie ihr das Herz zu, und wenn sie den finden konnte, dann würde sie auch Damerel finden, ihren lieben Freund. Aber die Zeit verstrich, im nächsten Augenblick würde es zu spät sein; und die Dringlichkeit wirkte nicht als Ansporn, sondern wie eine kriechende Lähmung, die den Geist hemmte und die Zunge schwer werden ließ und die Verzweiflung mit einer stumpfen Gedankenleere verhüllte.
Plötzlich sprach Damerel wieder, mit seiner üblichen Stimme, wie ihr schien, und sagte abrupt: «Fährt Aubrey mit dir?»
Sie schaute ihn blicklos an und sagte, als versuchte sie sich eines langvergessenen Namens zu erinnern: «Aubrey ...»
«Nach London!»
«Nach London», wiederholte sie vage. Sie strich sich mit der Hand über die Augen. «Ja, natürlich – wie dumm! Ich hatte vergessen ... Ich weiß nicht. Er ist weggefahren. Er ist auf die Jagd gefahren, bevor mein Onkel ankam.»
«Ich verstehe. Lädt ihn dein Onkel mit ein?»
«Ja. Aber er wird nicht mitkommen – ich glaube wenigstens nicht, daß er mitkommen wird.»
«Möchtest du es?»
Sie runzelte die Stirn und versuchte sich zu konzentrieren. Im Gedanken an Aubrey gewann sie ihre Fassung wieder. Sie stellte sich den Bruder in einem Haus vor, wie es das ihres Onkels vermutlich war, gepeinigt von der gutgemeinten Besorgnis ihrer Tante, gelangweilt von ihren Versuchen, ihn zu unterhalten, verächtlich allem gegenüber, was die Tante für höchst wichtig hielt. Venetia sagte daher sofort entschieden: «Nein. Nicht zum Cavendish Square. Das ginge nicht für ihn. Später, wenn ich meine Entscheidungen getroffen habe – ich habe es Ihnen ja erzählt, nicht? Ich muß ein Haus mieten – jemanden, um den Anstand zu wahren –, ein Heim für mich und Aubrey schaffen. Denn es ist doch so stupide, zu sagen, wie es Edward tut, daß Aubrey das gefallen müßte, was er verabscheut, nur weil es andere Jungen tun. Aubrey ist er selbst, und niemand kann ihn ändern, wozu also sagen, er solle etwas mögen, wenn er nicht will?»
«Das hat überhaupt keinen Zweck. Lassen Sie ihn zu mir kommen! Sagen Sie ihm, er darf seine Hunde und Pferde mitbringen – was immer er will! Ich verpflichte mich persönlich, darauf zu schauen, daß ihm nichts zustößt, und ihn seinem Pauker in guter Verfassung zu übergeben. Wenn er hier bei mir wäre, würden Sie sich nicht zu Tode um ihn ängstigen.»
«Nein.» Ihr Lächeln ging kläglich schief. «O nein, wie könnte ich? Aber ...»
«Das genügt!» unterbrach er sie schroff. «Sie werden mir dadurch zu nichts verpflichtet sein. Ich werde froh sein, wenn ich ihn zu meiner Gesellschaft hier habe.»
«Aber – Sie bleiben hier?»
«Ja, ich werde hierbleiben. Kommen Sie. Nidd sollte eigentlich jetzt schon für Sie gesattelt haben.»
Sie erinnerte sich, daß er seinen Kommissionär wegen geschäftlicher Angelegenheiten geholt hatte, die, wie er sagte, wichtig waren; und als sie sich fragte, ob er entdeckt habe, daß seine Verhältnisse ärger lagen, als er vermutet hatte, sagte sie schüchtern: «Ich glaube, das hatten Sie doch nie vor, und daher fürchte ich, daß vielleicht die Angelegenheit, in die Sie verwickelt waren, nicht gut ausgefallen ist?»
Das Hohnlächeln, mit dem er sich über sich selbst lustig machte, kehrte zurück; er lachte kurz auf und antwortete: «Zerbrechen Sie sich nicht darüber den Kopf, denn es ist völlig unwichtig!»
Er hielt ihr die Tür mit einer Andeutung von Ungeduld offen. Ihr fiel die zweite Zeile des Sonetts, das er zitiert hatte, ein: <Nein, es ist Schluß – und mehr bekommst du nicht von mir.> Er hatte es nicht ausgesprochen. Dessen bedurfte es nicht mehr – ein goldener Herbst hatte in Sturm und Nieselregen geendet, eine schillernde Seifenblase war zerplatzt, und ihr blieb nichts als Haltung, um sich manierlich zu benehmen. Sie nahm Handschuhe und Reitgerte, ging aus dem Salon und über die steingepflasterte Halle zur offenen Eingangstür. Imber stand daneben, und sie konnte Nidd, der den Zügel ihrer Stute hielt, draußen stehen sehen. Sie würde Damerel Lebewohl sagen, ihrem Freund und ihrem Liebsten, vor den Augen dieser beiden, und sie hatte das Gefühl, sie würde nicht imstande sein, überhaupt etwas zu sagen, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie trat ins Freie, wandte sich Damerel zu und tat einen schmerzenden Atemzug.
Er schaute nicht sie an, sondern eine schwarze Wolke, die im Westen hing. «Zum Teufel!» rief er aus. «Sie werden Undershaw nicht erreichen, bevor das dort auf Sie herunterkommt. Nidd, besteht eine Chance, daß es abzieht?»
Nidd schüttelte den Kopf. «Wird herunterkommen, Mylord. Es tröpfelt schon.»
Damerel schaute auf Venetia herunter, jetzt nicht mit Hohn, sondern besorgt, mit einem traurigen Lächeln. Er sagte so leise, daß nur sie es hörte: «Du mußt unverzüglich fort, mein Lieb. Ich kann dich nicht in meiner Kutsche heimschicken – das geht nicht! Wenn dieses Weibsbild wüßte ...!»
«Es ist unwichtig.» Sie streckte ihm die Hand hin. Sie war sehr blaß, aber ein Aufflackern ihres süßen Lächelns machte ihre Augen warm. «Leben Sie wohl – mein lieber Freund!»
Er antwortete nicht, sondern küßte ihr nur die Hand, hielt sie fest und führte sie sofort zu ihrer Stute. Er hob sie in den Sattel, wie er es so viele Male getan hatte, wenn sie Aubrey besuchen gekommen war, aber heute gab es kein Verweilen, um einen Plan für das Morgen zu machen. Er sagte nur: «Nehmen Sie die Abkürzung und bummeln Sie nicht! Ich hoffe nur, Sie werden nicht bis auf die Haut naß! Fort mit Ihnen, mein Kind!»
Er trat zurück, während er sprach, und die Stute, die erst nicht angetrieben werden mußte, um in ihren eigenen Stall zu kommen, setzte sich in Bewegung. Damerel hob eine Hand zum Abschied, aber Venetia schaute ihn nicht mehr an, so ließ er sie fallen und wandte sich kurz auf dem Absatz um. Sein Blick fiel auf Imber; er sagte kurz angebunden und hart: «Miss Lanyon fährt nach London. Es ist wahrscheinlich, daß Mr. Aubrey morgen herkommt, um einige Wochen hierzubleiben. Sagen Sie Mrs. Imber, sie solle sein Zimmer herrichten!»
Er ging in die Bibliothek, und die Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Imber schaute, was sich wohl Nidd dabei dachte. Nicht, daß es wahrscheinlich war, daß er etwas sagen würde, weil er genauso verschlossen war wie Marston und mürrisch wie ein Klotz. Nidd war schon auf seinem Weg zu den Ställen zurück, daher gab es niemanden, mit dem man hätte klatschen können, als Mrs. Imber, und die steckte heute in einer schlechten Haut, weil ihr Teig nicht aufgegangen war, und sagte nur: «Mach mich ja nicht nervös!» und «So geh mir doch aus dem Weg!» Imber wünschte, er hätte in Undershaw dabei sein können, was sie dort darüber denken würden, wenn Miss Venetia mit einem Ausdruck hereinkommen würde, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Die würden sich ja schön aufregen – und das wäre kein Wunder!
Aber es waren nur drei Leute in Undershaw, die Venetia bei ihrer Heimkehr sahen, und weder der Stalljunge noch das junge Stubenmädchen, das sie bediente, merkten mehr als ihren triefnassen Reitanzug und ihren ruinierten Hut, dessen gekräuselte Feder tropfnaß und schlaff neben dem regennassen Gesicht herunterhing. Venetia ging die Hintertreppe zu ihrem Zimmer hinauf. Als sie die Tür öffnete, sah sie das Mädchen und Nurse drin, und im Zimmer herrschte ein Durcheinander von Silberpapier und Koffern, Kleidern und Mänteln, die schon zum Packen auf dem Bett bereit lagen; die Tücher, in denen Venetias Pelze den Sommer über eingehüllt gewesen waren, lagen in einem Haufen auf dem Fußboden, die Luft im Zimmer war erfüllt von dem Geruch der Holzäpfel, die die Motten abhielten.
Nurse brach sofort in zorniges Geschimpfe aus, während Venetia auf der Schwelle stand und ihre Augen mit ausdruckslosem Blick in dem unordentlichen Zimmer herumwanderten. Dann ging Nurse ganz plötzlich auf Jenny los und trieb sie aus dem Zimmer mit dem Befehl, sofort eine Kanne heißen Wassers zu holen, statt wie ein Tölpel herumzustehen, wenn doch jeder Mensch sehen konnte, daß Miss Venetia bis auf die Haut naß war und sich wahrscheinlich den Tod holen würde. Sie zog Venetia zum Kamin, immer noch scheltend, aber jetzt anders, genauso wie sie vor Jahren ein kleines Mädchen gescholten hatte, das über irgendeine Katastrophe entsetzt gewesen war, bis es zu weinen aufhörte – das kleine Mädchen mußte doch wissen, es könne ihm nichts Schreckliches passieren, wenn Nurse da war. Jetzt wußte Venetia, daß Nurse machtlos war, ihr zu helfen, wurde aber trotzdem immer noch ein bißchen getröstet. Nurse streifte ihr rasch den nassen Reitanzug ab, warf ihr einen Schlafrock um und setzte sie neben den Kamin, während sie geschäftig herumhantierte, zuerst wegzottelte, um ein Stärkungsmittel zu mischen, das Venetia auf ihr Geheiß trinken mußte, ihr dann die kalten Füße frottierte, das Zimmer in Ordnung brachte, ein Abendkleid herauslegte und die ganze Zeit redete, redete, aber nie auf Antwort wartete und Venetia nur aus den Winkeln ihrer scharfen kühlen Augen hervor betrachtete. Miss Venetia müsse eine Weile ganz still sitzen – es war noch eine Menge Zeit, bevor sie sich wieder anziehen mußte! Und nicht spät aufbleiben, heute, wohlgemerkt, bei dem vielen, was zu tun sei, und da Mr. Hendred wünschte, früh loszufahren! Und auch nicht nötig, sich wegen Undershaw zu sorgen, was sie übrigens ohnehin nicht lange tun würde, bei all den aufregenden Sachen, die sie in London tun würde, und ihrer Tante, die so lieb war, und den neuen «Gesichtern», und nur der Himmel wisse, wieviel Vergnügungen auf sie warteten! Zuerst würde alles fremd erscheinen, und natürlich würde sie Heimweh haben und alle die Leute vermissen, die sie kannte, aber sie solle nur Nurse vertrauen und ja nicht Trübsal blasen, weil es ihr bald besser gehen würde, keine Sorge!
Venetia, die verstand, versuchte ihr zuzulächeln und hielt einen Augenblick dankbar ihre Hand fest.
«Da, mein Püppchen! Na, na, mein Täubchen!» gurrte Nurse und strich ihr über die verwirrten Locken. «Nicht weinen, mein Hübsches, nicht weinen!»
Aber es war Nurse, die weinte, nicht Venetia; und als Nurse sah, wie ruhig sie war, ging sie gleich darauf weg und hoffte, Venetia würde für eine Weile einschlafen, müde, wie sie war.
Als Nurse zurückkam, um ihr beim Ankleiden zum Dinner zu helfen – denn sie ließ nicht zu, daß Jenny heute abend Venetia bediente –, dachte sie, Venetia müsse doch ein Nickerchen gemacht haben, denn in ihren Wangen war etwas Farbe, und sie schien wieder ein bißchen die alte zu sein und imstande, zu entscheiden, was für London eingepackt werden und was Nurse einkampfern und für sie in Undershaw aufbewahren sollte. Sie hatte ein Verzeichnis der Leute angelegt, die sie noch aufsuchen mußte, bevor sie abreiste, und der Dinge, um die sie sich zu kümmern hatte. Und Nurse ging sehr munter auf alles ein und dachte bei sich: Alles recht, was sie nur ablenkt, und je weniger man darüber spricht, um so schneller kommt's in Ordnung.
Sie hatte eben Venetias Kleid zugenestelt, als es an die Tür klopfte und Aubreys Stimme Einlaß begehrte. Venetia rief ihm zu, er möge nur hereinkommen, aber Nurse spürte, wie sie unter ihren Händen starr wurde, als sie ihr ein Gazetuch über die Schultern legte, und sagte grob, als er hereinkam: «Also kommen Sie nur ja jetzt nicht Miss Venetia plagen, Master Aubrey, denn sie ist müde und hat an genug zu denken, ohne daß Sie ihr auch noch etwas aufzulösen geben!»
«Ich will mit dir sprechen, bevor du hinuntergehst», sagte er, ohne auf Nurse zu achten.
Venetias Mut sank, denn sie sah an seinem Ausdruck, daß er schwierig werden würde, sagte aber: «Ja, Liebster, natürlich! Glück gehabt bei der Jagd? Hat dich der Regen erwischt? Mich ja! Danke, Nurse! Es ist in Ordnung – niemand frisiert mich je so gut wie du! Oh, Aubrey, in meinem Kopf geht's drunter und drüber! Ich bin ganz verrückt und kann kaum glauben, daß es wahr ist, und ich endlich wirklich nach London fahre!»
Sie setzte sich vor ihren Toilettentisch, damit sie nicht gezwungen war, ihn anzusehen, und begann aus ihrer Schmuckschatulle die Stücke auszusuchen, die sie tragen wollte. Als Nurse die Tür hinter sich schloß, sagte er: «Du willst also fahren?»
«Ja – wie kannst du nur fragen? Es ist genau das, was mir am besten paßt, und dir auch.»
«Mir wird es nicht passen, bei Tante Hendred zu wohnen, wenn du dir das vielleicht einbildest.»
«Nein, das nicht, obwohl – hast du den Onkel gesprochen?»
«O ja, ich habe ihn gesprochen! Ich habe ihm gesagt, daß ich nicht mitfahren werde, falls du es nicht wünschst.»
«Aubrey, du warst doch nicht unhöflich?» rief sie aus.
«Nein, nein!» sagte er ungeduldig. «Ich sagte natürlich alles so, wie es sich schickt. Ich sagte ihm, da Appersett fort war, sei ich im Studium zurückgeblieben und müsse jetzt dazuschauen. Er verstand das. Jedenfalls war es ihm gleichgültig. Ich weiß, daß es meiner Tante lieber ist, wenn ich nicht komme. Das aber ist unwichtig! Aber er sagte, du hättest ihm von deinem Plan gesagt, ein eigenes Haus zu führen – und wünschte, daß ich ihm verspreche, dich nicht darin zu ermutigen, weil das nicht ginge!»
«Mein Lieber, ich hoffe, du hast das nicht getan! Das ist doch purer Unsinn! Deshalb bin ich doch so froh, daß mir diese Chance über den Weg gelaufen ist. Ich habe entschieden, daß wir unmöglich in Undershaw bleiben können, solange Mrs. Scorrier hier ist, und wie kann ich ein Haus finden, das uns entspricht, wenn ich nicht nach London fahre? Gefällt dir der Plan nicht? Ich will dich nicht von Mr. Appersett wegzerren, falls du das nicht magst, aber wenn du nach Cambridge gehst, gibt es doch die Ferien und ...»
«Das ist es nicht!» unterbrach er sie. «Es müssen doch auch in London Lehrer vorhanden sein, oder ich könnte auch allein studieren. Was ich nicht verstehe – Venetia, weiß Jasper von all dem?»
«Ja, ich bin hinübergeritten, um es ihm zu erzählen – weil ich dachte, daß dir sehr wahrscheinlich nichts daran liegt, zum Cavendish Square mitzufahren, und weil ich sicher sein wollte ...»
«Was hat er dazu gesagt?» fragte Aubrey stirnrunzelnd.
«Mußt du da erst fragen? Er sagte sofort, er wäre froh, dich bei sich zu haben, und das solange, wie du bleiben willst. Oh, ich soll dir ausrichten, daß du deine Pferde und die Hunde mitbringen sollst, und das erinnert mich daran, Liebster, wenn du das tust, dann mußt du auch Fingle mitnehmen. Und gib ihm zu verstehen, daß Nidd der erste Reitknecht in der Priory ist – du weißt ja, wie er ist!»
«Oh, um Himmels willen ...!» unterbrach er sie gereizt. «Ich werde mich schon um alles kümmern! Will denn Jasper, daß du fährst? Ich habe geglaubt – Venetia, wirst du ihn heiraten?»
«Heiliger Himmel, nein! Oh, du denkst an ein dummes Gespräch, das wir einmal miteinander hatten. Vergiß es, denn ich werde vermutlich nie heiraten. Einmal dachte ich, daß ich eventuell Edward heiraten würde; dann fragte ich mich, ob Damerel mir nicht vielleicht besser passen würde, und jetzt – nun, jetzt kann ich an nichts anderes mehr denken als an London. Es ist also klar, daß ich ein hoffnungsloser Fall bin!»
«Ich habe geglaubt, ihr seid verliebt – beide.»
«Es war nur ein Flirt, Dummes!»
Er stand da und schaute sie eine Minute lang an. «Na, ich glaub's aber immer noch. Ich muß sagen, ich merke ja vieles nicht, aber ich merke sehr gut, wenn du dich verstellst!»
«Aber, Aubrey, wirklich ...»
«Ach, halt den Mund!» fuhr er sie an und wurde zornig. «Wenn du es mir nicht sagen willst, schön – aber hör damit auf, zu schauspielern! Ich habe nicht vor, mich dreinzumischen – hasse Dreinmischerei!»
«Sei nicht bös auf mich! Bitte, bitte, nicht!» gelang es ihr zu sagen.
Er war zur Tür gehinkt, blieb aber stehen und schaute auf sie zurück. «Ich bin nicht bös. Nicht auf dich – zumindest glaube ich nicht –, schließlich mußt du wissen, was du tust. Nur habe ich gehofft, ihr hättet es schon zwischen euch ausgemacht. Ich habe Jasper gern. Na ja!» Er öffnete die Tür, ging und hatte sie schon, wie sie meinte, aus seinen Gedanken verbannt.