3
Venetia ging in Gedanken heim, die in ganz ungewohnter Unordnung waren. In dem Gefühl, daß sie nach einem so bewegenden Erlebnis eine Spanne ruhiger Überlegung nötig hatte, ging sie langsam und überdachte alle Umstände ihrer ersten Begegnung mit einem Wüstling. Aber nachdem sie bei der Unschicklichkeit von Damerels Verhalten verweilt und sich gesagt hatte, welch ein Glück sie gehabt hatte, daß sie einem schlimmeren Schicksal entronnen war, war sie ziemlich entsetzt, als sie entdeckte, daß es ihr, wie sich gezeigt hatte, an Empfindsamkeit mangelte. Ein zart besaitetes Frauenzimmer wäre – falls nicht alle Bücher logen – aus Entsetzen, von einem fremden Mann geküßt zu werden, in Ohnmacht gefallen, ihr Frieden wäre dahin, ihr Geist ganz und gar überwältigt. Keinesfalls hätte es ausgeharrt, um mit dem raubgierigen Angreifer einen Wortwechsel zu führen. Außerdem hätte ein solches Frauenzimmer nicht ein Gefühl der Erheiterung gehabt. Venetia aber hatte das sehr. Es hatte sie nicht gefreut, daß man mit ihr so rücksichtslos umgegangen war, aber einen verrückten Moment lang hatte sie einen Impuls gefühlt, zurückzuküssen, und durch den Nebel ihrer Wut hatte sie aufblitzen sehen, was Leben sein konnte. Natürlich nicht, daß sie etwa gewünscht hätte, von Fremden roh behandelt zu werden. Aber wenn Edward sie je so geküßt hätte! Der Gedanke entlockte ihr ein Lächeln, denn die Vision eines Edward, der aus seinem steifen Anstand leidenschaftlich hingerissen würde, war geradezu absurd unwahrscheinlich. Edward war ein sturer Meister seiner Leidenschaften; sie fragte sich – zum erstenmal –, ob diese überhaupt sehr stark waren, oder ob er in Wirklichkeit nicht nur kaltes Blut hatte.
Da die Frage von keinem besonderen Gewicht war, blieb sie unbeantwortet. Damerel beherrschte sofort die Szene, die er so rüde betreten hatte, und ob er nun der große Schurke oder bloß ein minderwertiger Charakter war – es nützte nichts, zu leugnen, daß er einem trübseligen Bühnenstück Leben eingehaucht hatte.
Venetia fiel es schwer, sich zu entschließen, was sie Aubrey sagen sollte. Wenn sie ihm ihre Begegnung mit Damerel verriet, würde er ihr vielleicht Fragen stellen, die zu beantworten ihr schwerfallen konnten; anderseits, wenn sie nichts sagte und es Damerel gelang, seine Bekanntschaft mit ihr fortzusetzen, würde er bestimmt auch mit Aubrey bekannt werden. Und obwohl er wohl kaum so schamlos sein würde, anzudeuten, auf welche Weise er mit ihr bekannt geworden war, konnte er sehr gut erwähnen, daß er sie schon einmal kennengelernt hatte; und Aubrey würde es be stimmt für seltsam von ihr halten, daß sie ihm nichts von einem so beispiellosen Ereignis erzählt hatte. Dann aber dachte sie, das Wahrscheinlichste sei, daß Damerel nicht wirklich beabsichtigte, in der Priory zu bleiben, und beschloß, den Zwischenfall für sich zu behalten.
Wie es sich in der Folge ergab, war sie darüber herzlich froh. Es war Aubrey, der als erster von Damerels Rückkehr erzählte. Da er aber recht wenig an seinen Nachbarn interessiert war, und schon gar nicht an einem Mann, den er noch nie gesehen hatte, tat er es ganz beiläufig und sagte, als er sich am selben Tag zum Mittagessen hinsetzte: «Oh, übrigens – ich hab im Dorf gehört, daß Damerel wieder zurück ist – aber ohne zyprische Schönheiten! Ja sogar ganz allein.»
«Was – es braut sich kein Skandal zusammen? Das wird die Kritischen aber nicht freuen! Was ihn wohl herführt?»
«Geschäfte, vermutlich», antwortete Aubrey gleichgültig. «Höchste Zeit, daß er sich um seine Angelegenheiten hier kümmert.»
Sie stimmte ihm zu, verfolgte aber das Thema nicht weiter. Es sollte jedoch wieder aufs Tapet kommen, wenn auch nicht durch Aubrey. Eine so aufregende Nachricht verbreitete sich natürlich rapid durch den ganzen Bezirk, und noch vor Einbruch der Nacht hatten sowohl Nurse wie Mrs. Gurnard, in ein vorübergehendes Bündnis gezwungen, Venetia eindringlich die Notwendigkeit vor Augen gestellt, sich mit größter Umsicht zu benehmen. Auf keinen Fall dürfte sie auch nur einen Schritt ohne Begleitung aus dem Garten tun. Es war nicht abzusehen, was alles ihr zustoßen konnte, wenn sie nicht tat, wie ihr geheißen wurde, sagte Nurse düster.
Venetia beruhigte die Ängste dieser beiden Wohlwollenden. Aber als Edward Yardley am nächsten Tag nach Undershaw kam, war sie noch nie so nahe daran gewesen, ihre Geduld mit ihm zu verlieren.
«Ich vermute ja sehr, daß er nicht mehr als einen oder zwei Tage in der Priory bleiben wird, aber solange er hier ist, wird es das beste für dich sein, deine einsamen Spaziergänge aufzugeben», sagte Edward mit einer ruhigen Anmaßung von Autorität, die sie derart aufreizend fand, daß sie eine vorschnelle scharfe Antwort herunterschlucken mußte. «Du weißt ja», sagte er mit einem schiefen Lächeln, «daß ich diese Gewohnheit an dir nie gemocht habe.»
Auch Oswald Denny besuchte sie, aber seine Besorgtheit äußerte sich in der dramatischen Versicherung, sollte Damerel es wagen, sie zu belästigen, würde er, Oswald, sehr wohl wissen, welche Antwort er «dem Burschen» erteilen würde. Die bedeutungsvolle Geste, mit der er seine Hand an einen imaginären Degengriff legte, war zuviel für Venetias Ernsthaftigkeit – sie brach in ein Gelächter aus, das ihn zu dem Ausruf bewog: «Du lachst, aber ich habe dort gelebt, wo das Leben nicht viel wert ist! Ich versichere dir, daß ich keine Hemmung hätte, diesen Kerl zu fordern, sollte er dir auch nur den kleinsten Affront bieten!»
Worauf Venetia durchaus nicht überrascht war, als zwei Tage später der Landauer Lady Denny in Undershaw absetzte. Aber es sickerte bald durch, daß es der Zweck des Besuches Ihrer Gnaden nicht so sehr war, ihre junge Freundin zu warnen, sich vor einer Begegnung mit einem notorischen Wüstling zu hüten, als vielmehr einen gemütlichen Klatsch über ihn zu genießen! Sie hatte doch tatsächlich mit ihm gesprochen! Ja, mehr als das: Sir John hatte ihn zufällig getroffen und die Gelegenheit zu dem Versuch ergriffen, ob er Damerels Unterstützung in irgendeiner Angelegenheit der Pfarre gewinnen konnte. Und da er ihn absolut zuvorkommend fand, hatte er ihn nach Ebbersley mitgebracht, um die Sache weiter mit ihm zu diskutieren, und hatte ihn schließlich eingeladen, dort das Mittagessen einzunehmen.
«Du kannst dir meine Verblüffung vorstellen, als die beiden plötzlich hereinkamen! Ich muß gestehen, mein Liebling, daß ich nicht so ganz erfreut war, denn Clara und Emily saßen gerade bei mir, und obwohl Clara sich sehr wahrscheinlich, wie ich mir einbilde, nicht den Kopf verdrehen läßt, ist Emily just in dem Alter, in dem sich die Mädchen in die untauglichsten Männer verlieben. Aber wie es sich herausstellte, besteht da nicht die geringste Gefahr – beide Mädchen erklärten, sie hätten noch nie eine größere Enttäuschung erlebt, denn er sei ziemlich alt und überhaupt nicht hübsch!»
«Alt?!» rief Venetia unwillkürlich aus.
«Nun ja, so dünkte das die Mädchen», erklärte Lady Denny. «Er kann nicht über vierzig sein, nehme ich an, wenn er überhaupt so alt ist. Ich bin nicht ganz sicher – als er ein Kind war, war er kaum je in der Priory, mußt du wissen, weil Lady Damerel Yorkshire überhaupt nicht mochte und nie herkommen wollte, außer wenn sie die Gesellschaften bei Rennen hatten. Du wirst dich nicht an sie erinnern, meine Liebe, aber sie war eine sehr eingebildete, unangenehme Frau – und das eine muß ich zugunsten ihres Sohnes sagen: er scheint überhaupt nicht hochnäsig zu sein – das heißt natürlich, daß er ja auch nicht den geringsten Anlaß hätte, die Nase hochzuhalten! Außer daß die Damerels eine sehr alte Familie sind, und von dem Vater dieses Menschen hieß es, daß er, obwohl zwar immer durchaus höflich, aber schon sehr standesbewußt war. Davon war bei Damerel allerdings nichts zu merken – ja, mei ner Meinung nach ist Seine Lordschaft sogar zu wenig distanziert! Ich will damit nicht sagen, daß mir sein Benehmen eine Abneigung einflößte, aber er hat eine seltsame, abrupte Art, die vielleicht ein bißchen zu sorglos ist, um mir zu gefallen! Was die Mädchen betrifft, hielten sie ihn für sehr gewöhnlich – obwohl ich sagen muß, das hätten sie bestimmt nicht, hätte er sich etwas netter ihnen gegenüber benommen. Er hat kaum mehr als ein Dutzend Worte mit ihnen gewechselt – und das Banalste außerdem!»
«Wie schäbig!» sagte Venetia. «Er ist – ich meine, das klingt ziemlich widerlich!»
«Ja, aber ich war dankbar dafür!» sagte Ihre Gnaden ernst. «Bedenke nur, was für Gefühle ich hätte haben müssen, wenn er sich als ein Mann von einschmeichelnder Rede erwiesen hätte! Und daß Sir John erklärt hat, die liebe Clara besitze nicht genug Schönheit, um das Interesse eines solchen Mannes wie Damerel zu fesseln, ist durchaus nicht richtig von ihm, abgesehen davon, daß es etwas höchst Unnatürliches ist, so etwas über die eigene Tochter zu sagen! Es wäre ihm sehr recht geschehen, wenn Damerel Clara wirklich geködert hätte, wenn er ihn uns schon so aufgehalst hat, wie er das getan hat! Aber alles, was er sagt, ist, daß Damerel nicht in einem schlechten Verhältnis mit seinen Nachbarn leben will, und daß es ein großer Unsinn von mir sei, anzunehmen, daß Damerel so schäbig sei, sich zu irgendeinem Frauenzimmer in Claras Situation unschicklich zu benehmen. Sehr nett gesagt, wenn doch jeder Mensch weiß, daß Damerel keine Gewissensbisse hatte, eine Dame direkt unter der Nase ihres Gatten zu verführen!»
«Wer war das?» unterbrach Venetia neugierig. «Was ist aus ihr geworden?»
«Das weiß ich nicht, aber sie war eine von den Rendleshammädchen – es waren ihrer drei, und alle miteinander große Schönheiten, was ein Glück war, weil Rendlesham arm wie eine Kirchenmaus war, und sie trotzdem alle gute Partien gemacht haben! Nicht daß ich damit sagen will, daß die Betreffende das große Los gezogen hätte, und was mich betrifft, hätte ich es nicht für eine meiner Töchter gewünscht, selbst wenn Sir John derart monströs in der Luft gehangen wäre, wie es das von Rendlesham hieß. Nun, jedenfalls hatte er den sonderbarsten Namen: Vobster! Ich glaube, er kam zwar schon nobel auf die Welt, wie man so sagt, aber sein Vater war ein gräßlicher Emporkömmling, und was seinen Großvater betrifft, bin ich überzeugt, kein Mensch weiß, was der eigentlich war! Das Gerücht lief, daß er einen Kramladen besaß – zumindest pflegte das mein Bruder George zu sagen! –, aber ich bin überzeugt, das war nichts als eine Münchhausen-Geschichte. Jedenfalls war Gregory Vobster reich wie ein Judas, was ihn für Lord Rendlesham akzeptabel machte. Er pflegte, wie ich mich erinnere, das ganze Getue eines Stutzers an den Tag zu legen, aber als er in die Zwickmühle geriet, hatte er durchaus kein Format. Nichts hätte ihn dazu gebracht, in eine Scheidung einzuwilligen! Er benahm sich sehr schäbig, wollte nur seine Rache haben, mußt du wissen, und wenn er sich nicht das Genick gebrochen hätte, als er seinen Zweispänner auf der Straße nach Newmarket umschmiß, wäre jenes elende Frauenzimmer immer noch mit ihm verheiratet! Aber die Sache ist die, meine Liebe, daß das keine drei Jahre nach dem Zusammenbruch der Ehe passierte, und obwohl ich nicht weiß, warum, weiß ich jedenfalls, daß Damerel sie nicht heiratete, was natürlich jeder erwartet hatte. Was mir eine sehr armselige Meinung von ihm gibt und mich äußerst widerwillig macht, ihn in meinem Haus zu empfangen! Und außerdem, wenn er hoffte, daß er, wenn er Lady Sophia verließ, sich mit seiner eigenen Familie versöhnen konnte, geschah ihm nur recht, denn sie haben ihn ganz und gar verstoßen, und er ist erst, als Lady Damerel starb, wieder nach England gekommen. Ja, wenn er nicht ein Vermögen vom alten Matthew Stone geerbt hätte – das war sein Pate und was man einen Hühner-Nabob nennt –, glaube ich bestimmt, daß er in absolute Armut geraten wäre – ganz abgesehen davon, daß er in erster Linie nicht imstande gewesen wäre, mit Lady Sophia durchzubrennen! Was alles zeigt, welche Torheit es ist, jungen Männern Vermögen zu hinterlassen.»
«Ihn verstoßen?» rief Venetia aus. «Sie hätten besser daran getan, sich lieber selbst zu verstoßen!»
«Sich selbst zu verstoßen?!» wiederholte Lady Denny.
«Ja, weil sie ihn so schlecht erzogen haben, sich wegen dieser Lady Sophia zum Narren zu machen! Es passierte, als er zweiundzwanzig war, nicht? Na also! Ich könnte schwören, daß sie außerdem älter war als er. Oder nicht?»
«Sie war ein paar Jahre älter, glaube ich, aber ...»
«Dann können Sie sich darauf verlassen, daß es zu einem viel größeren Teil ihre Schuld war als die seine, Ma'am! Und obwohl ich annehme, daß er sie schließlich wirklich hätte heiraten sollen, kann ich mir nicht helfen zu denken, daß sie es nur verdient hat, wenn er es nicht getan hat. Ja, mir fängt der Verruchte Baron allmählich fast an, leid zu tun. Hat er vor, lange in Yorkshire zu bleiben? Werden wir gezwungen sein, ihn zur Kenntnis zu nehmen?»
«Ich jedenfalls ja, falls wir ihn zufällig treffen sollten, aber ich bin entschlossen, es über ein höfliches Kopfnicken nicht hinaus gehen zu lassen. Und was eine Einladung betrifft, formell mit uns zu speisen, so habe ich Sir John gebeten, das ja nicht von mir zu verlangen! <Und, bitte sehr, welche unserer Bekannten sollte ich dazu einladen?> sagte ich. <Die Yardleys? Die Traynes? Die arme Mrs. Motcomb? Oder hast du am Ende unsere süße Venetia im Sinn?> Ich bin froh, daß er eingesehen hat, wie ganz unschicklich das wäre. Das ist ein Glück, da ich nicht vorhabe, mich im geringsten verdächtigen zu lassen, weil Damerel ein Junggeselle ist. Wenn es den Herren beliebt, ihn zu besuchen, können sie das tun – Damen kann er zu seinen Gesellschaften nicht einladen.»
Auf diese triumphierende Schlußfolgerung hin ging Lady Denny. Sie ließ damit ihre junge Freundin mit derart gemischten Gefühlen zurück, daß sie nicht hätte sagen können, ob sie wünschte, daß Damerel irgendeinen Weg fände, um sie wiederzusehen, oder ob sie über die Nachricht froh gewesen wäre, daß er die Priory verlassen hatte. Es war sicherlich langweilig, auf den eigenen Park beschränkt zu sein, aber das, hatte sie entschieden, mußte ihr Schicksal bleiben, falls sie nicht mit Aubrey ausritt. Denn sowenig sie auch auf die düsteren Warnungen Nurses achtete, war sie sich durchaus der Möglichkeit bewußt, daß Damerel ihr auflauerte, und zweifelte nicht daran, daß er, sollte er entdecken, daß sie allein spazierenging, glauben würde, sie suche seine Annäherung. Im übrigen, dachte sie, würde sie froh sein, wenn sie hörte, daß er fortgefahren war. Er war gefährlich. Sein Benehmen war nicht zu entschuldigen. Und ihm wiederzubegegnen konnte eventuell demoralisierend für ein Mädchen sein, das ein derart klösterlich abgeschlossenes Leben geführt hatte, wie es das ihre gewesen war.
Aber als eine Woche ohne ein Zeichen von ihm vorbeikroch, war sie pikiert. Er war immer noch in der Priory, aber er machte keinen wie immer gearteten Versuch, mit seinen Nachbarn bekannt zu werden. Die Dorfklatschmäuler berichteten sehr erstaunt, er interessiere sich tatsächlich für die Angelegenheiten seines Besitzes. Und Croyde, sein Gutsverwalter, der lange gelitten hatte und dem zum erstenmal erlaubt wurde, Damerel all die schreienden Notwendigkeiten vorzutragen, die bisher nie erfüllt worden waren, hegte eine Spur Optimismus: obwohl Seine Lordschaft bisher noch keine Ausgaben bewilligt hatte, hörte er doch wenigstens auf Ratschläge und sah mit seinen eigenen Augen den langsamen Verfall guten Bodens unter schlechter Bewirtschaftung. Edward, ein Skeptiker, sagte, das einzige, was Damerel dazu verführen könnte, einen Groschen auf Reparaturen oder Verbesserungen zu verwenden, würde die Hoffnung sein, aus dem Besitz einen größeren Ertrag herausquetschen zu können, damit er ihn auf seine Vergnügungen verschwendete. Venetia hätte den Verdacht gehabt, daß sein plötzliches Interesse an seinem Erbe nichts als ein Vorwand war, in der Priory zu bleiben, hätte er irgendeinen Versuch gemacht, sie aufzusuchen. Sie meinte, es wäre für ihn nicht schwierig gewesen, einen Vorwand zu finden, um in Undershaw vorzusprechen. Aber da sie viel zu unerfahren war, um zu erkennen, daß Damerel, ein Experte in der Kunst der Tändelei, eine Taktik anwandte, von der niemand besser wußte als er, daß sie quälend war, war sie zu dem Schluß gezwungen, daß sie für ihn doch nicht eine so starke Anziehungskraft besaß, wie sie angenommen hatte. Es gab zwar für Seine Lordschaft nichts anderes als eine Abfuhr in Undershaw zu holen, aber enttäuschend war es doch, daß man keine Gelegenheit bekam, sie ihm zu verabfolgen. Sie entdeckte, wie sie sich eine zweite Begegnung vorstellte; und zwischen Abscheu vor sich selbst und Groll gegen Damerel, daß er sie für so billig einschätzte, wurde sie derart gereizt, daß Aubrey sie fragte, ob sie sich denn gesundheitlich wirklich wohlfühle.
Und schließlich waren es weder sie noch Damerel, die ein zweites Treffen herbeiführten, sondern Aubrey.
Damerel ritt gerade mit Croyde nach einer seiner Inspektionstouren heim, als ein schwacher Hilferuf ihn mitten im Satz abbrechen und Umschau halten ließ. Der Ruf kam noch einmal, und Croyde, der in den Bügeln aufstand, damit er über die Hecke schauen konnte, die sich längs des Weges dahinzog, rief aus: «Guter Gott, das ist ja Mr. Aubrey! Natürlich, hab ich mir's doch gedacht! – Dieser tolle junge Braune von ihm ist mit ihm gestürzt, wie ich es ja immer gesagt habe! Wenn mich Eure Lordschaft entschuldigen wollen, werde ich mich um ihn kümmern.»
«Ja natürlich. Gibt es hier ein Tor, oder stoßen wir durch die Hecke?»
Etwas weiter am Heckenweg gab es ein Gatter, wenige Augenblicke später waren beide Männer abgestiegen, und Croyde kniete neben Aubrey, der knapp neben dem Graben lag, der mit der Hecke zusammen das Stoppelfeld von einem Streifen Weideland trennte. Aubreys Pferd stand in einiger Entfernung, und als Damerel sich näherte und es sich nervös bewegte, war zu sehen, daß es schwer lahmte.
Aubrey war totenbleich und litt beträchtliche Schmerzen. Er sagte schwach: «Ich bin auf mein schwaches Bein aufgefallen. Ich kann nicht aufstehen. Ich glaube, ich war bewußtlos. Wo ist Rufus? Stürzte auf die Vorhand. Ich hoffe zu Gott, daß er sich nicht die Knie gebrochen hat!»
«Denken Sie jetzt nicht an dieses tolpatschige Biest, Sir!» sagte Croyde scheltend. «Was Sie sich gebrochen haben, möchte ich gern wissen!»
«Nichts. Behandeln Sie mich um Gottes willen nicht roh, sonst bin ich wieder dahin! Ich habe mir den anderen Knöchel verstaucht – das ist das Teuflische daran!» Er bemühte sich, sich auf den Ellbogen zu stützen, wurde dabei aschfahl und biß sich auf die Lippen. Croyde stützte ihn, und nach einer Weile gelang es ihm, zu sagen: «Ich bin gleich wieder beisammen – gleich. Mein Pferd ...?»
«Dein Pferd hat sich das Kötengelenk schlimm verstaucht», sagte Damerel. «Du kannst es nicht reiten, aber das Bein hat es nicht gebrochen. Die Frage ist, bist du sicher, daß du dir nicht das deine gebrochen hast?»
Aubrey schaute ihn ziemlich verschwommen an. «Es ist nichts gebrochen. Es ist nur meine Hüfte. Ich habe – eine schwache Hüfte. Es wird gleich besser werden, glaube ich. Wenn man Post nach Undershaw schicken könnte, würden sie die Kutsche bringen.»
«Es ist der junge Mr. Lanyon, Mylord», erklärte Croyde. «Ich habe gerade gedacht, es wäre das beste, wenn ich die Kalesche von der Priory holen würde – es sind gut zehn Kilometer bis nach Undershaw.»
«Und eine verteufelt holprige Straße zum Durchrütteln», sagte Damerel und schaute nachdenklich auf Aubrey hinunter. «Wir fahren ihn zur Priory. Lassen Sie ein Bett herrichten und bringen Sie Nidd mit, damit er sich um die Pferde kümmert. Da, geben Sie das dem Jungen unter den Kopf!» Er streifte seinen Rock ab, während er sprach, rollte ihn zusammen und reichte ihn Croyde. Nach einem Blick auf Aubreys Gesicht fügte er hinzu: «Und bringen Sie auch Brandy mit – und beeilen Sie sich, ja?»
Er nahm Croydes Platz neben Aubrey ein und begann das Halstuch des Jungen zu lockern. Aubrey öffnete die Augen. «Was – Oh! Danke. Sind Sie Lord Damerel, Sir?»
«Ja, ich bin Damerel, aber sprich lieber nicht.»
«Warum nicht?»
«Na, weil ich glaube, daß du eine leichte Gehirnerschütterung hast und es besser für dich wäre, still zu liegen.»
«Ich weiß nicht. Noch, wie lange ich schon hier gelegen bin. Ich bin einmal zu mir gekommen, und dann, glaube ich, war ich wieder weg. Es war, weil ich versuchte, aufzustehen. Ich kann nämlich nicht, müssen Sie wissen.»
Damerel entging der bittere Ton nicht, aber alles, was er sagte, war: «Nein, und mit einer schwachen Hüfte und einem verrenkten Knöchel warst du ein verdammter junger Narr, daß du es überhaupt versucht hast, nicht?»
Aubrey grinste schwach und schloß wieder die Augen. Er öffnete sie nicht, bevor Croyde mit der Kalesche zurückkam, aber Damerel wußte, von der Falte zwischen Aubreys Brauen und einer bestimmten Härte um den Mund, daß er weder schlief noch ohnmächtig war. Der Junge murmelte etwas über gehen können, wenn man ihn stützte, aber als ihm befohlen wurde, seinen Arm um Damerels Hals zu legen, gehorchte er und widmete daraufhin seine Energie der wirklich fürchterlichen Aufgabe, halbwegs tapfer zu bleiben. Einen so leichten und dünnen Jungen querfeldein zu tragen, bot keine Schwierigkeiten, aber es war unmöglich, ihn in die Kalesche zu heben, ohne ihm ziemlich viel Schmerzen zuzufügen, und obwohl weniger als zwei Meilen bis zur Priory zurückgelegt werden mußten, war die Straße so schlecht, daß die Fahrt zu einer schweren Prüfung wurde. Aubrey klagte nicht, aber als man ihn aus der Kalesche hob, wurde er wieder ohnmächtig.
«Ist ganz gut so!» sagte Damerel munter und trug ihn ins Haus. «Nein, nein, räumen Sie das Riechsalz weg, Mrs. Imber! Wir wollen ihm zuerst die Stiefel ausziehen, bevor wir versuchen, ihn wieder zu sich zu bringen, den armen Kerl! Holen Sie eine Rasierklinge, Marston!»
Das Entfernen seiner Stiefel brachte Aubrey wieder zu sich, aber erst, als er entkleidet und in eines der Nachthemden seines Gastgebers gesteckt worden war, war er imstande, seine benommenen Sinne zu sammeln. Die Erleichterung für seinen geschwollenen rechten Knöchel, die ihm eine kalte Kompresse verschaffte, schien auch den bohrenden Schmerz zu mildern, der von seinem linken Hüftgelenk ausstrahlte, und das Riechsalz, das sie ihm einflößten, setzte ihn nach einem Hustenanfall instand, sich seiner Umgebung bewußt zu werden. Stirnrunzelnd schaute er Damerel und dessen Kammerdiener an, ohne sie zu erkennen, aber als sein Blick zu dem besorgten Gesicht der Mrs. Imber wanderte, kehrte seine Erinnerung zurück, und mit belegter Stimme rief er aus: «Oh, jetzt erinnere ich mich! Das Pferd hat mich abgeworfen. Verdammt, zum Teufel! Reiten wie ein verdammter Postkutschenreiter!»
«Och, die Besten von uns werden einmal abgeworfen!» sagte Damerel. «Ärgere dich doch nicht darüber, bis du Fieber kriegst!» Aubrey wandte den Kopf im Kissen, um ihn ansehen zu können. Das Blut schoß ihm in die Wangen; er sagte steif: «Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, Sir. Ich bitte um Entschuldigung! Sie müssen mich für eine armselige Kreatur halten.»
«Im Gegenteil, ich glaube, du hast eine ausgezeichnete Sitzfläche. Mehr Hintern als Kopf! Du dummer Einfaltspinsel! Du weißt, daß du als Leichtgewicht reitest! Was hat dich veranlaßt, dir einzubilden, daß du ein derart halsstarriges junges Tier wie diesen Braunen von dir in der Hand behältst?»
«Er ist nicht mit mir durchgegangen!» fuhr Aubrey auf. «Ich hab ihn einfach dahinsausen lassen – ich bin achtlos geritten –, aber es gibt nicht ein Pferd im Stall, das ich nicht reiten könnte!»
«Sogar noch viel mehr Hintern als Kopf!» sagte Damerel hänselnd, aber mit einem so verständnisvollen Lächeln in den Augen, daß Aubrey es sich versagte, beleidigt zu sein. «Und ich nehme an, ein paar noch schlimmere Einfaltspinsel, wie etwa mein Verwalter, erzählten dir, das Pferd sei zu stark für dich, was genau das Richtige war, daß du erst recht quer überland geprescht bist! Ich gebe zu, ich hätte dasselbe getan, daher werde ich dir deswegen nicht den Kopf waschen. Wo finde ich die Knochensäge, die dich verdoktert, wenn du dich halb erschlagen hast?»
«Nirgends! Das heißt, ich will ihn nicht – er wird mich nur herumzerren und es zehnmal schlimmer machen! Es ist nichts – es wird vergehen, wenn ich eine kleine Weile stilliege!»
«Also, Mr. Aubrey, Sie wissen sehr gut, daß Miss Lanyon den Doktor holen würde, und da gibt's gar kein Herumgestreite darum!» mischte sich Mrs. Imber ein. «Und was das Schlimmermachen betrifft, wie können Sie nur so reden, wenn jeder Mensch weiß, daß er genauso gut ist wie jeder großartige Londoner Doktor, und sehr wahrscheinlich sogar besser! Es ist Dr. Bentworth, Mylord, und wenn Croyde nicht Nidd mit sich genommen hätte, hätte ich den sofort nach York geschickt!»
«Nun, wenn er mittlerweile die Pferde hereingebracht hat, kann er sich auf den Weg machen, sowie ich dem Doktor eine Zeile geschrieben habe. Bis dahin ...»
«Ich wünsche, daß Sie das nicht tun!» sagte Aubrey ärgerlich. «Ich bin überzeugt, mir wird es ganz gut gehen, lange bevor er den weiten Weg herkommen kann. Wenn ihr mich doch nur in Ruhe lassen wolltet ...! Ich mag nicht, daß man ein Getue um mich macht! Ich hasse das über alles!»
Bei dieser ungnädigen Rede schaute Mrs. Imer sehr entsetzt drein, aber Damerel antwortete kühl: «Ja, es ist auch wirklich gräßlich! Niemand wird mehr ein Getue um dich machen. Statt dessen wirst du versuchen, ob du schlafen kannst.»
Dieser Vorschlag erschien Aubrey, der das Gefühl hatte, als sei jedes Glied zerschlagen, derart verrückt, daß er sich nur mit Mühe zurückhielt, nicht bissig zu antworten. Er wurde dem Alleinsein und damit seinen Überlegungen überlassen, konnte sie aber, wie immer er versuchte, nicht lange von den Schmerzen und Leiden seines Körpers abwenden, und sie lösten sich bald in die nagende Angst auf, der Sturz hätte seine Hüfte derart schlimm verletzt, daß er ein ganzer Krüppel werden oder zumindest auf Monate hinaus an ein Sofa gefesselt sein würde. Bevor er jedoch noch Zeit hatte, sich krank vor Kummer zu machen, kam Damerel mit einem Glas in der Hand ins Zimmer zurück. Nach einem scharfen Blick auf Aubrey sagte er: «Ziemlich unbehaglich zumute, was? Trink das!»
«Unwichtig – ich kann es ertragen», murmelte Aubrey. «Wenn das Laudanum ist, dann will ich es nicht – danke!»
«Erinnere mich daran, dich zu fragen, was du willst, falls ich es je zu wissen wünsche!» sagte Damerel. «Im Augenblick wünsche ich es nicht! Los, tu, was ich dir sage, oder es kann dir ein schlimmeres Schicksal blühen!»
«Ein schlimmeres gibt es nicht», seufzte Aubrey und nahm widerstrebend das Glas entgegen.
«Sei dessen ja nicht zu sicher! Ich bin kein geduldiger Mensch und besitze außerdem kein Mitleid. Weißt du etwa gar nicht, daß du in der Höhle des Menschenfressers bist?»
Darüber mußte Aubrey lächeln, aber er sagte, während er dabei angewidert den Trunk anschaute: «Ich nehm dieses Zeug nicht, außer ich muß unbedingt. Ich bin kein Schwächling, müssen Sie wissen – selbst wenn ich als Leichtgewicht reite!»
«Du bist ein dickköpfiger junger Hund. Und wer macht jetzt eigentlich das großartige Getue, möchte ich wissen? Alles nur um ein Beruhigungsmittel, damit du dich etwas besser fühlst, bis dich dein Doktor wieder in Ordnung bringt! Jetzt trink das sofort und laß mich keinen Unsinn mehr hören!»
Gänzlich ungewohnt, herrische Befehle zu erhalten, wurde Aubrey etwas steif; aber nachdem er Damerel aus gefährlich schmalen Augen einen Augenblick lang gemessen hatte, kapitulierte er und sagte mit seinem verzerrten Lächeln: «Na also, schön!»
«Klingt schon besser», sagte Damerel und nahm ihm das leere Glas ab. Etwas in Aubreys schmalem, starrem Gesicht ließ ihn hinzufügen: «Ich habe das starke Gefühl, daß mit dir nicht viel mehr los ist als blaue Flecken und Gespenster sehen. Du hättest schlimmere Schmerzen, wenn du dir etwas Ernstes zugefügt hättest, so reiß dich aus deiner deprimierten Stimmung, du junger Hohlkopf!»
Aubrey wandte ihm schnell die Augen zu. «Jaja, das dürfte es sein. Daran habe ich nicht gedacht. Danke – ich bin Ihnen sehr verbunden. Ich wollte nicht unhöflich sein – zumindest, ich wollte schon, aber – aber ich bitte dafür um Entschuldigung, Sir!»
«Och, pah! Jetzt schlaf.»
«Ja, das werde ich sehr wahrscheinlich, nachdem ich dieses ab scheuliche Zeug getrunken habe», stimmte ihm Aubrey zu, mit einem schüchternen Grinsen, das ihn plötzlich jünger erscheinen ließ. «Nur wird meine Schwester ein bißchen besorgt sein, möchte ich wetten. Meinen Sie ...»
«Keine Angst! Ich habe schon einen der Stalljungen mit einem Brief für sie nach Undershaw geschickt.»
«Oh! Danke! Sie haben ihr nichts gesagt, was sie aufregen könnte, nicht?»
«Nein, warum auch? Ich habe ihr genau das gesagt, was ich dir gesagt habe, und habe sie nur gebeten, zusammenzutun, was du an Nachthemden und Zahnbürsten brauchst, damit es der Junge mit zurückbringen kann.»
«Das ist recht!» sagte Aubrey erleichtert. «Darüber können sie wirklich nicht aus dem Häuschen geraten!»