7
Edward Yardley kehrte zwar in einer unzufriedenen Stimmung heim, befürchtete aber nicht mehr, daß sich Damerel als sein Rivale erweisen könnte. Er hatte ihm nicht gefallen, und Edward konnte weder in seinen Manieren noch in seiner Erscheinung etwas erblicken, das vernünftigerweise Venetias Gefallen erregen hätte können. Da Edward selbst peinlich genau in allen Höflichkeitsformen war, fand er, daß Damerels legere Sorglosigkeit einem Mann von Rang nicht entsprach, und seine ziemlich abrupte Art zu reden einen nur anwidern konnte. Was seine Erscheinung betraf, so war da schließlich auch nicht viel los – er hatte eine gute Gestalt, aber sein Gesicht war hart, die Züge durchaus nicht regelmäßig, und er hatte einen dunklen Teint; seine Kleidung war nicht besonders modisch. Hätte Damerel enge gelbe Hosen getragen, blitzblanke Schaftstiefel, eine taillierte Jacke, ein monströses Halstuch, übertrieben hohe Kragenspitzen, Ringe an den Fingern und baumelnde Berlocken, dann hätte er Edward vielleicht als ein gefährlicher Bursche erscheinen können. Aber Damerel trug eine gewöhnliche Reitjacke und wildlederne Reithosen, ein ziemlich bescheidenes Halstuch und keinen anderen Schmuck als einen schweren Siegelring und ein Einglas – ein Modegeck war er nicht. Er sah nicht einmal sehr nach einem Meilenfresser aus, obwohl man ihm nachsagte, daß er ein erstklassiger Fahrer sei – ja, ein richtiger Raser. Edward, der einen «Korinther» erwartet hatte, neigte dazu, ihn für ziemlich schäbig zu halten – mehr Bellen als Beißen, meinte er, als er sich an einige der ausgefallenen Geschichten erinnerte, die ins Yorkshire durchgesickert waren. Er schmeichelte sich, daß er ja nie auch nur die Hälfte davon geglaubt hatte – so zum Beispiel die Sache mit der römischen Edeldame, von der es hieß, sie hätte Gatten und Kinder verlassen, um mit Damerel an Bord der Jacht im Mittelmeer zu kreuzen, die er die Frechheit gehabt hatte, «Korinth» zu taufen. Oder jene verwirrende Hochstaplerin, mit der er wie ein Meteor quer durch das befreite Europa geschweift war, eine Reise, die berühmt geworden war durch die Mengen frischer Rosenblätter, die Damerel auf den Boden ihrer verschiedenen Appartements hatte streuen lassen, und das Meer von rotem Champagner, der zu ihrer Erfrischung floß. Edward, der feierlich versucht hatte, die Kosten dieser extravaganten Grillen auszurechnen, hatte in Wirklichkeit die Geschichte nicht geglaubt. Und jetzt, nachdem er Damerel von Angesicht zu Angesicht kennengelernt hatte, tat er sie als gänzlich unglaubwürdig ab. Er hatte nicht wirklich Angst gehabt, daß ein unvernünftiges Frauenzimmer der Verlockung einer solchen trügerisehen Großartigkeit erliegen würde, aber als er von der Priory wegritt, war er doch, ohne es sich zu gestehen, erleichtert. Damerel mochte vielleicht versuchen, Venetia zum Gegenstand seiner Galanterie zu machen – obwohl er anscheinend von ihrer Schönheit nicht sehr beeindruckt war –, aber Edward, der seinen eigenen Wert kannte, konnte nicht das Gefühl haben, daß er selbst in Gefahr war, in ihren Augen von solch einem brüsken Kerl mit kantigem Gesicht verdunkelt zu werden. Frauenzimmern ging von Natur aus Urteilsvermögen ab. Aber Edward hielt Venenas Verstand für höher als das des Frauengeschlechts im allgemeinen, und obwohl sie nur wenige Männer kennengelernt hatte, mußten ihr die drei, die sie gut kannte – ihr Vater, Conway und er – einen Maßstab für Benehmen und Anstand geschenkt haben, mit dem sie Damerel genügend vernünftig einzuschätzen imstande war.
Das Schlimmste an der Angelegenheit, entschied Edward, war der Schaden für ihren Ruf, wenn ihre täglichen Besuche in der Priory bekannt werden würden. Und diese Möglichkeit quälte ihn so sehr, daß er die ganze Geschichte seiner Mutter erzählte.
Eine nachgiebige kleine Frau war diese Mrs. Yardley, derart farblos, daß kein Mensch vermutet hätte, wie sehr und eifersüchtig sie ihr einziges Kind vergötterte. Sie hatte eine Haut wie Pergament, dünne, blutleere Lippen und Augen von einem matten, ausgeblichenen Blau; die Haare, die sie säuberlich unter einer Witwenhaube zusammengerafft trug, waren von einer unbestimmbaren Farbe zwischen Sand und Grau. Sie sprach nicht viel und hörte Edward ohne Kommentar zu, fast ausdruckslos. Nur als er ihr um eine Spur zu beiläufig erzählte, daß Venetia Aubrey täglich in der Priory besuchte, flackerte eine Spur von Ausdruck in ihren Augen auf, und dann war das nicht mehr als ein blitzschneller Eidechsenblick, ebenso schnell vorüber, wie er gekommen war. Edward bemerkte ihn nicht, sondern fuhr fort, ihr alle Umstände zu erklären, ohne sie um ihre Meinung zu fragen, eher belehrend, wie das seine Gewohnheit war. Als er dann eine Pause machte, sagte sie «Ja» mit der ausdruckslosen Stimme, die keinen Schlüssel zu ihren Gedanken lieferte. Im allgemeinen hätte er sich mit dieser dürftigen Antwort völlig zufriedengegeben, aber bei dieser Gelegenheit fand er sie ungenügend, denn als er ihr erzählte, wie normal es für Venetia war, die Priory zu besuchen, ohne jemand anderen als Nurse zur Anstandsdame mitzuhaben, hatte er gegen seine eigene Überzeugung argumentiert und wollte eine Bestätigung haben.
«Man kann nicht gut erwarten, daß sie es nicht tut», sagte er. «Du weißt, wie sie an Aubrey hängt!»
«Ja, wirklich. Er ist ihr großen Dank schuldig. Ich habe das schon immer gesagt», antwortete sie.
«Oh, was das betrifft ...! Ich möchte es ja auch gern glauben, aber er ist einer, der alles für selbstverständlich nimmt. Das Wichtige daran ist, daß nichts dabei ist, wenn Venetia ihn besucht!»
«O nein!»
«Unter den herrschenden Umständen, weißt du, und da doch Nurse dort ist – und schließlich ist sie auch kein junges Mädchen mehr. Ich sehe nichts daran, worüber die Leute klatschen könnten, nicht?»
«O nein! Ich bin überzeugt, das werden sie nicht.»
«Natürlich kann es mir nicht passen, daß sie mit einem solchen Mann zwangsweise bekannt wird, aber ich bilde mir ein, ich habe ihm klargemacht, wie die Sache steht – habe ihm sozusagen durch Andeutungen abgewinkt, falls er auch nur irgendwie daran dachte, sie zu fesseln. Nicht, daß ich da etwa viel befürchte – ich glaube, ich habe ein ziemlich gutes Urteil, und mich dünkt, daß er überhaupt nicht von ihr beeindruckt war.»
«Ich vermute, sie ist nicht sein Fall.»
Sein Gesicht hellte sich auf. «Nein, sehr wahrscheinlich ist sie das nicht! Zweifellos langweilen ihn tugendhafte Frauen. Und wie du weißt, mangelt es ja gerade ihr nicht an Vernunft. Unter dieser spaßhaften Scherzhaftigkeit steckt bei ihr ein wirklich zarter Charakter, und so wie sie geartet ist, ist sie zu sauber, als daß sie es sich erlauben würde, Seine Lordschaft zu irgendeiner Einbildung, die die Grenzen überschreiten würde, zu ermutigen.»
«O nein! Ich bin überzeugt, das würde sie nicht.»
Er sah erleichtert drein. Aber nachdem er eine Weile mit der Vorhangschnur gespielt hatte, sagte er ärgerlich: «Aber eine peinliche Situation ist es doch! Es ginge mir sehr gegen den Strich, wenn ich gezwungen wäre, mit Lord Damerel eine intimere Bekanntschaft pflegen zu müssen, selbst wenn wir nahe genug an der Priory leben würden, daß häufige Besuche in seinem Haus überhaupt möglich wären. In einem solchen Fall würde ich es vielleicht als meine Pflicht ansehen. – Aber jeden Tag dreißig Minuten zu reiten – hin und zurück, mußt du wissen! –, steht außer Frage.»
«O ja, mein Lieber, du hast sehr recht! Ich glaube nicht, daß du überhaupt hinreiten solltest. Ich bin überzeugt, daß es Aubrey in ein, zwei Tagen gut genug gehen wird, daß er heimfahren kann, und es ist nicht anzunehmen, daß Lord Damerel noch lange in der Priory bleibt. Das tut er doch nie, nicht?»
Diese freundliche Ansicht der Sache tat viel, um Edwards Unbehagen zu beschwichtigen. Und es erleichterte ihn noch mehr, als er am nächsten Abend seine Mutter zu einem Diner in Ebbersley begleitete und seine Gastgeberin die Sache als nicht besonders wichtig betrachtete.
Hierin irrte er, aber Lady Denny mochte den sentenziösen jungen Mann nicht, und sie nahm sich zusammen, um die Bestürzung zu verbergen, die sie befallen hatte, als ihr Sir John die Neuigkeit brachte. Sir John hatte sie von Damerel selbst, den er in Thirsk getroffen hatte, und hatte sie ihr in der denkbar beiläufigsten Weise mitgeteilt. Als sie vor Entsetzen in Ausrufe ausgebrochen war, hatte er sie mit erhobenen Brauen angestarrt. Und als sie gefragt hatte, was da zu tun sei, hatte er sie zunächst ersucht, ihm zu erklären, was sie wohl damit meine. Und als er eine ziemlich aufrichtige Erklärung erhalten hatte, hatte er sie weiterhin eine ganze Minute lang angestarrt, als hätte sie ein Kauderwelsch dahergeredet, und sich schließlich wieder mit einer trocken vorgebrachten Empfehlung, nicht so töricht zu sein, in sein Buch vertieft.
Aber es war nicht sie, wer da töricht war, wie sie ihm unverzüglich klarmachte. Er mochte sagen, was er wollte – eine großmütige Erlaubnis, deren er sich nicht zu bedienen geneigt zeigte –, aber sie wußte sehr gut, was wahrscheinlich dabei herauskommen würde, wenn man ein unerfahrenes Mädchen in die Arme eines berüchtigten Wüstlings trieb. Sir John mußte ihr gar nicht erst sagen, daß Damerel keine unanständigen Annäherungsversuche bei einer Dame in Venetias Situation machen würde – sehr wahrscheinlich würde er das nicht, obwohl man nie voraussagen konnte, was ein Mann mit einem solchen Ruf zu tun imstande war –, aber, bitte sehr, hatte er eigentlich überlegt, wie äußerst wahrscheinlich es war, daß er die arme Unschuld dazu verführen würde, sich in ihn zu verlieben, und dann weggehen und sie mit gebrochenem Herzen zurücklassen?
Als Sir John so geradeheraus gefragt wurde, sagte er nein, das habe er nicht in Betracht gezogen. Er glaube nicht, daß Venetia eine arme Unschuld war – immerhin war sie fünfundzwanzig, eine Frau von überlegener Vernunft und ruhiger Veranlagung. Seiner Meinung nach war sie sehr wohl imstande, sich vorzusehen. Er fügte noch hinzu, er hoffe, Ihre Gnaden ließe sich ebenfalls davon zurückhalten, viel Lärm um Nichts zu schlagen und sich in etwas einzumischen, das sie gar nichts angehe.
Diese stupide Gleichgültigkeit konnte man nicht ohne Tadel hingehen lassen; aber nachdem Lady Denny sie behandelt hatte, wie es ihr zukam, dachte sie allmählich selbst, daß darin vielleicht ein Körnchen Wahrheit steckte, daß schließlich doch nichts sehr Schreckliches bei Venetias Bekanntschaft mit einem Wüstling herauskom men mußte. Auf jeden Fall hatte sie nicht vor, Edward Yardleys Einbildung zu ermutigen. Als er daher in ernstem Ton sagte, sie hätte doch zweifellos von Aubreys unglückseligem Unfall gehört, tat sie die ganze Sache leicht ab, ja ging sogar so weit, zu sagen, sie sei froh, daß ein glücklicher Zufall Damerel zu der Stelle hingeführt hatte und er so vernünftig gewesen war, unverzüglich um Dr. Bentworth zu schicken.
Das ging denn doch zu weit, und Edwards Gesicht wurde streng. Lady Denny wandte sich von ihm ab, um Mr. und Mrs. Trayne zu begrüßen, aber der Erbe des Hauses, der beobachtete, wie Edwards Oberlippe lang wurde, betrachtete ihn verächtlich und äußerte düster und leise: «Unnötig, dich aufzuspielen – Miss Lanyon weiß, daß sie sich ja auf mich verlassen kann!»
Da es der Anstand Edward verbot, dem jungen Mr. Denny eine Zurechtweisung zu verabfolgen, mußte er so tun, als hätte er diese Außerung nicht gehört. Aber sein Gemüt war aus dem Gleichgewicht gebracht, und seine Zweifel keimten wieder. Im Laufe des Abends jedoch bezog er einen gewissen Trost von Miss Denny, die ihm anvertraute, Venetia tue ihr aufrichtig leid. In ihren Augen, vor denen die sentimentale Vision eines blonden, stattlichen Soldaten stand, war Damerel gräßlich häßlich, ziemlich alt und durchaus nicht ein Mann, mit dem man plaudern konnte. «Die arme Venetia!» sagte die sanfte Clara. «Ich bin überzeugt, sie wird einfach fertig sein vor lauter Höflich-sein-Müssen, und zu Tränen gelangweilt! Mit Emily oder mir hat er kaum gesprochen, als Papa ihn einmal hergebracht hat, und Mama sagte er nur das Allerbanalste. Das wird Venetia nie im Leben genügen, nicht? Denn sie ist so lebendig, und außerdem ist sie gewöhnt, sich mit dir und Aubrey zu unterhalten. Ihr seid alle so klug!»
Edward war erfreut, antwortete aber mit einem duldsamen Lächeln über die feminine Einfalt: «Ich hoffe, daß meine Konversation zumindest vernünftig ist, aber ich gebe nicht vor, gelehrt zu sein, weißt du. In dieser Beziehung, fürchte ich, überstrahlt mich Aubrey beträchtlich!»
«Natürlich, er ist ein großer Bücherwurm, nicht?» stimmte Clara zu.
«So würde zumindest ich ihn beschreiben, gebe ich zu, aber Lord Damerel, fürchte ich, hält seinen Intellekt für bemerkenswert.»
«Wirklich? Ja, ich nehme an, das stimmt, denn ich verstehe jedenfalls nicht die Hälfte von dem, was er sagt. Aber du bist ja auch so sehr gebildet, und doch drückst du dich viel klarer aus, so daß ich imstande bin, deinen Argumenten zu folgen, selbst wenn ich nicht klug genug bin, selbst mitzureden.»
Er hatte viel zuviel Achtung vor der Wahrheit, um ihr diesbezüglich zu widersprechen, aber er sagte ihr sehr nett, daß er Blaustrümpfe nicht sehr schätze, und amüsierte sie mit einem Paradoxon – daß die Weisesten ihres Geschlechts nicht danach strebten, klug zu sein. Darüber lachte sie herzlich und rief aus: «Da! Das ist genau, was ich meinte, als ich sagte, daß Venetia Lord Damerel langweilig finden würde! Ich bin überzeugt, ihm fällt nicht einmal im Schlaf ein, etwas derart Witziges zu sagen!»
Während also Lady Denny versuchte, sich zu überreden, daß Venetia viel zuviel Verstand habe, um sich in einen Wüstling zu verlieben, fuhr Edward von der Vision aufgemuntert heim, daß sie sich langweilen würde, weil Damerel keine Konversation zu machen verstand. Und da keiner von beiden Venetia eine beträchtliche Zeit hindurch zu Gesicht bekam, blieb dieses friedliche Behagen ihrer Freunde ungestört von jeglicher Kenntnis, wie das Glühen des Glücklichseins die Schönheit der lieblichen Miss Lanyon zusätzlich aufblühen ließ.
Aubrey blieb zehn Tage in der Priory, und selbst das Wetter verschwor sich, diese Tage für seine Schwester paradiesisch zu machen. Es gab nur einen einzigen nassen und kühlen Tag, und dann sickerte das Gold der reifenden Landschaft ins Haus, denn Damerel ließ ein Feuer in der Bibliothek anzünden, und dessen Licht, das über die Lederrücken der Bände flackerte, die die Wände des vertäfelten Raums bis zur Decke bedeckten, ließ sie wie vergilbende Blätter erglühen. Damerel trug Aubrey herunter, bettete ihn auf ein Sofa, und sie spielten zu dritt Cribbage, brüteten über Bücher mit Kupferstichen, entdeckten auf den überfüllten Bücherborden seltene Schätze und stritten heiß über jedes denkbare Thema vom Sein materieller Dinge bis zu der Behauptung, daß ein schwarzes Pferd ohne einen einzigen weißen Fleck unbedingt voll Unheil und Pech stecken müsse. Dann brachte Damerel seine Skizzenbücher aus Griechenland herbei, die Aubrey in flammende Begeisterung versetzten – und Nurse, die mit ihrer endlosen Schiffchenarbeit beim Fenster installiert saß, schaute über ihre Brille auf die Gruppe beim Kamin und war zufrieden. Die Lanyons steckten ihre Köpfe über einem Bildband zusammen, Venetia auf dem Fußboden neben dem Sofa sitzend, Aubrey erklärte ihr die Bilder, und das Paar schaute hie und da zu Seiner Lordschaft auf, der hinter der Sofalehne stand, und bestürmte ihn mit Fragen. Nurse betrachtete sie als Kinder, und Damerel als einen Erwachsenen wie sie selbst, der ihnen gutmütig erlaubte, ihn mit ihren Fragen zu quälen. Vielleicht war es falsch, einen so legeren Verkehr mit einem Sünder zur Gewohnheit für sie werden zu lassen, aber obwohl die Heilige Schrift einen warnte, daß die Schlechten wie ein Meer in Aufruhr seien, dessen Gewässer Kot und Schmutz aufrührten, hielt sie auch einige hübsche scharfe Warnungen gegen Verleumder und ungerechte Zeugen bereit. Jeder Nächste wird von Verleumdungen begleitet, sagte der Prophet Jeremias, und man brauchte ja nur einen Blick über die Grafschaft zu werfen, um zu wissen, wie richtig das war. Nurse neigte sehr dazu, in Seiner Lordschaft das Opfer falscher Berichte zu sehen. Wenn jemand sie gefragt hätte, wäre jedenfalls alles, was sie hätte sagen können, gewesen: sie nehme die Leute, wie sie sie fand, und sie finde ihn genauso, wie irgendein Gentleman seines Alters sein sollte, der sich Miss Venetia und Mr. Aubrey gegenüber eher wie ein Onkel denn als ein Verführer benahm und es viel besser als die meisten Gentlemen verstand, was für eine schwere Aufgabe es war, sich um ein derart starrköpfiges Paar zu kümmern. Wenn es stimmte, daß er einmal mit einer verheirateten Dame durchgebrannt war – nun, das war vor sehr vielen Jahren geschehen, und Nurse wußte, was von solchen Damen zu halten war – Dirnen, das waren sie, und der Himmel stehe dem jungen Mann bei, den sie in ihre Klauen kriegten! Und wenn es stimmte, daß sich erst vor einem Jahr üble Dinge in der Priory abgespielt hatten – nun, die Heilige Schrift beschwor den Bösen, seinen Weg zu verlassen, und vielleicht hatte Seine Lordschaft dies getan. Jetzt jedenfalls ging nichts Übles vor, das war alles, was sie, Nurse, wußte.
Damerel hatte drei Tage gebraucht, um Nurse um den Finger zu wickeln – zu beschwatzen, nannte es Aubrey, der ihn mit seinem unterdrückten Gelächter fast zu Fall gebracht hätte, als er hörte, wie Damerel ihr zustimmte, es nütze nichts, alle Möbel in Sommerüberzüge zu stecken und zu hoffen, die Motten auf solche Weise abzuhalten; daß die Stühle und Tische und Schränke in den unbenützten Salons wirklich einmal gut poliert werden sollten; daß er nur zu froh wäre, wenn das ganze Haus in Ordnung gebracht werden könnte. Das genügte Nurse, der es in Undershaw nie erlaubt wurde, sich einen Übergriff auf der Domäne Mrs. Gurnards herauszunehmen. Aber Mrs. Imber war eine hilflose, demütige Kreatur, die das tat, was ihr geheißen wurde, und dankbar für Rat und Unterweisung war. Die Nurse, die mit dem äußersten Widerwillen in die Priory gegangen war, unterhielt sich großartig und hatte nicht vor, sie zu verlassen, bis sie mit Hilfe der Imbers, der Gärtnersfrau und eines stämmigen Mädchens aus dem Dorf das Haus von innen nach außen gekehrt hatte, wie Imber es mürrisch formulierte. Zum erstenmal seit den Tagen, da sie uneingeschränkt über das Kinderzimmer in Undershaw geherrscht hatte, schwang sie unbestritten das Zepter, und sowie sie festgestellt hatte, daß von Damerel nichts zu fürchten war, lockerte sie ihre Wachsamkeit und trottete durch das ganze große, weitläufige Haus, trieb ihre Sklaven an und war derart in ihre Hausfrauenpflichten vertieft, daß sie weder das Glühen in Venetias Augen bemerkte noch ahnte, daß sie, wenn Nurse annahm, sie sei heimgefahren, mit Damerel zusammen war, vielleicht im Garten saß, vielleicht entlang des Flußufers dahinschlenderte oder ihm erlaubte, sie nach Undershaw – auf dem längsten Weg – zurückzubegleiten.
Damerels Stallbursche und sein Kammerdiener wußten es beide, aber Nidd erzählte Nurse nicht, wie viele Stunden Venetias Stute oder das Halbblut, das sie im Gig kutschierte, in den Ställen der Priory verbrachte. Und wenn sie fragte, ob Venetia heimgefahren war, erzählte ihr Marston nicht, daß sie das in der Gesellschaft seines Herrn getan hatte.
Nidd hielt sie für ein seltsames Paar, aber als er das zu Marston sagte, erhielt er keine Antwort, sondern wurde nur ausdruckslos angestarrt. Aber Marston hielt es ebenfalls für seltsam, weil es Seiner Lordschaft gar nicht ähnlich sah, daß er seinen Köder nach unschuldigen jungen Damen auswarf, noch viel weniger ihnen aus der Hand fraß. Er war zwar leichtfertig, aber nicht so leichtfertig. Oder vielleicht war er zu erhaben dafür, sich mit Jungfern von Rang abzugeben – Marston wußte es nicht, aber eines wußte er sehr wohl: daß in all den Jahren, in denen er Seiner Lordschaft gedient hatte, er ihn nie einer solchen Lady wie Miss Lanyon nachlaufen gesehen hatte. Er hatte ihn auch nie sich einer seiner Geliebten gegenüber so betragen gesehen, wie er sich ihr gegenüber betrug, oder ihn so ruhig und nüchtern gekannt. Seit dem Tag, da er Mr. Aubrey ins Haus getragen hatte, war er nicht ein einzigesmal angesäuselt gewesen, und das war ein sicheres Zeichen, daß er sich nicht langweilte oder in einer seiner düsteren Stimmungen steckte. Er war nicht einmal rastlos, und doch hatte er nicht vorgehabt, mehr als ein, zwei Tage in der Priory zu bleiben. Sie waren auf ihrem Weg zur Jagdhütte des Lord Flavell gewesen, aber sie fuhren dann doch nicht hin – alles, was er Marston gesagt hatte, war, daß er abgeschrieben hatte. Würden sie dann also nach London zurückkehren, wenn Mr. Aubrey die Priory verlassen haben würde? Seine Lordschaft hatte keine Pläne, aber gemeint, er würde wohl eine Weile im Yorkshire bleiben.
Es konnte sein, daß er sich mit einer neuen Sorte Flirt unterhielt, aber bei jedem anderen Mann hätte es beträchtlich nach Werben ausgesehen. Wenn es das war, dann fragte sich Marston, ob Miss Lanyon wohl wußte, was für ein Leben Seine Lordschaft geführt hatte, und was dieser ältere Bruder von ihr wohl zu einer solchen Verbindung zu sagen hätte.
Marston wäre entsetzt gewesen, hätte er geahnt, wieviel Venetia wußte und wie sehr sie sich über einige von Damerels Abenteuern, die erzählbar waren, unterhielt; und er wäre beträchtlich erstaunt gewesen, hätte er gewußt, auf was für einem Fuß legerer Kameradschaft dieses sehr sonderbare Paar stand.
Sie waren enge Freunde – ein Fremder hätte angenommen, sie seien verwandt, so frei und ungezwungen unterhielten sie sich miteinander, und so weit entfernt von jeder bloßen Tändelei waren sie. Da Damerel einmal aus Gründen der Taktik in dem Spiel, das wenige besser zu spielen wußten als er, die Rolle des fidus Achates, die ihm aufgezwungen wurde, übernommen hatte, entdeckte er bald, daß er Venetia bei den kniffligen Problemen beriet, die ihr aus ihrer Stellung als Majordomus der Besitzungen ihres älteren Bruders erwuchsen, oder mit ihr die besonderen Schwierigkeiten diskutierte, die sich aus der anscheinenden Entschlossenheit ihres jüngeren Bruders ergaben, seine zarte Konstitution durch seinen mächtigen Verstand zugrunde zu richten. Er gab ihr bessere Ratschläge, als er selbst sie je in die Praxis umgesetzt hatte, sagte ihr aber rundheraus, daß sie nur wenig tun konnte, um Aubrey von seiner verzehrenden Leidenschaft abzulenken. «Er ist zuviel allein gewesen. Wenn es möglich gewesen wäre, ihn nach Eton zu schicken, hätte er dort zweifellos Freundschaften geschlossen. Aber so wie die Dinge stehen, scheint er nur zwei Freunde zu haben: Sie und seinen alten Pauker – diesen Pfarrer, von dem er redet, ich habe seinen Namen vergessen. Was er nötig hat, ist, sich mit Sprößlingen seines Alters anzufreunden, die seine Steckenpferde teilen, und seine Angst zu bezwingen, daß er bemitleidet und verachtet wird.»
Sie warf ihm einen sprechenden Blick zu. «Wissen Sie, daß Sie der erste Mensch sind, der erkannt hat, daß er sein Lahmsein in gerade dieser Weise haßt? Selbst Dr. Bentworth versteht das nicht so richtig, und ich kann es nur ahnen, weil er nicht davon spricht. Aber er hat mit Ihnen darüber gesprochen, nicht? Er hat mir erzählt, was Sie ihm gesagt haben – daß Sie, wenn Sie die Wahl zwischen einem prächtigen Körper und einem prächtigen Geist hätten, den Geist wählen würden, weil dieser den Körper viel länger überdauert. Ich weiß, daß ihn das ziemlich getroffen hat, denn sonst hätte er es mir nicht erzählt, und ich war Ihnen derart dankbar, daß ich Sie hätte umarmen können!»
«Tun Sie's auf alle Fälle!» sagte er prompt.
Sie lachte, schüttelte aber den Kopf. «Nein, ich mache keinen Spaß. Sehen Sie, es war genau das Richtige, das man sagen konnte, und daß er überhaupt darüber mit Ihnen gesprochen hat, zeigt mir, wie gern er Sie hat. Im allgemeinen, wissen Sie, ist er Fremden gegenüber sehr steif, und wenn Leute wie Lady Denny sich nach seiner Gesundheit erkundigen oder Edward ihm aus seinem Sessel hochzukommen hilft, wird er geradezu starr vor Wut!»
«Das kann ich mir vorstellen! Tut das dieser Einfaltspinsel?»
«Ja, und was immer ich ihm sage, er bleibt dabei! Es ist nichts als Gutmütigkeit, ich weiß, aber ...»
«Was diesem unserem ungnädigen Racker schon an Gutmütigkeit liegt!»
«Genau das habe ich Edward gesagt, aber er hielt das für Unsinn. Aber Ihre Sorte Gutmütigkeit, gerade an der liegt ihm. – Ich meine, daß Sie nicht nur auf seine einzigen Interessen eingehen, sondern ihn auch aufziehen und ihn beschimpfen und ihm drohen, brutal zu werden, wenn er diesen gräßlichen Baldrian nicht schluckt!»
«Ist das Ihre Vorstellung von Gutmütigkeit?» fragte er einigermaßen amüsiert.
«Ja, und auch die Ihre, sonst würden Sie sie nicht an den Tag legen. Ich vermute, es gibt Aubrey das Gefühl, daß er genau wie jeder andere Junge ist – oder zumindest, daß Sie sich keinen Pfifferling um sein lahmes Bein kümmern. Es hat ihm sehr gut getan, bei Ihnen zu sein – viel besser als je bei mir, weil ich nur ein Frauenzimmer bin. Noch dazu eine Schwester, was es noch schwerer macht.»
«Sie sind ihm eine gute Schwester. Ich hoffe, Sie werden Ihren Lohn dafür erhalten – bezweifle es aber stark. Lassen Sie nicht zu, daß er Sie verletzt! Er hat Sie sehr gern, aber er ist ein Egoist, meine Liebe.»
«Oh, das weiß ich!» sagte sie heiter. «Aber er ist es nicht so schlimm, wie Papa es war, versichere ich Ihnen, oder gar Conway! Aubrey würde sehr wahrscheinlich alles tun, um mir einen Gefallen zu erweisen, wenn er je daran dächte, aber Papa nicht, und was Conway betrifft, so glaube ich nicht, daß er überhaupt imstande ist, an jemand anderen als an sich zu denken!»
Es waren solche Bemerkungen wie diese, völlig ernst ausgesprochen, die ihm eine vergnügte Freude bereiteten, und warum er sie sein «liebes Entzücken» nannte. Sie nahm den Titel gleichmütig hin, sagte ihm aber, er solle sich hüten, es in Hörweite von Nurse zu sagen. «Denn es wäre sehr kränkend für Sie, wenn Sie sehen müßten, daß alle Ihre Schmeichelei umsonst ist, abgesehen davon, daß es unsere ganze Behaglichkeit stören würde.»
«Ich wette mit Ihnen, daß sie nicht häßlich zu uns sein würde. Sie glaubt, ich befände mich in einem Zustand der Gnade.»
«Nein, nur, daß Sie sich ihm nähern – und das war bloß, weil Sie sie gegen Imber unterstützten! Sie wissen es vielleicht nicht, aber gestern haben Sie einen Rückfall erlitten, als Sie ihr nicht erlauben wollten, daß der Teppich in der Bibliothek zum Klopfen hinausgeräumt wird. Sie fing wieder an, Sachen über die Gottlosen zu sagen. Und Aubrey schwört, sie habe ihm gesagt, daß ein einziger Sünder viel Gutes zerstört.»
«Seither aber habe ich ihr meine Bewunderung über ihre Schiffchenarbeit ausgesprochen, und jetzt stehe ich wieder hoch im Kurs bei ihr!» gab er zurück.
«Ich wünschte, er wäre hoch genug für Sie, daß Sie Ihnen diese Schiffchenarbeit schenkt. Sie muß geradezu Meilen davon haben, weil sie daran arbeitet, seit ich denken kann, und sie sehr selten verschenkt. Das Gräßliche daran ist, daß sie es für denjenigen von uns bestimmt hat, der als erster heiratet. Ein höchst deprimierender Gedanke.»
«Vielleicht», sagte er nachdenklich, «sollte ich meinen Kurs doch nicht zu hoch steigen lassen! Was raten Sie mir? Soll ich eine Orgie abhalten, Aubrey mißhandeln oder – Sie einfach nur <mein liebes Entzücken> in ihrer Hörweite nennen?»
«Das würde Ihren Kredit wieder zu tief sinken lassen. Sagen Sie ihr, als Sie ihr zu verstehen gaben, daß Sie ins Yorkshire kamen, um die Kümmernisse Ihrer Pächter in Ordnung zu bringen – was Sie bestimmt getan haben, denn wer sonst hätte ihr solch eine unsinnige Idee in den Kopf setzen können? –, sei das nichts als Flunkerei gewesen! Hingegen sollten Sie ihr nicht sagen, daß es nur wegen der Sache bei Tattersall war, denn sie hält Rennwetten für sehr gottlos!»
«Was denn für eine Sache bei Tattersall?» fragte er. «Ich bin denn doch noch nicht unter den Hammer gekommen, falls Sie das meinen sollten!»
«Nein, nein! Zumindest weiß ich nicht, was das bedeutet, aber das war es nicht! Conway hat einmal davon gesprochen – oh, der Schwarze Montag!»
«Abrechnungstag! Nein, das werde ich ihr nicht erzählen. Ich bin immer mehr oder weniger in den Klauen der Gläubiger, aber dieser Besuch jetzt ist kein Versuch, den Vogel abzuschießen! Ich bin auf der Flucht vor meinen Tanten.»
«Warum – was wollen die Ihnen antun? Ziehen Sie mich auf?»
«Durchaus nicht. Sie haben es sich in den Kopf gesetzt, mich zu rehabilitieren. Es sind drei, und sie sind alle das reinste Schreckmittel. Zwei sind unverheiratet und leben zusammen – die eine hat ein rundes, dickes Gesicht und die andere ist eine Bohnenstange; und die älteste ist Witwe und das einschüchterndste Frauenzimmer, das man je erlebt hat. Sie lebt in einem Mausoleum am Grosvenor Square, rührt sich selten heraus, hält aber Empfänge ab, so ziemlich in der Art der Salongesellschaften der Königin. Sie hat Krallen, ist lächerlich gekleidet, besitzt weder Geist noch ist sie liebenswürdig und hat doch durch Mittel, die mir unbekannt sind – falls es nicht Charakterstärke ist, und ich gebe zu, die hat sie! –, die Creme der Gesellschaft überzeugt, daß sie eine zweite Lady Cork ist, in deren Salons eingeladen zu werden eine Ehre ist.»
«Das klingt aber unangenehm!»
«Sie ist sehr unangenehm. Ein wahrer Drachen!»
«Aber warum will sie Sie rehabilitieren?»
«Oh, aus zwei Gründen! Der erste ist, daß ich, wie schwarz auch immer meine Sünden sein mögen, der Chef der Familie bin, ein Umstand, auf den sie großen Wert legt; und der zweite ist, daß sie einen königlichen Befehl an meinen Vetter Alfred ergehen ließ – der auch mein Erbe ist –, sich zur Inspektion am Grosvenor Square einzufinden. Und dabei hat sie die schockierende Entdekkung gemacht, daß er ein Mitglied der Stutzersekte ist – ja, ein Geck erster Ordnung! Da er nicht die leiseste Ahnung hatte, daß die alte Dame jeden Bond-Street-Beau zutiefst verabscheut, putzte sich der Einfaltspinsel aufs allerfeinste heraus, trottete zum Grosvenor Square und sah tipptopp aus: Unaussprechliche – im zartesten Schlüsselblumengelb – Jacke von Stultz, Hessenstiefel von Hoby, Hut – Sorte Zylinder, von Baxter, Halstuch, von ihm selbst – orientalisch, von bemerkenswerter Höhe. Fügen Sie all dem noch ein Barcelona-Taschentuch hinzu, eine Knopflochblume groß wie ein Kohlkopf, einen starken Duft nach zirkassischem Haaröl, das Betragen eines Tanzmeisters und ein Lispeln, das er jahrelang üben mußte, um es darin zur Vollkommenheit zu bringen, und Sie werden erkennen, daß Alfred nicht gerade gewöhnlichen Stil hat!»
«Ich wünschte, ich hätte ihn sehen können!» sagte sie lachend. «Haben Sie ihn gesehen, oder ist das alles nur geschwindelt?»
«Bestimmt nicht! Ich habe ihn zwar nicht selbst gesehen, aber was nicht er mir beschrieben hat, haben mir die Tanten erzählt. Der arme Kerl! Er war nur darauf aus, sich Liebkind zu machen, aber alle seine Hoffnungen wurden zunichte! Der Bruch sollte geleimt werden – oh, nicht wahr, ich habe nicht erwähnt, daß meine Tanten mit meiner Mutter zerstritten waren? Ich glaube, sie beleidigte sie bei den Trauerfeierlichkeiten für meinen Onkel, aber da ich nicht anwesend war, weiß ich nicht, was für ein Verbrechen sie beging, obwohl ich nicht wetten möchte, daß sie es diesen bedeutenden Persönlichkeiten gegenüber am gebührenden Respekt fehlen ließ. Jedenfalls gehorchte Alfred der Aufforderung meiner Tante Aurelia, im Vertrauen darauf, daß er mit ein bißchen eleganter Gewandtheit – natürlich gepaart mit seiner exquisiten Erscheinung – nicht nur sie, sondern ebenso auch meine Tanten Jane und Eliza bestimmen würde, ihn zu ihrem Erben einzusetzen – was für ihn viel interessanter ist, als mein Erbe zu werden – und mit gutem Grund! Aber ach, als sie sich vor der Wahl zwischen einem Stutzer und einem Taugenichts sahen, zogen sie den Taugenichts vor – oder würden das, wenn ich mich anpassen wollte.»
«Sich anständig benehmen?»
«Schlimmer! Wenn ich ein Frauenzimmer mit vorstehenden Zähnen, einer Stupsnase und einer erbärmlichen Figur heiraten würde!»
Sie lachte. «Nun, ich bin überzeugt, die Tanten wünschen, daß Sie heiraten, weil das das Ehrbarste wäre, was Sie wirklich tun könnten, und auch natürlich wegen Kindern, so daß Ihr Vetter ausgestochen wäre – aber ich sehe keinen Grund, warum es eine stupsnäsige noch zähnefletschende Person sein muß!»
«Ich auch nicht, aber sie ist beides, versichere ich Ihnen. Und noch dazu ist sie seit mindestens zehn Jahren mehr als überreif. Wundern Sie sich, warum ich floh?»
«Nein, aber ich wundere mich, daß Ihre Tanten solche Gänse sind, eine derartige Verbindung gerade Ihnen vorzuschlagen! Sie müssen ziemlich verrückt sein, anzunehmen, daß Sie auch nur zweimal hinschauen, wenn es nicht die hinreißendsten Frauen sind, denn Sie sind seit Jahren und Jahren daran gewöhnt, in Schönheiten verliebt zu sein! Es ist höchst unvernünftig, von den Menschen zu erwarten, daß sie ihre Gewohnheiten im Handumdrehen ändern.»
«Sehr wahr!» stimmte er ihr zu und bewahrte seine Fassung bewunderungswürdig. «Und Miss Amelia Ubleys Auge enthält etwa soviel Funkeln wie das eines Fischs.»
«Dann dürfen Sie auf gar keinen Fall um sie anhalten!» sagte sie ernst. «Sie tut mir außerordentlich leid, das arme Ding, aber als alte Jungfer würde sie viel glücklicher werden denn als Ihre Frau! Ich würde mich nicht wundern, wenn Sie sich mit irgendeiner anderen davonmachen würden, bevor noch die Brautvisiten alle vorbei sind, und denken Sie nur, wie schrecklich demütigend für Miss Ubley! Wie sind denn Ihre Tanten auf ein derart unpassendes Frauenzimmer für Sie verfallen? Sie müssen wirklich nicht ganz bei Verstand sein!»
Seine Lippen zuckten, aber er erwiderte ernst: «Ich stelle mir vor, sie meinen, daß ich über das Alter romantischer Tändeleien hinaus bin. Meine Tante Eliza jedenfalls sagte mir, daß es jetzt an der Zeit wäre, mich zu verheiraten. Sie malte mir ein sehr rührendes Bild von den Vorteilen aus, mich richtiggehend niederzulassen.»
«Wie ich sehe, mußte sie das wirklich getan haben: es hat Sie den ganzen langen Weg bis ins Yorkshire getrieben! Bitte sehr, was sind denn die Tugenden der Miss Ubley?»
«Nun eben – Tugend!»
«Das ist überhaupt nichts für Sie. Nicht, wenn Sie meinen, daß sie prüde ist, und es klingt mir ganz danach, daß sie das ist.»
«Danach sah sie mir aus und benahm sich auch entsprechend. Aber meine Tanten informierten mich, daß sie, abgesehen davon, aus besten Kreisen zu sein, auch einen überlegenen Verstand, anständigen Geschmack hat und man sich verlassen könne, daß sie sich immer so benimmt, wie sie soll. Ihr Vermögen ist derart, wie ich es nur zu erwarten berechtigt bin; und ich muß mir bewußt sein, daß, wäre sie nicht über dreißig und ein Schreckmittel, weder sie noch ihre Eltern meinen Antrag auch nur eine Minute lang in Erwägung ziehen würden.»
«Welch ein Blödsinn!» rief Venetia empört aus.
In dem halben Lächeln, das er ihr zuwarf, steckte ziemlich viel Hohn. «Nein, das stimmt schon. Ich stelle mir vor, ich muß auf der Liste untauglicher Junggesellen ganz hoch obenan stehen – was den einen Vorteil hat, daß ich mich überhaupt nicht in acht nehmen muß, einer ehestiftenden Mama zum Opfer zu fallen. Sie warnt ihre Tochter sofort, sich in angemessener Entfernung zu halten, falls sie sich zufällig in meiner Gesellschaft befindet.»
«Dann besuchen Sie also Gesellschaften?» fragte sie. «Ich weiß nichts über die Gesellschaft, und was Sie die Creme nennen, und als Sie sagten, Sie seien gesellschaftlich ein Outcast, meinte ich, das bedeute vielleicht, daß Sie überhaupt nicht in anständigen Kreisen verkehren.»
«Oh, so schlimm ist das nicht!» versicherte er ihr. «Ich werde zwar bestimmt nicht eingeladen, in Häusern ein- und auszugehen, wo die Töchter in heiratsfähigem Alter stehen, und ich kann mir nichts Unwahrscheinlicheres denken, als die geheiligte Schwelle von Almack überschreiten zu dürfen – falls ich natürlich meine Lebensweise nicht reformiere, Miss Ubley geheiratet habe und im Schutz Tante Aurelias in jene Kreise der heiligsten der Heiligen eingeführt werde –, aber nur die allereifrigsten Verfechter der Ehrbarkeit gehen so weit, meine Bekanntschaft zu schneiden! Wenn noch etwas fehlen würde, das mich aus Miss Ubleys Nähe fliehen ließe, dann wäre es die gräßliche Angst, genau in die Kreise gezogen zu werden, von denen ich glücklicherweise ausgeschlossen bin!»
«Ich muß sagen, nach allem, was mir Lady Denny erzählt hat, nehme ich an, daß die Gesellschaften bei Almack erstaunlich langweilig sind», bemerkte sie. «Als ich ein junges Mädchen war, war es mein höchster Ehrgeiz, sie mitzumachen, aber jetzt, glaube ich, würde ich sie fade finden.»
Aber das wollte er nicht zulassen. Er schalt sie, weil sie von ihrer Mädchenzeit wie von etwas längst Vergangenem sprach, und sagte: «Wenn Ihr Bruder heimkommt, werden Sie auf einen Besuch zu dieser Tante da von Ihnen fahren, und Sie werden sich sehr gut unterhalten. Sie werden geradezu auschweifend fröhlich sein, mein liebes Entzücken, zu all dem mondänen Gedränge gehen, eine Menge Herzen brechen und jeden Tag viel zu kurz für all das Vergnügen finden, das Sie in ihn hineinstopfen möchten.»
«Oh, bis dieser Tag heraufdämmert, werde ich sehr wahrscheinlich schon an Altersschwäche leiden!» gab sie zurück.