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Nachdem sie der Nurse entflohen war, die ihr außer abgenutzten Bettlaken zwecks Mißbilligung auch zwei Hemden von Aubrey unterbreitet hatte, deren Ärmelbündchen durch achtloses Mangeln zerrissen worden waren, fiel Venetia in die Klauen der Haushälterin. Mrs. Gurnards offizieller Zweck war es, sie daran zu erinnern, daß jetzt oder nie die Zeit gekommen sei, Brombeergelee einzukochen. Ihr wirkliches Thema, zu dem sie auf vielen Umwegen gelangte, war, das neue Wäschermädel, ihre Nichte, vor den Anklagen der Nurse zu verteidigen. Da diese beiden ältlichen braven Gefolgsleute etliche sechsundzwanzig Jahre lang in einem Verhältnis gegenseitiger Eifersucht gelebt hatten, wußte Venetia, daß die angeblichen Mängel des Wäschermädels unvermeidlich zu der Aufzählung einer Anzahl anderer Beschwerden gegen die Nurse führen würden, worauf dann Nurse, die bei einem langen Besuch Venetias im Zimmer der Wirtschafterin bestimmt Verdacht schöpfte, über sie herfallen würde, um durch ein rigoroses Verhör aufzudecken, was für boshafte Lügen ihr erzählt worden waren. Daher brachte Venetia mit einer Geschicklichkeit, die langer Praxis entstammte, das Gespräch schnell wieder auf Brombeergelee zurück und lenkte Mrs. Gurnard durch das Versprechen ab, ihr noch am selben Tag einen Korb voll Brombeeren zu bringen. Dann entschlüpfte sie schnell in ihr Schlafzimmer, bevor sich die furchterregende Dame weiterer Schändlichkeiten der Nurse entsinnen konnte.

Venetia zog das Kleid aus französischem Batist, das sie trug, aus und nahm ein altes Barchentkleid aus ihrem Garderobeschrank. Es war ziemlich altmodisch, und sein ursprüngliches Blau war zu einem unbestimmten Grau verblichen, aber zum Brombeersammeln war es gut genug, und selbst Nurse würde nicht die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn es fleckig würde. Ziemlich derbe Schuhe und ein Strohhut gegen die Sonne vervollständigten ihre Kleidung. Mit einem großen Korb bewaffnet verließ sie gleich darauf das Haus, beflügelt von der Nachricht, die ihr Ribble, der Butler, zuflüsterte, daß Mr. Denny, der nach Thirsk geritten war, wo er etwas Geschäftliches zu erledigen hatte, meinte, er würde auf seinem Heimweg doch lieber noch einmal in Undershaw vorsprechen, falls Miss Lanyon vielleicht wünsche, ihm eine Post für seine Mama mitzugeben.

Ihr einziger Gefährte auf dieser Expedition war ein liebenswürdiger, wenn auch gedankenloser Spaniel, den ihr Aubrey geschenkt hatte, als er entdeckte, daß das Hundejunge, abgesehen von einem erregbaren Charakter, unheilbar schußscheu war. Als Begleiter einer Dame auf einsamen Spaziergängen war er keineswegs ideal, denn abgesehen von seiner unglückseligen Schwäche war er sehr jagdlüstern, und nachdem er sie einige hundert Meter weit beim Gehen behindert hatte, indem er um sie herumtollte und mit hysterischem Gekläff an ihr hochsprang und sich überhaupt wie ein Hund betrug, der nur selten von der Kette losgelassen wird, stürzte er davon, taub gegen alle Mahnungen, und tauchte nur hie und da wieder auf, mit hängender Zunge und einer Miene, als hätte er sich gerade nur einen Augenblick von dringenden privaten Angelegenheiten losgerissen, um sich zu vergewissern, daß mit ihr alles in Ordnung war.

Wie die meisten Mädchen ihrer Generation, die auf dem Land aufwuchsen, war Venetia eine flotte Fußgängerin; aber anders als die meisten ihrer Zeitgenossinnen höherer Abstammung zögerte sie nie, allein herumzustreifen. Es war eine Gewohnheit, die sie schon als Schulmädchen entwickelt hatte, um ihrer Erzieherin zu entgehen. Miss Poddemore meinte, für eine Dame sei es genügend Bewegung, wenn sie eine Stunde lang auf den Pfaden zwischen Gartensträuchern herumschlenderte. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn Umstände oder Überredung sie dazu brachten, sich zu einem Spaziergang zum nächsten Dorf verführen zu lassen, das eineinhalb Kilometer entfernt lag, war ihr würdiges Dahinschreiten für ihren Zögling ebenso aufreizend wie ihre Gewohnheit, den Weg mit belehrendem Gespräch zu verkürzen. Obwohl sie nicht so hochgebildet war wie Miss Selina Trimmer, der sie ein einziges Mal begegnet war und die sie nachher auf immer verehrte, war sie gut erzogen. Unglücklicherweise besaß sie weder Miss Trimmers starke Persönlichkeit noch deren Fähigkeit, ihren Schülerinnen Liebe einzuflößen. Als Venetia siebzehn geworden war, war sie von ihrer Erzieherin derart herzlich gelangweilt, daß sie ihren Eintritt in die Periode des Junge-Dame-Seins mit der Mitteilung an ihren Vater markierte: da sie ja nun erwachsen und durchaus imstande sei, den Haushalt zu führen, könnten sie sich die Dienste von Miss Poddemore ersparen. Von da an hatte sie keine andere Anstandsdame als Nurse gehabt, aber da sie, wie Lady Denny erklärte, weder in Gesellschaft ging noch Gäste in Undershaw empfing, war nicht einzusehen, wozu sie eine Anstandsdame haben sollte. Da Lady Denny unmöglich sagen konnte, es sei unschicklich, wenn ein Mädchen im Haus ihres Vaters ohne Anstandsdame lebte, mußte die Lady dieses Argument fallenlassen und konnte statt dessen Venetia nur anflehen, nicht im Freien herumzustreifen, ohne auch nur eine Zofe mitzunehmen. Aber Venetia hatte nur gelacht und ihr scherzhaft gesagt, sie sei genauso schlimm wie Miss Poddemore, die es nie müde geworden war, das Beispiel der Lady Harriet Cavendish zu zitieren – einer der Schutzbefohlenen der berühmten Miss Trimmer –, die sich, als sie noch vor ihrer Heirat auf Schloß Douglas lebte, nie ohne Begleitung ihres Lakaien über die Gärten hinausgewagt hatte. Da sie, Venetia, aber nicht die Tochter eines Herzogs sei, habe sie nicht das Gefühl, es obliege ihr, sich Lady Harriet zum Vorbild zu nehmen. «Außerdem, Ma'am, muß das mindestens vor zehn Jahren gewesen sein! Und wenn ich eines der Mädchen mitschleppen sollte, wenn es statt dessen etwas Vernünftigeres zu tun hat, würde es mir wahrhaftig mein Vergnügen verderben. Nein, nein, ich habe mir Miss Poddemore nicht dazu vom Hals geschafft! Und was soll mir auch schon hier geschehen, wo jedermann weiß, wer ich bin?»

Seufzend mußte sich Lady Denny mit dem Versprechen zufrie dengeben, daß ihr unabhängiger junger Schützling nie ohne Begleitung nach York oder Thirsk fahren würde. Als Sir Francis starb, erneuerte sie ihre dringenden Bitten, aber ohne viel Hoffnung, daß Venetia auf sie hören würde. Es brachte sie zur Verzweiflung, daß Venetia sagte, sie sei ihrer Mädchenzeit entwachsen, aber zu leugnen war es nicht: Venetia war damals zweiundzwanzig, gefährlich nahe daran, sitzenzubleiben.

«Wobei diese Gefahr immer schon bestanden hat, Sir John – obwohl das nicht genau das ist, was ich meine, sondern nur, daß es geradezu eine Schmach ist, so schön wie sie ist und so voll Leben, abgesehen davon, daß sie den denkbar besten Charakter hat! Ich jedenfalls halte von dieser Tante von ihr herzlich wenig! Sie hat sich nie wirklich angestrengt, Sir Francis zu überreden, daß er Venetia auf eine Saison nach London läßt, als das arme Kind zum erstenmal in die Gesellschaft eingeführt wurde, und falls sie sie nun, da er tot ist, gedrängt haben sollte, hinzukommen, habe jedenfalls ich nichts davon gehört! Ich halte sie für genauso egoistisch, wie es ihr Bruder war, und wenn es nicht soviel kosten würde und wir nicht unsere eigenen Töchter einführen müßten – denn selbst falls überhaupt wirklich etwas bei dieser Zuneigung zwischen Clara und Conway herauskommen sollte – worauf ich durchaus nicht rechne –, bin ich entschlossen, daß alle fünf bei Hof vorgestellt werden müssen und es auch werden! – Nun, wie ich gesagt habe, wenn das alles nicht wäre, wäre ich sehr in Versuchung, Venetia selbst nach London zu bringen, und ich wäre nicht erstaunt, wenn sie eine sehr ansehnliche Partie machen würde, obwohl sie nicht mehr in der ersten Jugend ist! Nur kannst du dich darauf verlassen, daß sie sich ja doch weigern würde, Aubrey allein zu lassen», fügte sie verzweifelt hinzu. «Und bald wird es zu spät sein – wenn sie das nur wüßte!»

Venetia wußte es. Aber da sie nicht sah, wie dem abzuhelfen war, solange Conway hartnäckig im Ausland blieb, fand sie sich auch weiterhin mit ihrer Situation ab. Lady Denny wäre erstaunt gewesen, hätte sie erfahren, mit welch bösen Ahnungen Venetia ihre Zukunft betrachtete.

Für ein jedes Frauenzimmer in ihrer Lage wäre diese Zukunft wirklich freudlos gewesen. Sie schien ihr keine andere Wahl zu lassen, als entweder Edward Yardley zu heiraten oder das Leben einer alternden und wahrscheinlich unwillkommenen, unnützen alten Jungfer im Haushalt ihres Bruders zu führen. Da sie Herrin über ein ausreichendes Einkommen war, so würde es eher Konvention als Abhängigkeit sein, die sie zwingen würde, in Undershaw zu bleiben. Unverheiratete Damen hatten einfach nicht allein zu leben. Schwestern über das Heiratsalter hinaus durften das eventuell. Vor vielen, vielen Jahren hatten es Lady Eleanor Butler und ihre teure Freundin, Miss Sarah Ponsonby, getan, freilich trotz elterlicher Opposition. Sie waren in ein Bauernhaus irgendwo in Wales geflohen und hatten der Welt entsagt, ganz als wären sie Nonnen gewesen. Aber da sie immer noch dort lebten und sich, soweit bekannt, nicht von ihrer Zuflucht weggerührt hatten, dürften sie vermutlich zufrieden gewesen sein. Aber Venetia war keine Exzentrikerin, und selbst wenn sie eine Busenfreundin besessen hätte, hätte sie auch nicht einen Augenblick lang daran gedacht, mit ihr zusammenzuziehen – da wäre selbst eine Heirat mit Edward einer solchen ménage vorzuziehen gewesen. Und ohne ihre Phantasie mit kindisch mädchenhaften Träumen von einem edlen und schönen Freier zu füttern, hatte Venetia doch das Gefühl, daß eine Ehe mit einem anderen als Edward die angenehmste Lösung ihrer Schwierigkeiten bedeutet hätte.

Sie war noch nie verliebt gewesen. Und mit fünfundzwanzig hegte sie keine großen Erwartungen mehr. Ihre einzige Bekanntschaft mit romantischer Liebe lag zwischen den Deckeln der Bücher eingeschlossen, die sie gelesen hatte. Und wenn sie vor langer Zeit auch einmal vertrauensvoll das Auftauchen eines Sir Charles Grandison auf der Bildfläche erwartete, so hatte es nicht lange gedauert, bis die Vernunft einen solchen Optimismus verdrängte. In den Tagen, als sie hie und da bei den Unterhaltungen in York erschien, hatte sie sehr viel Bewunderung erregt, und mehr als ein vielversprechender junger Gentleman, der zuerst von ihrer Schönheit betroffen und dann von ihrem freimütigen Benehmen und dem Charme ihrer lächelnden Augen gefangengenommen wurde, wäre sehr glücklich gewesen, eine bloße Ballsaalbekanntschaft zu vertiefen. Leider gab es aber keine Möglichkeit, sie in der üblichen Art zu vertiefen, und wenn auch verschiedene empfängliche Herren verbittert gegen das Barbarentum eines Vaters tobten, der keinem Besucher erlaubte, sein Haus zu betreten, war doch keiner von ihnen so tief ins Herz getroffen, nachdem er mit der lieblichen Miss Lanyon einen einzigen Ländler getanzt hatte, daß er jeden Kanon der Schicklichkeit beiseite geschoben hätte und – aus der gräßlichen Angst heraus, einen großen Narren aus sich zu machen – von York nach Undershaw geritten wäre, um dort um die Parktore des Herrenhauses zu schleichen in der Hoffnung, ein heimliches Treffen mit Venetia zu erreichen oder gar sich seinen Weg in das Haus zu erzwingen.

Nur Edward Yardley, dem Patenkind Sir Francis', wurde stillschweigend die Erlaubnis gewährt, dessen Schwelle zu überschrei ten. Er wurde nicht willkommen geheißen, da Sir Francis während seiner Besuche selten aus seiner Bibliothek auftauchte, aber da Edward mit Venetia spazierengehen, plaudern und ausreiten durfte, glaubte man allgemein, daß ein Heiratsantrag von ihrem morosen Papa akzeptiert worden wäre.

Niemand hätte Edward als einen ungeduldigen Liebhaber bezeichnen können. Venetia war der Magnet, der ihn nach Undershaw zog, aber es dauerte vier Jahre, bevor er sich erklärte, und sie hätte damals fast glauben können, daß er es gegen seine bessere Überzeugung tat. Sie zögerte nicht, seinen Antrag abzulehnen, denn wie sehr sie auch seine guten Eigenschaften schätzte und wie dankbar sie ihm auch für die verschiedenen Dienste, die er für sie besorgte, war – lieben konnte sie ihn nicht. Sie wäre froh gewesen, mit ihm weiter in alter Freundschaft zu verkehren, aber Edward, der sich endlich zu dem Antrag aufgerafft hatte, war dann anscheinend ebenso hartnäckig wie zuversichtlich. Er war über ihre Ablehnung durchaus nicht niedergeschlagen. Er schrieb diese ganz ernstlich der Schüchternheit zu, einer mädchenhaften Bescheidenheit und Überraschung, ja sogar ihrer Ergebenheit zu ihrem verwitweten Vater; versicherte ihr freundlich, daß er solche Gefühle durchaus verstand, und gab sich zufrieden, zu warten, bis sie ihr eigenes Herz erforscht hatte – und begann von jenem Tag an ihr gegenüber ein herrisches Benehmen zu entwickeln, das sie sehr oft dazu reizte, genau entgegengesetzt zu dem zu handeln, was er riet, und zu sagen, was immer ihr einfiel, das ihn bestimmt schockieren mußte. Aber es wirkte nicht. Er zeigte zwar seine Mißbilligung häufig, milderte sie aber durch Duldsamkeit. Ihre Lebhaftigkeit faszinierte ihn, und er zweifelte nicht daran, daß er fähig war, sie – sobald sie einmal ihm gehören würde – ganz so zu formen, wie er sie haben wollte.

Als Sir Francis starb, wiederholte Edward seinen Antrag. Wieder wurde er abgelehnt. Diesmal war er hartnäckiger, was Venetia ohnehin erwartet hatte. Was sie hingegen nicht erwartet hatte, war, daß er plötzlich annahm, ihr dauerndes Zögern, seinen Antrag anzunehmen, entspringe dem, was er als ihre «besonders heikle Situation» bezeichnete. Er sagte, er ehre sie wegen ihrer Gewissensbisse – was sie insgeheim für albern hielt –, und würde es sich versagen, sie um eine andere Antwort zu drängen, bis Conway, ihr natürlicher Beschützer, heimkommen würde. Was ihm eine derartige Idee in den Kopf gesetzt hatte, konnte sie beim besten Willen nicht entdecken, da sich ihrer Verblüffung nur zwei mögliche Lösungen boten: die erste, daß sie ihn zwar stark anzog, er jedoch durchaus nicht überzeugt war, sie würde als seine Gattin zu einem behaglichen Leben beitragen; die zweite, daß ihm das seine Mutter suggeriert hatte. Mrs. Yardley war eine farblose kleine Frau, immer seinem Willen untertan, die sich nur in seiner Gegenwart mild erwärmte. Sie war Venetia gegenüber nie anders als höflich gewesen, aber Venetia war fest überzeugt, daß sie Edwards Heirat mit ihr nicht wünschte.

Mit der Neuigkeit einer sehr realen Hoffnung, daß die Besetzungsarmee bald aus Frankreich abgezogen werden würde, war für Venetia das Problem der Zukunft plötzlich nahegerückt. Während sie nun mit ihrem Hund durch den Park von Undershaw wanderte, wälzte sie dieses Problem immer wieder, aber es hatte nicht viel Zweck, wie sie sich traurig eingestand. So viel beruhte auf Vermutungen, im besten Fall auf Möglichkeiten. Das einzig Sichere war, daß Edward, wenn Conway heimkam, eine günstige Antwort auf seine Werbung erwarten und nicht leicht zu überzeugen sein würde, irgendeine andere zu akzeptieren. Das war natürlich ihre eigene Schuld, weil sie zu sehr bereit gewesen war, an dem Aufschub festzuhalten, den ihr seine seltsame Vorstellung von Schicklichkeit gewährt hatte, und ihm, wenn auch nur stillschweigend, zuzustimmen, daß nichts entschieden werden konnte, solange Conway nicht heimkam. Man konnte von Edward kaum Verständnis dafür erwarten, daß ihre Antwort weitgehend davon abhing, was Conway zu tun beabsichtigte. Zwischen Conway und Clara Denny hatte eine ziemlich sentimentale Kinderliebe bestanden, bevor er zur Armee gegangen war, der zumindest Clara Bedeutung zuzuschreiben schien. Wenn Conway ihr eine gleiche Bedeutung beimaß, würde sie sich mit einer Schwägerin behaftet sehen, die nur allzu bereit sein würde, die Führung ihres Haushalts in die Hände von Conways Schwester zu legen, zu der sie ihr ganzes Leben lang mit demütiger Bewunderung aufgeschaut hatte. Das, dachte Venetia, wäre sehr schlimm für Clara, aber auch sehr schlimm für mich, nur glaube ich nicht, daß ich es wirklich über mich brächte, bei der armen kleinen Clara die zweite Geige auf Undershaw zu spielen!

Eine Ehe mit Edward würde bequem und etwas Sicheres sein. Er würde ein freundlicher Gatte werden und sie bestimmt vor unfreundlichen Stürmen schützen. Aber Venetia war mit einem Lebenshunger geboren worden, der ihm unbekannt war, und einem hohen Mut, der sie instand setzte, Schicksalsschlägen ins Auge zu blicken und nicht davor zurückzuschrecken, ihnen zu begegnen. Weil sie nicht über das ihr aufgezwungene abgeschlossene Leben jammerte, glaubte Edward, sie sei so wie er damit zufrieden, alle ihre Tage in dem Schatten der Cleveden-Berge zu verbringen. Sie war so sehr alles andere als zufrieden, daß sie sich nie auch nur vor gestellt hatte, dies könnte ihr endgültiges Schicksal sein. Sie wollte die übrige Welt sehen – die Ehe interessierte sie nur als einziges Mittel der Flucht für ein adeliges Mädchen.

Praktisch genommen, dachte Venetia, als sie den Park verließ und in einen schmalen Heckenweg einbog, der ihn von dem Nachbargut Elliston Priory trennte, ist meinem Fall klar und deutlich nicht zu helfen, und mir bleibt nichts übrig, als mich zu entschließen, ob ich die Tante für Conways Kinder oder die Mutter für Edwards Kinder werden soll – und ich habe eine deprimierende Ahnung, daß Edwards Kinder gräßlich langweilig ausfallen werden, arme kleine Dinger! Wo ist bloß dieser gräßliche Hund wieder? «Flurryl Hierher, Flurry!»

Nachdem sie mit wachsendem Ärger ihren Hundefreund gerufen hatte, kam er dahergaloppiert, voll Liebenswürdigkeit, mit keuchenden Flanken und hängender Zunge. Da er beträchtlich außer Atem war, war er so nett, in ihrer Sicht zu bleiben, bis sie nach etlichen hundert Metern den Heckenweg hinunter die Gründe der Priory durch ein Drehkreuz neben einem schweren Gutstor betrat. Dieses gewährte den Zutritt zu einem uralten Wegrecht, aber Venetia, die mit dem Verwalter des Lord Damerel auf vorzüglichem Fuß verkehrte, stand es frei, auf Damerels Domäne herumzustreifen, wo sie wollte, wie Flurry sehr gut wußte. Erholt durch das kurze Zwischenspiel im Heckenweg, raste er in Richtung der Wälder davon, die sich über einen sanften Abhang zu dem Fluß hinabzogen, der sich durch die Gründe der Priory schlängelte. Jenseits des Flusses lag die Priory selbst, ein weitausladendes Gebäude, das in Tudorzeiten auf den Grundfesten des ursprünglichen Baues errichtet und später erweitert worden war, und von dem es hieß, es stecke ebenso voll von einem Schatz an Vertäfelungen wie einer Menge Unbequemlichkeiten. Um das Haus kümmerte sich Venetia nicht, aber die Gründe waren jahrelang die Lieblingsschlupfwinkel der drei jungen Lanyons gewesen. Sir Francis' Grillen hatten ihn immerhin nicht dazu verführt, seinen Besitz zu vernachlässigen, den er in vorzüglicher Ordnung hielt. Seine Kinder aber zogen es vor, Abenteuer in weniger gepflegter Umgebung zu suchen. Die Wälder der Priory, eine Art Wildnis, entsprachen genau jugendlichen Vorstellungen davon, was romantisch-abenteuerlich ist, und wenn es auch Venetia, als sie erwachsen war, für einen Jammer hielt, daß der Besitz so vernachlässigt war, so behielt er doch immer noch seinen Zauber für sie, und sie wanderte oft hier herum. Da sein Besitzer nur sehr selten herkam, konnte sie es dem ungehorsamen Flurry erlauben, herumzustreifen, wie er wollte, Kaninchen zu jagen und Fasane aufzuscheuchen, ohne die Gefahr, daß er Zorn auf sein Haupt lud. Der Verruchte Baron, wie sie vor langer Zeit Lord Damerel getauft hatte, würde es weder erfahren noch würde es ihn kümmern – die einzige Gesellschaft, die er je in die Priory mitgebracht hatte, war bestimmt keine Jagdgesellschaft gewesen.

Seine Familie war alt und vornehm, aber den derzeitigen Träger des Titels hielten die Ehrbaren für den einzigen schwarzen Fleck der Umgebung. Es war geradezu eine Ungehörigkeit, seinen Namen in anständiger Gesellschaft zu erwähnen. Unschuldige Erkundigungen der Kinder, die wissen wollten, warum Lord Damerel eigentlich nie in der Priory lebte, wurden unterdrückt. Man sagte ihnen, sie seien zu jung, um das zu verstehen, und daß sie durchaus nicht über ihn nachzudenken und noch weniger über ihn zu sprechen brauchten – es sei zu befürchten, daß Seine Lordschaft kein wirklich guter Mensch war; und jetzt sei es genug, und sie sollten laufen und spielen gehen.

Das war, was Miss Poddemore Venetia und Conway sagte, und natürlich spekulierten sie über die mögliche – und auch unmögliche – Art der Verbrechen Seiner Lordschaft und schufen sehr schnell eine Gestalt düsterer Romantik aus Miss Poddemores geheimnisvollen Äußerungen. Es dauerte Jahre, bevor Venetia entdeckte, daß Damerels Schurkerei nichts so Entsetzliches wie Mord, Verrat, Piratentum oder Straßenräuberei enthielt, und eher schmutzig als romantisch war. Das einzige Kind von Eltern vorgerückten Alters, hatte er kaum eine diplomatische Karriere eingeschlagen, als er sich auch schon Hals über Kopf in eine verheiratete Dame von Rang verliebte und mit ihr durchbrannte, auf diese Weise seine eigene Zukunft ruinierte, das Herz seiner Mama brach und die Ursache war, daß sein Papa einen Schlaganfall erlitt, von dem sich dieser nie mehr ganz erholte. Ja, da diesem drei Jahre später ein zweiter und tödlicher Schlaganfall folgte, war es nicht zuviel gesagt, daß ihn die schockierende Affäre tatsächlich umgebracht hatte. Jede Erwähnung seines Erben war in seinem Haushalt verboten gewesen. Nach seinem Tod lebte seine Witwe, die für Venetia Sir Francis Lanyon deutlich verwandt zu sein schien, halb abgeschlossen in London und besuchte die Besitzungen im Yorkshire nur sehr selten. Was den neuen Lord Damerel betraf, gab es zwar sehr viele Gerüchte über seine späteren Handlungen, aber niemand wußte wirklich, was mit ihm geschehen war, denn sein skandalöses Benehmen war mit dem kurzlebigen Frieden von Amiens zusammengefallen, und er hatte seine gestohlene Herzensdame aus dem Land verschwinden lassen. Alles, was nachher von ihr bekannt wurde, war, daß sich ihr Gatte gegen eine Scheidung geweigert hatte. Wie lan ge sie bei ihrem Liebhaber geblieben war, ob sie geflohen waren, als der Krieg wieder ausbrach, und ihr endgültiges Schicksal waren Probleme, über die viele Vermutungen angestellt wurden. Deren populärste war die, daß sie von ihrem Liebhaber verstoßen und Bonapartes gierigen Soldaten zur Beute gefallen war, womit ihr, wie die Dorfbewohner nicht verfehlten, ihren irrenden Töchtern vor Augen zu führen, ganz recht geschah, und was genau das war, was jedem Mädchen zustoßen muß, das mit seiner Tugend sorglos umgeht.

Was immer die Wahrheit sein mochte, das eine war sicher: die Dame war nicht bei Damerel, als er einige Jahre später nach England zurückkehrte. Seit jener Zeit schien er sich – wenn nur die Hälfte der Geschichten, die über ihn erzählt wurden, stimmte – allen ausgefalleneren Formen der Zerstreuung gewidmet zu haben, und ging, so hieß es, ziemlich weit darin, das, was einst ein sehr schönes Vermögen gewesen war, zu vergeuden und keine Gelegenheit zu versäumen, die sich bot, tun seine Kritiker zu überzeugen, daß er aber schon ganz genauso schwarz war, wie er gemalt wurde. Bis zum Vorjahr waren seine gelegentlichen Besuche in der Priory zu kurz gewesen, als daß der eine oder andere seiner Nachbarn mehr als gerade nur seiner ansichtig wurde, und selbst das hatten nur sehr wenige erlebt. Aber im August hatte er eine ganze Woche in der Priory verbracht – unter völlig unerhörten Umständen. Er war nicht allein gekommen, sondern hatte Gäste mitgebracht – und was für Gäste! Sie waren natürlich wegen der Rennen gekommen – Damerel hatte ein Pferd laufen. Der arme Imber, der alte Butler, der seit Jahren Hausverwalter der Priory gewesen war, geriet in größte Betrübnis – noch nie war eine derart freche zusammengewürfelte Bande in der Priory zu Gast gewesen! Was Mrs. Imber betraf, hatte sie, sowie sie entdeckte, man erwartete von ihr, für mehrere lärmende Stutzer und für drei Frauenzimmer zu kochen, denen sie beim ersten Blick ansah, was sie waren, ihre Absicht erklärt, eher die Priory zu verlassen als sich derart entwürdigen zu lassen ... Nur ihre Ergebenheit der «Familie» gegenüber hatte vermocht, daß sie nachgab, und das hatte sie noch bitterlich zu bereuen, als nicht ein Dorfbewohner es seinen Töchtern erlauben wollte – wie nicht anders zu erwarten –, in einem Haus zu arbeiten, das nur wenig besser als ein Korinth war, und man hatte in York drei alles andere als respektable Frauenzimmer aufnehmen müssen, die den Dienst bei der liederlichen Gesellschaft versahen. Was die Vergnügungen dieser verwegenen Gesellen und ihrer Bettschätzchen betraf, mußte sich, erklärte Imber, Seine verewigte Lordschaft im Grab umgedreht haben angesichts derart liederlicher Vorgänge auf seinem Ahnensitz. Wenn sich die Gäste nicht vulgärem Herumtoben widmeten, wie etwa dem Spiel Hunt the Squirrel, mit diesen schamlosen lockeren Frauenzimmern, die quietschten, daß es die Deckenbalken zum Einsturz bringen konnte, und die die Herren dazu aufreizten, sich in sehr skandalöser Art zu benehmen, verwandelten sie das Haus in eine Spielhölle und tranken den Keller staubtrocken. Es war nicht einer darunter, den nicht sein Kammerdiener hätte zu Bett bringen müssen, und daß Mylord Utterby – bei dem eine Schraube locker war, wie es Imber noch nie erlebt hatte! – die Priory nicht bis auf den Grund niederbrannte, war nur dem Zufall zu danken, der den Brandgeruch zu den Nüstern der Besonderen von Mr. Ansford getragen hatte. Die hatte keine Gewissensbisse, diesem Brandgeruch bis zu seiner Quelle nachzugehen, obwohl sie nur in ihr Nachtgewand gehüllt war – nicht, daß dies eine dezentere Hülle für ihre üppige Gestalt gewesen wäre als das Kleid, das sie früher am Tag getragen hatte! –, und sie hatte die glimmenden Bettvorhänge heruntergerissen und dabei die ganze Zeit mit ihrer sehr unaristokratischen Stimme aus Leibeskräften gekreischt.

Diese Orgien hatten sieben Tage gedauert, aber sie hatten die Umgebung mit Nahrung für Klatsch versorgt, der Monate vorhielt.

Weiteres hatte man jedoch nicht mehr von Damerel gehört. Dieses Jahr war er nicht zu den Yorker Rennen heraufgekommen, und falls er nicht vorhatte, später zur Fasanenjagd zu kommen, was – nach dem vernachlässigten Zustand seiner Wildgehege zu schließen – unwahrscheinlich schien, konnte sich North Riding für ein weiteres Jahr frei von seiner ansteckenden Anwesenheit halten. Für Venetia, die heiteren Gemüts ihren Korb mit Damerels Brombeeren füllte, war es daher eine große Überraschung, als sie entdeckte, daß er viel näher war, als irgendein Mensch vermutet hätte. Sie war den Waldrand entlang gegangen und stehengeblieben, um ihr Kleid von einem besonders stacheligen Brombeerzweig loszumachen, als eine amüsierte Stimme sagte: «Oh, wie voll Dornen ist doch diese Welt der Arbeit!»

Erschrocken wandte sie den Kopf und entdeckte, daß sie von einem hochgewachsenen Mann beobachtet wurde, der auf einem schönen Grauschimmel saß. Es war ein Fremder, aber Stimme und Kleidung verrieten seinen Stand, und es dauerte nur einen Augenblick, bis sie erriet, daß er der Verruchte Baron war, der da vor ihr stand. Sie betrachtete ihn mit ehrlichem Interesse, wobei sie ihm unbewußt eine ausgezeichnete Sicht auf ihr bezauberndes Gesicht gewährte. Er zog die Brauen hoch, schwang sich aus dem Sattel und kam mit langen, lockeren Schritten auf sie zu. Sie kannte keine modischen Männer, aber obwohl er wie jeder andere Landedelmann gekleidet war, lag doch ein ganz gewisses Etwas um seine Reithosen und seinen Rock aus modischem Braunrot. Den Anzug hatte kein Provinzschneider gemacht, und kein Geck vom Lande hätte ihn mit einer derart sorglosen Eleganz tragen können. Er war größer, als Venetia zuerst angenommen hatte, schlaksig, und trug sich mit einer leisen Andeutung von Arroganz. Ein Lächeln kräuselte die Lippen, aber Venetia hatte noch nie Augen gesehen, die derart zynisch blasiert dreinsahen.

«Nun, schöne Sünderin, es geschieht dir ganz recht, nicht?» sagte er. «Stillgestanden!»

Gehorsam rührte sie sich nicht, während er ihren Rock von den Brombeerranken losmachte. Als er sich aufrichtete, sagte er: «Da! Aber ich treibe immer eine Strafe von denen ein, die mir meine Brombeeren stehlen. Laß dich einmal anschauen!»

Bevor sie sich noch von ihrem Erstaunen erholt hatte, in einem solchen Stil angesprochen zu werden, hatte er schon einen Arm um sie gelegt und mit der freien Hand ihren Strohhut zurückgestreift. Mehr in Zorn als Angst versuchte sie, ihn wegzustoßen, und wehrte sich wütend. Er beachtete es überhaupt nicht; er hielt sie nur um so fester; etwas, das keine Blasiertheit mehr war, glitzerte in seinen Augen, und er brachte heraus: «Aber das ist ja die Schönheit persönlich ...!»

Und dann fand sich Venetia brutal geküßt. Mit hochroten Wangen und blitzenden Augen kämpfte sie angestrengt, um von einem stärkeren Griff loszukommen, als sie je erlebt hatte. Aber ihre Anstrengungen ließen Damerel nur lachen. Sie verdankte ihre Erlösung Flurry. Als der Spaniel aus dem Unterholz auftauchte und entdeckte, daß seine Herrin sich gegen die Arme eines Fremden wehrte, geriet er in große seelische Aufregung. Der Instinkt drängte ihn, zu ihrer Rettung zu eilen, aber eine verschwommen verstandene Vorschrift verbot es ihm, etwas zu beißen, das auf zwei Beinen ging. Er versuchte zunächst einen Kompromiß und bellte hysterisch. Das wirkte nicht – also siegte der Instinkt.

Da Damerel Reitstiefel trug, floß durch Flurrys heldenmütigen Angriff kein Blut, aber er veranlaßte ihn, auf den Spaniel hinunterzuschauen, wobei er seinen Griff um Venetia gerade genug lokkerte, daß sie imstande war, sich loszuwinden.

«Sitz!» befahl Damerel.

Flurry, der die Stimme eines Herrn und Meisters erkannte, setzte sich prompt hin, mit hängenden Ohren und flehend wedelndem Schwanz.

«Was, zum Teufel, hast du dir dabei gedacht, he?» sagte Damerel, packte ihn beim Unterkiefer und hielt ihm den Kopf hoch.

Flurry erkannte auch diese Stimme und tat, sehr erleichtert, sein Bestes, um zu erklären, daß der bedauerliche Zwischenfall aus einem Mißverständnis entstanden war. Venetia, die, statt die Gelegenheit zu ergreifen und davonzulaufen, sich ärgerlich die Bänder ihres Strohhutes band, rief aus: «Oh, kannst du überhaupt keinen Unterschied machen, du idiotisches Tier?»

Damerel, der den reuigen Flurry tätschelte, schaute auf und seine Augen wurden schmal.

«Und was Sie betrifft, Sir», sagte Venetia und begegnete dem prüfenden Anstarren mit einem flammenden Blick, «machen Ihre Zitate Ihre Annäherungsversuche um keine Spur akzeptabler für mich – und verführen mich nicht zu dem Glauben, daß Sie etwas anderes seien als <ein lästiger Schurke durch und durch!>»

Er brach in Lachen aus. «Bravo! Woher haben Sie das?»

Venetia, der plötzlich der Rest des Zitats einfiel, antwortete: «Wenn Sie das nicht wissen, werde ich es Ihnen bestimmt nicht sagen. Dieses Stück paßt gerade richtig auf Sie, aber der übrige Zusammenhang ginge nicht.»

«Oho! Jetzt bin ich aber wirklich neugierig geworden! Ich erkenne die Fachfrau und sehe, daß ich meinen Shakespeare sorgfältiger studieren muß.»

«Ich vermute, daß Sie Ihre Zeit selten so nützlich verwendet haben!»

«Wer sind Sie?» fragte er abrupt. «Ich habe Sie für eines der Dorfmädchen gehalten – wahrscheinlich die Tochter eines meiner Pächter.»

«Nein, wirklich? Nun, wenn Sie sich auf diese Art bei den Dorfmädchen aufzuführen gedenken, werden Sie hier nicht viel Gelegenheit finden!»

«O nein, die Gefahr ist eher, daß ich zuviel davon finden könnte!» gab er zurück. «Wer sind Sie? Oder sollte ich mich Ihnen zuerst vorstellen? Ich bin nämlich Damerel.»

«Ja, das habe ich gleich zu Beginn unserer entzückenden Bekanntschaft angenommen. Später war ich natürlich sicher.»

«Oh, oh ...! <Mein Ruf, Jago, mein Ruf!>» rief er aus und lachte wieder. «Schönes Verhängnis, Sie sind das ungewöhnlichste Frauenzimmer, dem ich in meinen ganzen achtunddreißig Jahren begegnet bin.»

«Sie können sich nicht vorstellen, wie tief ich geschmeichelt bin!» versicherte sie ihm. «Es würde mir bestimmt total den Kopf verdrehen, hätte ich nicht den Verdacht, daß unter so vielen Ihrem Gedächtnis etwa ein Dutzend entfallen sind.»

«Eher ein Hundert! Soll ich eigentlich Ihren Namen nie erfah ren? Ich werde es doch, wie Sie wissen, ob Sie ihn mir sagen oder nicht!»

«Das werden Sie ohne die geringste Schwierigkeit. Ich bin in diesem Lande viel besser bekannt als Sie, denn ich bin eine Lanyon of Undershaw!»

«Höchst eindrucksvoll! Undershaw? O ja! Ihr Besitz liegt neben dem meinen, nicht? Ist es eine Gewohnheit von Ihnen, ohne jede Begleitung herumzuwandern, Miss Lanyon?»

«Ja – außer natürlich, wenn ich gewarnt wurde, daß Sie in der Priory sind!»

«Gehässige kleine Katze!» sagte er anerkennend. «Wie, zum Teufel, hätte ich Miss Lanyon of Undershaw in einem verdrückten Kleid und einem Strohhut erkennen sollen, und sogar ohne die Begleitung ihrer Jungfer?»

«Oh, soll ich darunter verstehen, daß Sie, hätten Sie meinen Stand gewußt, mich nicht belästigt hätten? Wie ritterlich!

«Nein, nein, ritterlich bin ich nicht!» sagte er, sie verspottend. «Die Anwesenheit Ihrer Jungfer hätte mich im Zaum gehalten, nicht Ihr Stand. Ich beklage mich ja nicht, aber ich staune über den Wagemut einer solchen kleinen Schönheit, daß sie allein herumstreift. Oder wissen Sie nicht, wie wunderschön Sie sind?»

«Doch», antwortete Venetia und nahm ihm damit den Wind aus den Segeln. «<Item zwei Lippen, blasses Rot ...>»

«O nein, Sie irren sich ganz und gar, und haben sich außerdem an den falschen Dichter gewandt! <Wie Rosenknospen sehen sie aus, gefüllt mit Schnee.>»

«Ist das aus <Reife Kirschen>?» fragte sie. Er nickte und unterhielt sich sehr über ihren plötzlich konzentrierten Blick. Dann funkelten ihre Augen vor Triumph; sie lachte glucksend und gab zurück: «Dann weiß ich, was nachher kommt! <Doch kann kein Peer noch Prinz sie ersteh'n, wenn sie nicht selber danach fleh'n!> Lassen Sie sich das also eine Lehre sein, aufzupassen, welche Dichter Sie wählen!»

«Aber Sie sind ja bezaubernd!» rief er aus.

Sie streckte schnell die Hände vor sich, um ihn von sich abzuhalten. «Nein!»

Er packte ihre Handgelenke, bog sie hinter ihren Rücken, hielt sie fest und drückte sie so Brust an Brust an sich. Ihr Herz schlug schnell, sie war atemlos, fürchtete sich aber nicht.

«Ja!» sagte er, immer noch spöttisch. «Sie hätten eben davonlaufen sollen, mein Goldmädchen, solange Sie noch eine Chance dazu hatten!»

«Ich weiß, das hätte ich tun sollen, und ich weiß überhaupt nicht, warum ich es nicht getan habe», antwortete sie, unheilbar aufrichtig.

«Ich könnte es vielleicht erraten.»

Sie schüttelte den Kopf. «Nein. Nicht, wenn Sie meinen, weil ich wollte, daß Sie mich wieder küssen, denn das will ich gar nicht. Ich kann Sie nicht davon abhalten, weil ich soviel weniger stark bin als Sie. Sie brauchen nicht einmal zu fürchten, daß Sie dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Mein Bruder ist ein Schuljunge und – sehr lahm. Vielleicht wissen Sie das schon?»

«Nein, und ich bin Ihnen sehr verbunden, daß Sie mir das sagen! Ich sehe, ich brauche keine Gewissensbisse zu haben.»

Sie schaute prüfend zu ihm auf und versuchte seine Gedanken zu lesen, denn obwohl er spottete, hatte sie das Gefühl, daß seine Stimme etwas bitter klang. Als sie ihm aber in die Augen starrte, sah sie, daß sie lächelten und trotzdem wild waren, und ein Vers von Byron blitzte in ihr auf: <Ein Teufel lächelte in seinem Grinsen...> «Oh, lassen Sie mich doch los!» bat sie. «Mir ist plötzlich etwas höchst Amüsantes eingefallen! O Himmel! Der arme, arme Oswald!»

Er war ziemlich verblüfft, sowohl über das echte Vergnügtsein, das in ihrem Gesicht stand, wie über das, was sie gesagt hatte, und er ließ sie los. «Ihnen ist plötzlich etwas höchst Amüsantes eingefallen?» wiederholte er verständnislos.

«Danke!» sagte Venetia und schüttelte ihr zerdrücktes Kleid ein wenig aus. «Ja, wirklich, obwohl Sie es wahrscheinlich nicht für einen guten Witz halten würden, aber das käme daher, weil Sie ja Oswald nicht kennen.»

«Und wer, zum Teufel, ist das? Ihr Bruder?»

«Guter Gott, nein! Es ist der Sohn Sir John Dennys, und sein höchster Wunsch ist es, mit dem Corsair verwechselt zu werden. Er kämmt sein Haar in wilde Locken, knüpft sich seidene Tücher um den Hals und brütet über den dunklen Leidenschaften seiner Seele.»

«Tut er das wirklich? Und was hat dieser junge Hund mit alledem zutun?»

Sie hob ihren Korb auf. «Nur das eine, daß er, falls er Sie je kennenlernt, ganz grün vor Eifersucht wird, denn Sie sind genau das, was er gern sein möchte – obwohl Sie das Romantische in Ihrem Aufzug nicht erst mühsam einstudieren müssen.»

Einen Augenblick lang schaute er wie vom Donner gerührt drein und würgte heraus: «Ein Byronscher Held ...! O mein Gott! Sie abscheuliches kleines ...» Er brach ab, als ein Fasanhahn aus dem Wald aufflog, und sagte gereizt: «Muß dieser nichtsnutzige Hund von Ihnen meine Vögel so verflucht wild machen?»

«Ja, weil mein Bruder nicht mag, daß er das in Undershaw tut, und das ist der Grund, warum ich ihn heute hierher mitgenommen habe. Wild aufscheuchen tut er ganz besonders gern, und da er als Jagdhund ganz ungeeignet ist, weil er schußscheu ist, der arme Kerl, hat er wenig Gelegenheit, es zu tun. Haben Sie etwas dagegen? Ich sehe nicht ein, warum, wenn Sie ohnehin nie zur Jagd herkommen!»

«Das habe ich nur bisher nie getan!» gab er zurück. «Aber dieses Jahr sieht es damit ganz anders aus! Ich gebe zu, daß ich nicht vorgehabt habe, mehr als ein paar Tage im Yorkshire zu bleiben, aber das war, bevor ich Sie kennengelernt habe. Jetzt werde ich erst einmal in der Priory bleiben!»

«Wie großartig!» sagte Venetia liebenswürdig. «Im allgemeinen ist es ein bißchen öde hier, aber damit wird sofort Schluß sein, wenn Sie unter uns zu bleiben gedenken!» Sie erblickte Flurry, rief ihn bei Fuß und knickste leicht. «Leben Sie wohl!»

«Oh, doch nicht Lebewohl!» protestierte er. «Ich habe vor, Sie besser kennenzulernen, Miss Lanyon of Undershaw!»

«Es ist doch wirklich ein Jammer nach einem so vielversprechenden Anfang, daß Sie das nicht werden, aber das Leben ist, wie Sie wissen, voller Enttäuschungen, und dieser Fall hier, muß ich Sie warnen, wird sich sehr wahrscheinlich als eine von ihnen herausstellen.»

Er schloß sich ihr an, als sie sich in die Richtung zum Drehkreuz bewegte. «Angst?» fragte er aufreizend.

«Was für eine stupide Frage!» sagte sie. «Ich hätte wirklich angenommen, Sie wissen, daß Sie der Menschenfresser sind, der unweigerlich über jedes schlimme Kind im Distrikt herfällt!»

«So schlimm ist das?» sagte er ziemlich erschrocken. «Soll ich lieber versuchen, meinen gräßlichen Ruf zu rehabilitieren – was meinen Sie?»

Sie hatten das Drehkreuz erreicht, und sie ging hindurch. «O nein, dann hätten wir hier ja nichts mehr, worüber wir klatschen könnten!»

«Beißzange!» bemerkte er. «Na ...! Erzählen Sie Ihrem lahmen Bruder, wie schamlos ich Sie behandelt habe, und fürchten Sie nichts! über ihn werde ich nicht herfallen!»