18
Als Mrs. Hendred es etwas später wagte, ihren Einspruch gegen das Mieten eines Hauses in Hans Town zu erneuern, war sie zunächst dem Schicksal dankbar, als sie entdeckte, daß Venetia ihren grausigen Plan fallengelassen hatte, dann aber, als sie darüber nachdachte, spürte sie eine Beklemmung. Sie konnte es nicht über sich bringen zu glauben, daß auch nur eine einzige ihrer Vorhaltungen diesen plötzlichen Sinneswandel herbeigeführt hätte. Und je mehr sie die Sache überlegte, um so weniger gefiel ihr die Bereitwilligkeit ihrer Nichte, auf einen Plan zu verzichten, auf den sie sich schon regelrecht festgelegt hatte. Es schien fast, als hätte sie das Haus in Hans Town ganz vergessen, denn als das Thema flüchtig gestreift wurde, hatte sie einen Augenblick lang große Augen gemacht und dann gesagt: «Oh – das! Nein, nein, Ma'am, regen Sie sich ja nicht darüber auf. Ich gebe zu, daß Sie sehr recht haben, und es hätte mir dort auf die Dauer wirklich nicht gefallen.»
Obwohl Mrs. Hendred allen Grund hatte, mit dieser Antwort zufrieden zu sein, spürte sie eine vage Unruhe. Es kam ihr nicht nur vor, daß Venetias Gedanken weit weg waren, sondern daß sie an einem neuen Plan spann. Ein Versuch, zu entdecken, was er sein mochte, schlug fehl – Venetia lächelte bloß und schüttelte den Kopf, was es unangenehm wahrscheinlich machte, daß sich der neue Plan als genauso entsetzlich erweisen würde wie der alte. Mrs Hendred wünschte allmählich, daß ihr gestrenger Gemahl nicht ins Berkshire gefahren wäre. Und während einer Nacht, in der sie ungewöhnlich oft aufwachte, kam sie sogar soweit, zu überlegen, ob es nicht vielleicht besser wäre, ihm einen Expreßbrief zu schicken. In der Früh erschien ihr dieser verzweifelte Entschluß ebenso töricht wie unvorsichtig, denn was konnte Venetia schließlich schon ins Auge fassen, das es rechtfertigen konnte, ihren Onkel herbeizuholen? Einen solchen Hilferuf würde er ebenso mißbilligen wie das unvermeidliche Geständnis, daß seine Frau Venetia genau das gesagt hatte, was diese seiner Meinung nach besser nie erfahren sollte. Er war ins Berkshire gefahren, um der Vierteljahressession beizuwohnen, worauf er, da er Custos rotulorum und sehr genau in der Erfüllung seiner Pflichten war, großen Wert legte, und weshalb er meist eine ganze Woche lang dortblieb. Diesmal jedoch hatte er seiner Frau gesagt, daß sie ihn vermutlich in vier, höchstens fünf Tagen wiedersehen würde, da er sich verpflichtet hatte, einer Parteiversammlung beizuwohnen. In so kurzer Zeit, meinte sie, konnte nichts passieren, ja man konnte sich schwer vorstellen, wie überhaupt irgend etwas Umwälzendes geschehen konnte. Für Venetia mochte die Welt momentan vielleicht liebeleer geworden sein, aber das konnte sie Damerel wohl kaum sagen. Und selbst wenn sie es ihm sagte – nicht daß Mrs. Hendred annahm, sie würde auch nur im Traum daran denken, sich derart grob unschicklich zu benehmen, wie unkonventionell auch immer sie sein mochte –, so wußte Damerel, daß für ein junges Frauenzimmer von Rang die Welt durchaus nicht untergehen würde. Er hatte Mr. Hendred sein Wort als Gentleman gegeben, daß er Venetia keinen Heiratsantrag machen würde. Daher war Mrs. Hendreds Seelenruhe wirklich von keiner Gefahr bedroht, und die bösen Vorahnungen der Nacht waren möglicherweise der Gänseleber- und Truthahnpastete zuzuschreiben, deren sie sich beim Souper ein bißchen zu großzügig bedient hatte. Oder es war vielleicht ein Fehler gewesen, Pilzschnitten zu essen – Pilze waren ihrer zarten Konstitution nie bekommen, daher durfte sie nicht vergessen, doch ja dem Künstler, der über ihre Küche herrschte, ausrichten zu lassen, künftighin Pilze aus seinen leckeren Rezepten zu verbannen.
Während Mrs. Hendreds Geist in der Gastronomie umherschweifte, beschäftigte sich Venetia damit, Pläne zu schmieden und sie wieder zu verwerfen, wie sie sich gesellschaftlich ruinieren könnte. Sie hatte ebenso schnell wie ihre Tante entschieden, daß es nichts nützen würde, Damerel zu sagen, wie wenig ihr an der Welt oder deren Meinung lag. Er hatte sie von Anfang an «sein grünes Ding» genannt. Ihr Instinkt sagte ihr, daß er sie nach einem Monat Aufenthalt in London nicht für reifer halten würde. Sie dachte – aber mit Zärtlichkeit –, daß er trotz all seiner großen Erfahrung mit Frauen genauso dumm wie Edward Yardley oder ihr kluger Onkel sei. Er glaubte, weil sie ihre Weltkenntnisse aus zweiter Hand hatte, kannte sie auch ihr eigenes Herz nicht besser, und hatte sich anscheinend dazu überredet, daß sie innerhalb absehbarer Zeit, die sie in mondänen Kreisen verbrachte, nicht nur dankbar dafür sein würde, den – wie hatte er es genannt? –, den Klauen des Teufels entronnen zu sein, sondern sogar mit irgendeinem tugendhaften Herrn von erstklassiger Herkunft, von Reichtum und Rang glücklich verlobt sein würde. Das war schon schlimm genug; noch viel schlimmer – oder jedenfalls schwieriger zu überwinden – war jener Aspekt, den ihr die Tante vor Augen gestellt hatte. Ein Weltmann wie er wußte, wie die Welt über seine Heirat mit ihr urteilen würde – und wußte es nicht nur, sondern teilte die Meinung. Er hatte ihr gesagt, seine Verworfenheit sei nicht so weit gegangen, mit den Jungen und Unschuldigen herumzuspielen. Er hatte zwar nie ans Heiraten gedacht, was ihn betraf, aber sie erriet, daß er die Sache in genau dem gleichen Licht betrachtete. Er hatte sie auf einen für ihn unerreichbar hohen Platz gestellt, und wie sie ihm demonstrieren sollte, daß sie sehr gut in seiner Reichweite stand, war ein Problem, für das sie vorderhand keine Lösung sah. Sie erinnerte sich, wie ihr Plan, Aubrey das Haus zu führen, seinen Entschluß fast umgestoßen hatte. «Alles eher als das», hatte er ausgerufen. Eine Zeitlang spielte sie mit dem Gedanken, das Haus in Hans Town sofort zu mieten und es Aubrey als vollendete Tatsache mitzuteilen. Aber sie verwarf diesen Plan bald, zusammen mit allen anderen, weil sie nicht ganz sicher war, ob es nicht doch in seiner Macht stand, ihn zu vereiteln. Denn er hatte mehr Einfluß auf Aubrey, als sie Edward eingestanden hatte; außerdem konnte er sich vielleicht, da er ja anscheinend mit ihrem Onkel diskutiert hatte, darauf verlassen, daß Mr. Hendred diesen Plan an seiner Stelle vereiteln würde. Im Laufe der Zeit konnte sie ihn ja überzeugen, daß sie es vorzog, eine alte Jungfer zu werden, statt die glänzende Partie zu machen, die er anscheinend für ihr Schicksal hielt, aber sie wünschte weder solange dahinzuschmachten, bis die öffentliche Meinung sie als heiratsfähig abgeschrieben hatte, noch hegte sie Illusionen über ihren Liebsten – das Leben eines enthaltsamen Junggesellen, der über sein verlorenes Bräutchen trauerte, war nichts für ihn –, ihm sah es bei weitem ähnlicher, daß er Vergessen in Exzessen suchen würde, und das nächste, was man wahrscheinlich von ihm hören würde, war, daß er mit irgendeinem blendenden leichten Frauenzimmer durch ganz Europa paradierte. Im Augenblick war er durch Aubreys Anwesenheit in seinem Haus ans Yorkshire gebunden; aber Aubrey konnte nun jeden Tag die Priory verlassen, und dann, meinte Venetia, würde Damerel wirklich für sie verloren sein.
Ihre Befürchtungen und Pläne ließen keinen Raum für belanglosere Überlegungen. Sie antwortete mechanisch auf den Vorschlag ihrer Tante für die täglichen Vergnügungen, begleitete sie pflichtgetreu bei einer Einkaufstour und zu einem Konzert, ihr Gehirn in Aufruhr, während ihre Lippen alberne Höflichkeiten murmelten. Da Mrs. Hendred Venetia in einer so nachgiebigen Stimmung sah, brachte sie das Thema von Edwards geplantem Abend wieder aufs Tapet und war entzückt, als sie auf keinen Widerspruch stieß. Sie hatte zwar den Verdacht, daß Venetia kaum gehört hatte, was man zu ihr sagte, war aber entschlossen, sie beim Wort zu nehmen, das sie so geistesabwesend gegeben hatte. Edward hatte sie eingeladen, mit ihm im Clarendon Hotel zu speisen, und Mrs. Hendreds Meinung nach konnte diese verschwenderische Geste nicht verfehlen, ihn Venetia zu empfehlen. Man konnte dort am besten und teuersten in London dinieren, denn der Koch war ein Franzose, und der Preis für ein ganz einfaches Mahl betrug nicht weniger als vier Pfund. Edward hatte auch Mr. Hendred eingeladen, aber noch selten hatte dieser verdauungsgestörte Gentleman eine Einladung mit weniger Bedauern abgelehnt. Die französische Küche war für ihn keine Freude, und er hatte überhaupt eine Abneigung gegen Edward. Er sagte, ein Mann, der schon weitschweifig war, bevor er noch sein dreißigstes Lebensjahr erreichte, würde unerträglich redselig werden, bevor er vierzig wurde – und Venetia könnte einen viel besseren finden. Daher zählte die Gesellschaft nur drei Personen, da Edward keine Bekannten in London hatte und Mrs. Hendred es vorzog, den Platz ihres Gatten lieber nicht aus ihrem eigenen großen Freundeskreis aufzufüllen. Selbst bei ziemlich ältlichen Herren war es mehr als wahrscheinlich, daß sie alle Anstrengungen machen würden, um Venetia zu fesseln, und Mrs. Hendred wollte Edward keinen Rivalen an einem Abend geben, der schließlich seine Einladung war.
Dieser Abend begann gut. Kaum erkannte der Maitre d'hôtel, daß die Gäste des Herrn vom Lande jene wohlbekannte Epikuräerin und tonangebende Modedame, Mrs. Philip Hendred, und eine wirklich absolut hinreißende junge Dame waren, die in erstklassig elegantem Stil gekleidet war, als er auch schon seinen ersten Plan revidierte und die Gesellschaft unter Verbeugungen nicht zu einem abgesonderten Tisch in einer Ecke des Saales führte, sondern zu einem, der für die bevorzugten Gäste reserviert war, worauf er Mr. Yardley höchstpersönlich eine große Speisekarte reichte. Der Maitre d'hôtel und Mrs. Hendred stellten miteinander ein höchst gediegenes Mahl zusammen, an dem Mrs. Hendred ohne die geringsten Skrupel teilnehmen konnte, weil sie gerade am selben Tag Mr. Rogers getroffen und er sie über Lord Byrons Abmagerungsdiät richtig aufgeklärt hatte: Seine Lordschaft hatte keinen Essig, sondern Sodawasser getrunken, und welche Diät war leichter zu befolgen, wenn man sich ohnehin nichts aus Wein machte? Daher verlief das Dinner sehr erfolgreich, und wenn auch Venetia nur wenig zum Gespräch beitrug, so antwortete sie zumindest mit ihrem lieblichen Lächeln auf jede Bemerkung, die an sie gerichtet wurde. Wahrscheinlich gab sich Mr. Yardley damit zufrieden, denn er hatte seinen Gästen so ungeheuer viel über die verschiedenen Stätten von historischem Interesse mitzuteilen, die er besucht hatte, daß ohnehin keine der beiden Damen Gelegenheit hatte, mehr zu sagen als: «Nein, wirklich?» oder «Wie interessant, wirklich!»
Mrs. Hendreds Londoner Kutsche brachte sie zum Theater. Edward hatte eine Loge besorgt, und Mrs. Hendred war froh, als sie sah, daß Venetia alle seine besorgten Bemühungen, daß sie auch gut sitze, mit einer süßen, wenn auch leicht geistesabwesenden Nachgiebigkeit aufnahm. In Wirklichkeit überlegte Venetia einen neuen und äußerst gewagten Plan; den ganzen ersten Akt hindurch saß sie da und fragte sich, ob sie wohl den Mut aufbringen würde, sich kühn der ältesten Tante Damerels vorzustellen, ihr die ganze Geschichte zu enthüllen und sie um ihre Unterstützung zu bitten. Es war ein verzweifelter Plan, und als der Vorhang fiel, hatten sich sehr viele Einwände gegen ihn erhoben. Sie tauchte aus ihrer tiefen Versunkenheit erst auf, als Edward sie fragte, wie ihr das Stück gefiele. Sie gab eine höfliche Antwort, saß dann stumm da und schaute sich müßig im Theater um, während er sich über seine eigene wohlbedachte Meinung verbreitete.
Ihre Aufmerksamkeit wurde fast unverzüglich von einer Loge gegenüber angezogen. Sie war bis zum Aufgehen des Vorhangs leer gewesen, war jetzt aber von einer Dame und einem Herrn derart modischer Erscheinung besetzt, daß sich nicht nur Venetias Augen auf sie richteten. Keiner der beiden stand mehr in der ersten Jugend, und der Gentleman hatte sogar eine starke Ähnlichkeit mit dem Prinzregenten. Er hatte die gleichen vorstehenden blauen Augen und den blühenden Teint; er trug einen Rock von übertrieben modischem Schnitt, eine prächtige Weste, und seine Beinkleider spannten sich glatt über einem Embonpoint nobler Proportionen. Er hatte sein Monokel auf Venetia gerichtet, aber nach einem flüchtigen Blick auf ihn hatte diese ihre Augen auf seine Begleiterin geheftet.
Wenn schon der Gentleman prächtig wirkte, so fiel die Dame noch mehr auf. Eine Spur Kupferrot in ihren exquisit angeordneten Locken mochte die Hand eines gewiegten Coiffeurs verraten, das zarte Rot auf ihren Wangen aus einem teuren Rougetöpfchen kommen, aber ihre Gestalt, von einem sehr tief ausgeschnittenen Kleid verführerisch enthüllt – aus einer so weichen und durchsichtigen Seide, daß es sich ihrer Gestalt wie Spinnwebe anschmiegte – verdankte der Kunst genauso wenig wie ihre großen strahlenden Augen, ihre klassisch gerade Nase oder der liebliche Umriß ihres Gesichts. Diamanten hingen von den Ohrläppchen, blitzten auf ihrem weißen Busen und an ihren Armen; ein Hermelinmantel lag sorglos über die Lehne ihres Stuhls geworfen. Sie lehnte etwas vorgeneigt an der Logenbrüstung, den Blick, wie der ihres Begleiters, auf Venetia gerichtet. Um ihre geschminkten Lippen lag ein leichtes Lächeln; sie bewegte einen Fächer, der mit Diamantensplittern besetzt war, langsam auf und ab, aber als Venetia sie mit großen Augen anstarrte, hob sie die andere Hand in einer winzigen Geste des Grußes.
Mrs. Hendred, die nach ihrem üppigen Mahl schläfrig geworden war, hatte friedlich den ersten Akt des Stückes durchgedöst, hörte nun verschlafen Edwards gemessenem Diskurs zu und wünschte, daß sich der Vorhang endlich über dem zweiten Akt hebe und ihr damit erlaube, wieder einzunicken. Edwards Stimme war derart monoton, daß es ihr schwerfiel, wachzubleiben. Aber sie wurde davor gerettet, wieder einzuschlafen, als Venetia plötzlich fragte: «Tante, wer ist jene Dame in der Loge dort drüben?»
In ihrer Stimme lag ein etwas scharfer Klang, der Mrs. Hen dred genügend erschreckte, um sie aufzumuntern, und die benebelnde Schläfrigkeit zu vertreiben. Sie richtete sich mit einem kleinen Ruck ihrer molligen Schultern auf und fragte mit einer etwas belegten Stimme, aber als sei sie höchst interessiert: «Welche Dame, mein Liebes?»
«Fast genau gegenüber von uns, Ma'am! Ich kann nicht auf sie zeigen, weil sie mich beobachtet. Sie tut das schon seit zehn Minuten, und ich – Tante Hendred, wer ist sie?»
«Meine Liebe, ich weiß es wirklich nicht, denn ich habe in keiner Loge jemanden gesehen, den ich kenne. Welche Loge, sagst du ...» sie hielt den Atem an und stieß dann niedergeschmettert hervor: «Du guter Gott!»
Venetia umklammerte fest ihren gefalteten Fächer und sagte: «Sie kennen sie, nicht wahr, Ma'am?»
«Nein, nein!» erklärte Mrs. Hendred. «Heiliger Himmel, nein! Als ob ich irgendein Frauenzimmer kennen würde, das ein derartiges Kleid trägt! Das unanständigste – liebes Kind, laß dir nicht anmerken, daß sie dir auffällt! Eine solche Frechheit, dich anzustarren, wie – pst, meine Liebe, der Vorhang geht auf, und wir dürfen nicht mehr reden! Heiliger Himmel, wie ich schon neugierig bin, was in diesem Akt passieren wird! Ein vorzüglicher erster Akt gewesen, nicht? Ich kann mich nicht erinnern, ein Stück je mehr genossen zu haben! Ah, hier ist ja die komische Figur und sein Kammerdiener! Wir dürfen nicht plaudern, sonst geht uns das Lustige verloren, das sie sagen!»
«Sagen Sie mir bloß, Ma'am ...»
«Pst!» machte Mrs. Hendred.
Da dieser einsilbige Befehl von der Gesellschaft in der Nebenloge unterstützt wurde, in einer sogar noch drohenderen Art, schwieg Venetia. Mrs. Hendred fächelte sich aufgeregt. Statt in das Gelächter einzustimmen, das einen der lustigen Aussprüche auf der Bühne begrüßte, ergriff sie die Gelegenheit, Edward am Ärmel zu zupfen und ihm, als er sich zu ihr beugte, etwas ins Ohr zu flüstern. Venetia, die ebenfalls nicht mitgelacht hatte, sondern kerzengerade dasaß, mit einem aus Ungläubigkeit und Bestürzung gemischten Ausdruck, hörte nicht, was Mrs. Hendred flüsterte. Aber gleich darauf sagte ihr Edward leise: «Venetia, deine Tante fühlt sich schwach! Es macht dir doch nichts, wenn wir die Loge verlassen? Es ist hier wirklich sehr schwül ...! Ich merke es selbst und glaube, daß sich Mrs. Hendred sofort erholen wird, sobald sie an die Luft kommt!»
Venetia erhob sich bereitwillig, und während Edward die leidende Dame hinausführte, warf sie ihren Mantel über die Schultern, raffte den ihrer Tante auf und schlüpfte aus der Loge. Draußen bemühten sich zwei Logenwärter, Mrs. Hendred mit Riechsalz, heftigem Fächeln und Versprengen von Wasser auf ihre Stirn wieder zu sich zu bringen. Ihre Farbe schien freilich eine Spur zu lebhaft für eine Dame am Rand einer Ohnmacht, aber als Edward, der sehr ernst dreinblickte, Venetia mit leiser Stimme sagte, er meine, sie sollten sie heimbringen, sowie sie sich ein bißchen erholt haben würde, stimmte Venetia sofort zu und empfahl ihm – da Mr. Hendreds Kutscher ihren Wagen erst in einer Stunde zum Theater bringen würde –, sofort eine Droschke zu holen. Er ging unverzüglich weg, um mit dem Türhüter zu konferieren; und Mrs. Hendred, die sich von den beiden Logenwärtern gestützt zum Treppenhaus bringen ließ, sagte mit versagender Stimme, sie fürchte, ihre fatale Unpäßlichkeit sei der üblen Wirkung von Schnepfe ä la Royale zuzuschreiben. «Oder war es vielleicht die croque embouchéc aux pistaches, aber ich möchte das um alles in der Welt nicht Mr. Yardley gestehen!»
Venetia antwortete darauf mit bemerkenswerter Ruhe und machte keinerlei Versuch, weder im Theater, noch als sie neben ihrer Tante in dem etwas übelriechenden Vehikel saß, das für ihren Transport besorgt worden war, die Frage zu wiederholen, die eine so große Rolle dabei gespielt hatte, Mrs. Hendred aus dem Sattel zu werfen. Aber als Mrs. Hendred, sowie sie am Cavendish Square ankamen, ihre Absicht verkündete, sich sofort zu Bett zu begeben, sagte Venetia mit mehr Erheiterung als Sorge: «Ja, wenn Sie es wünschen, Ma'am, aber ich warne Sie, ich bin nicht so leicht abzuspeisen. Ich gehe mit Ihnen!»
«Nein, nein, liebes Kind! Ich spüre, daß ich einen meiner Krampfanfälle bekomme! Das heißt, ich kann mir nicht vorstellen, was du eigentlich – Worting, warum schicken Sie nicht um Miss Bradpole, wenn Sie doch sehen können, wie schlecht es mir geht?»
Bevor noch Worting seine Herrin daran erinnern konnte, daß sie ihrer Kammerzofe bis elf Uhr Urlaub gegeben hatte, schaltete sich Edward ein, der die Damen ins Haus begleitet hatte, und sagte feierlich: «Ich glaube, Ma'am, bedenkt man es richtig, so wäre es jetzt das Klügste, wenn Sie Ihre Nichte von dem Umstand informieren würden, der es unglücklicherweise nötig machte, das Theater vor dem Aktschluß zu verlasen.»
«Du kannst dich darauf verlassen, daß es das Klügste sein wird!» sagte Venetia. «Willst du bitte meine Tante in den Salon hinaufbegleiten, während ich für sie eine Dosis Hirschhornsalz mit Wasser mische? Darauf werden Sie sich sofort viel besser fühlen, Ma'am!»
Während sie noch sprach, lief sie leicht die Treppe hinauf und beachtete das protestierende Stöhnen nicht, das ihr folgte.
Als sie gleich darauf wieder den Salon betrat, fand sie ihre Tante in einen Lehnstuhl hingegossen, mit dem Ausdruck eines Menschen, der auf die schlimmsten Schicksalsschläge gefaßt ist. Edward, mit übernatürlich feierlichem Gesicht, stand vor dem Kamin; und Worting, der die Kerzen angesteckt und das Feuer angeschürt hatte, bereitete sich zögernd vor, sich zurückzuziehen.
Mrs. Hendred beäugte widerwillig das Getränk, das ihre Nichte zubereitet hatte, nahm aber das Glas mit einem schwachen «Danke» entgegen. Venetia blickte über die Schulter, um auch sicher zu sein, daß sich die Tür fest hinter Worting geschlossen hatte, und sagte dann ohne Umschweife: «Wer war die Dame, Ma'am?»
Mrs. Hendred erschauerte; aber Edward, der augenscheinlich die Führung der Sache auf sich genommen hatte, antwortete bedächtig: «Es ist Lady Steeple, meine liebe Venetia. Sie war, wie mich Mrs. Hendred informierte, in Begleitung ihres Gatten, Sir Lambert Steeple. Ich bin mir jedoch bewußt, daß dir diese Namen nur wenig sagen können.»
«Milde ausgedrückt, Edward!» unterbrach ihn Venetia. «Sie sagen mir überhaupt nichts, und ich wünschte sehr, daß du meiner Tante erlaubst, selbst zu antworten! Ma'am, als ich sie das erste Mal erblickte, hatte ich das seltsame Gefühl – aber ich wußte, daß es unmöglich ist, und dachte, es sei nur eine jener Ähnlichkeiten, für die es keine Erklärung gibt. Nur starrte sie mich derart intensiv an und lenkte die Aufmerksamkeit ihres Gatten auf mich und hob die Hand, wenn sie mir auch nicht direkt zuwinkte, aber – aber doch so, als meinte sie es als ein Zeichen des Erkennens! Es kann natürlich nicht sein, aber mich durchzuckte die phantastischste Vorstellung! Ich – ich dachte, es sei meine Mutter!»
Mrs. Hendred stöhnte und nahm einen Schluck Hirschhornsalz. «Oh, mein liebes Kind!»
«Dein schnelles Erfassungsvermögen, Venetia, hat es mir leichter gemacht, mich der unerfreulichen Pflicht zu entledigen – denn als dies empfinde ich es unter diesen unvorhergesehenen Umständen –, dir zu enthüllen, daß es tatsächlich deine Mutter ist», sagte Edward.
«Aber meine Mutter ist doch tot!» rief Venetia aus. «Sie ist seit Jahren tot!»
«Oh, wenn sie das bloß gewesen wäre!» Mrs. Hendred stellte das Glas, das sie gehalten hatte, nieder und fügte bitter hinzu: «Ich habe es schon damals gesagt, und ich werde es immer wieder sagen! Ich wußte doch, daß sie nie aufhören wird, uns Kummer zu machen! Und gerade jetzt, als wir dachten, daß sie sich endgültig in Paris niedergelassen hätte – ich würde mich nicht wundern, wenn sie absichtlich zurückgekehrt wäre, um dich zu ruinieren, mein armes Kind, denn was hat sie je getan als Wirbel anzurichten, abgesehen davon, daß sie eine höchst unnatürliche Mutter gewesen ist!»
«Aber wie ist das möglich?!» fragte Venetia, sah völlig verblüfft aus und war es auch wirklich. «Mama – Lady Steeple? Dann also ...»
«Ich staune nicht, daß es dir schwerfällt, das zu verstehen», sagte Edward gütig. «Dennoch bilde ich mir ein, daß ein Augenblick ruhiger Überlegung dir sagen wird, wie es gewesen sein muß. Laß mich vorschlagen, meine liebe Venetia, daß du dich auf diesen Stuhl setzt, während ich ein Glas Wasser für dich besorge. Es war ein Schock für dich. Das kann auch gar nicht anders sein, und obwohl dir die Wahrheit enthüllt werden mußte, war es meine aufrichtige Hoffnung, daß diese Notwendigkeit nicht eingetreten wäre, bevor du im Leben endgültig eingerichtet worden wärst.»
«Nun, natürlich war es ein Schock für mich. Aber ich brauche kein Wasser, danke, sondern nur, daß man mir die ganze Wahrheit sagt, und ja nicht die Stückchen, Edward, wie du sie für angebracht hältst. Ich schließe also daraus, daß meine Eltern geschieden wurden. Guter Gott, war es genauso wie bei – ist meine Mutter mit diesem Mann durchgebrannt?»
«Ich glaube, Venetia, es ist unnötig für dich, mehr als die bloßen Tatsachen zu erfahren», sagte Edward zurückhaltend. «Ja, ich vertraue darauf, daß du, wenn du ein bißchen deine dir gemäße Gemütsverfassung wiedergewonnen hast, gar nicht mehr erfahren willst. Das Thema ist kein erbauliches, noch eines, über das ich es wagen kann, dich aufzuklären. Du mußt dir ins Gedächtnis rufen, daß zur Zeit jenes unglücklichen Ereignisses ich selbst noch in der Schule war.»
«Oh, um Himmels willen, Edward, mußt du wirklich so altväterlich sein?» fragte sie empört. «Tante: ist sie durchgebrannt?»
Mrs. Hendred begann nun, da die Neuigkeit aus dem Sack war, wieder aufzuleben. Sie setzte sich auf, rückte ihr elegantes Hütchen zurecht und antwortete ziemlich ruhig: «Nein, mein Liebes. Nein, durchgebrannt ist sie nicht, genaugenommen. Irgendwie möchte man es fast wünschen – nicht, daß ich sagen will –, nur war es nicht das erste Mal, was es noch schlimmer zu machen schien, weil die Leute schon seit Jahren redeten, was es alles so unangenehm machte, obwohl sie im Anfang so diskret war, daß ich wirklich nicht die leiseste Ahnung hatte – das heißt bis zu der Affäre mit – na, ist ja egal! Es hat überhaupt keinen Zweck, denn damals lebte der General noch, der Arme, und er überredete Francis, es ihr zu verzeihen, denn er schwärmte regelrecht für sie. So etwas hat es einfach kein zweites Mal gegeben, denn ich glaube nicht, daß ihr auch nur ein Deut an ihm lag, oder an sonst jemandem! Eine herzlosere ...»
«Moment, Ma'am, Moment! Was für ein General?»
«Heiliger Himmel, Venetia, natürlich ihr Vater – dein Großvater, obwohl du dich natürlich nicht an ihn erinnern kannst. General Chiltoe, ein so liebenswürdiger, entzückender Mann! Jeder hatte ihn gern – ich selbst auch. Sie war sein einziges Kind, und es war ihm nichts gut genug für sie, denn seine Frau starb, als sie noch ein Säugling war, das heißt, ich meine natürlich die Tochter, was vermutlich bestimmt daran schuld war. Sie war derart verwöhnt, und man hat ihr in allem nachgegeben, daß jeder schon voraussagen konnte, wie es einmal werden würde, und ich kann dir versichern, daß die arme Mama – deine liebe Großmama, mein Liebes – Francis bat und anflehte, nicht um sie anzuhalten, aber es hatte gar keinen Zweck! Er war völlig von Sinnen, und im allgemeinen, weißt du, hatte er einen höchst überlegenen Verstand, und ich versichere dir, daß ihm Mama nicht nur ein einziges taugliches Frauenzimmer vorführte, sondern gleich mindestens ein Dutzend! Aber seine Gefühle erwärmten sich nie im geringsten – und du weißt, meine Liebe, obwohl ich das nicht zu dir sagen sollte, warmherzig war er nicht veranlagt! Aber kaum hatte er Aurelia erblickt, als er sich heftig in sie verliebte und auf kein Wort hören wollte, wer immer es ihm auch sagte!» Sie seufzte plötzlich tief auf und schüttelte den Kopf. «Ich mochte sie nie, nie! Ich muß sagen, daß sie sehr schön war – alle hielten sie für hinreißend! –, aber sie hatte immer etwas an sich, was ich nicht ganz mochte. Und ich war nicht die einzige, versichere ich dir! Sehr viele meiner Freundinnen hielten die Aufregung und das Getue um sie entschieden für unsinnig, aber natürlich konnte nicht einer der Herren den geringsten Fehl an ihr sehen! Alle liefen hinter ihr her, in der albernsten Art – und kein Vermögen, bedenke! Das war es, was das Ganze so besonders – aber ich muß zugeben, daß es ein großer Triumph für deinen Vater war, daß er sie eroberte, obwohl er, weiß der Himmel, besser daran getan hätte, Georgiana Denny zu heiraten – Sir Johns Schwester, mein Liebes, die später Appiedores ältesten Sohn heiratete –, denn du weißt ja, wie er war, liebes Kind, zwar nicht gerade knauserig, aber vorsichtig, und gleich von Anfang an gab es Verdruß, weil sie nicht die leiseste Ahnung vom Sparen hatte, abgesehen davon, daß sie eine geradezu fatale Leidenschaft fürs Spielen hatte. Und die Kleider, die sie sich machen ließ! Die Juwelen, die sie Francis herausschmeichelte! Meine Liebe, diese Diamanten, die sie heute abend trug! Ich habe noch nie etwas derart Vulgäres gesehen – und dieses Kleid, mit keinem Faden mehr als einem einzigen unsichtbaren Unterkleid darunter! Nicht, daß sie geradezu wie eine –.» Sie brach einigermaßen verwirrt ab, als sich Edward warnend räusperte, und fügte hastig hinzu: «Ich weiß nicht genau, wie sie eigentlich ausschaute, außer, daß es überhaupt nicht das Richtige war!»
«Wie ein Paradiesvogel!» half Venetia zuvorkommend aus. «Das habe ich mir schon selbst gedacht. Aber ...»
«Venetia!» warf Edward im Tonfall ernster Mißbilligung ein, «laß dich nicht durch deine schalkhafte Zunge dazu hinreißen, etwas zu sagen, was sich durchaus nicht ziemt, glaube mir!»
«Wie kam es, Ma'am, daß sich Papa scheiden ließ?» fragte Venetia, die diese Unterbrechung ignorierte.
«Das», erklärte Mrs. Hendred erschauernd, «zu erörtern, dazu wird mich nie etwas bewegen können! Wenn nur Francis nicht zugelassen hätte, daß der General sich mit ihr versöhnte, nach der Yattenden-Affäre! Aber so war es – und die Art, wie Aurelia die Männer um den Finger wickeln konnte –I Nun, es wäre für alle besser gewesen, wenn er hart geblieben wäre, aber er ließ sich von ihr schmeicheln und verführen, und dann wurde Aubrey geboren, und war das eine Aufregung, als sie entdeckte, daß sie wieder stärker wurde! Und dann begann dieser gräßliche Sir Lambert Steeple seinen Köder nach ihr auszuwerfen, so daß jeder Mensch gewußt haben konnte, wie es werden würde! Sein Vater war gerade gestorben und hatte ihm dieses einfach immense Vermögen hinterlassen, und natürlich sah er außerordentlich gut aus, aber der schockierendste, lasterhafteste Mensch, abgesehen davon, daß er – na, lassen wir das, aber er trüg den Knopf des Prinzenpagen – denn der war damals noch nicht Prinzregent, der Prinz, meine ich – und eine unanständigere Clique als die entourage des Prinzen hat es kein zweites Mal gegeben, kann ich wohl sagen! Und ich bitte dich sehr, meine liebe Nichte, verlange ja nicht von mir, daß ich dir erzähle, wie es kam, daß dein Vater gezwungen wurde, in die Scheidung einzuwilligen, denn ich fühle mich sofort einer Ohnmacht nahe, wenn ich bloß an den Skandal denke und die Art, wie selbst meine engsten Freunde – ich bin ganz außer mir! Mein Riechsalz ...! Oh, da hab ich's ja!»
Venetia, die allem verblüfft zugehört hatte, sagte langsam: «Das also war es, warum sich Papa in Undershaw einsperrte und sie nie mand erwähnen durfte! Von allen schafsköpfigen Dingen, die er tun konnte – aber wie ihm das ähnlich sieht! Wie so ganz ähnlich!»
«Pst, Venetia», sagte Edward streng. «Denke daran, von wem du sprichst!»
«Nichts da – pst!» gab sie zurück. «Du weißt sehr gut, daß ich ihn nicht gern gehabt habe, und wenn du glaubst, daß das jetzt ein passender Augenblick für mich ist, so zu tun, als hätte ich ihn geliebt, dann spinnst du wohl! Hat es je eine derart egoistische Narrheit gegeben? Bitte sehr, wieviel Liebe hegte er für mich, als er mich lebendig begraben hat, statt darauf zu schauen, daß ich wie jedes andere Mädchen aufgezogen wurde, so daß mich jeder gut kennenlernen konnte? Nach alledem, was von mir bekannt ist, könnte ich Mama im Charakter ebenso ähnlich sein wie äußerlich!»
«Genau das ist es, meine Liebe!» bestätigte Mrs. Hendred und steckte den Stöpsel in ihr Riechfläschchen. «Das ist es ja, warum ich dir ewig erzähle, daß du dich nicht genug vorsehen kannst, um den Leuten nicht den leisesten Anlaß zu geben, zu sagen, du seist genau wie sie! Nicht, daß ich deinem armen Papa im geringsten Vorwürfe machen könnte, obwohl dein Onkel natürlich sein Äußerstes tat, um ihn zu überzeugen, daß er damit den größten Fehler machte, denn er ist sehr dickköpfig und gibt überhaupt nichts auf Klatsch. Aber Francis war immer solch ein Prinzipienreiter, der die Grenzen nie überschritt und immer so stolz war! Er konnte es nicht ertragen, derart gedemütigt zu werden, und man konnte sich wirklich nicht darüber wundern, denn statt sich vor der Welt zu verstecken, wie man es von ihr hätte annehmen müssen, hat Aurelia – deine Mama, meine ich, und wie ganz gräßlich, daß man dir gegenüber derart über sie sprechen muß, aber ich habe wirklich das Gefühl, liebes Kind, daß du die Wahrheit wissen sollst – nun, sie hat entschieden in ganz London herumparadiert, obwohl sie natürlich nicht empfangen wurde, und bedenke nur, wie entwürdigend für den armen Francis das gewesen wäre! Kaum hat sie Sir Lambert geheiratet, und das Wunder ist, daß er sie tatsächlich geheiratet hat, wo es doch ein offenes Geheimnis war, daß sie seine Geliebte war und ihn außerdem ein Vermögen kostete! –, kaum heiratete er sie, als sie auch schon überhaupt ausgesprochen unverschämt wurde! Nichts war ihr gut genug, daß wir alle rot wurden und alles sie anstarrte. Sie pflegte jeden Nachmittag einen Phaeton im Park zu kutschieren, mit vier cremefarbenen Pferden, das Geschirr in Blau und Silber, das Sir Lambert angeblich von Astley kaufte, ganz als wäre sie überhaupt nicht seine Frau, sondern etwas sehr anderes!»
«Heiliger Himmel!» sagte Venetia und mit einem Meinen Gelächter. «Wie todschick von ihr! Ich sehe natürlich ein, daß das bei Papa nie gegangen wäre. Der Arme! Der Allerletzte in der Welt, den sie hätte nach ihrer Pfeife tanzen lassen können!»
«Sehr richtig, meine Liebe, obwohl ich sehr bitte, daß du dich keiner so ungehörigen Sprache bedienst! Aber du siehst doch ein, wie peinlich das war? Und besonders, als die Zeit kam, daß du debütieren solltest, worauf dein Onkel bestand, daß ich deinen Papa um die Zustimmung bedrängen müsse. Und niemand kann sagen, daß ich mich nicht angeboten hätte, dich bei Hof vorzustellen, aber als dein Papa es ablehnte – nun, denke bloß, was für eine Katastrophe das für mich gewesen wäre, denn sie lebten damals in der Brook Street – die Steeples, meine ich –, und Aurelia war immer so kapriziös, daß nur der Himmel weiß, was sie sich nicht alles in den Kopf gesetzt hätte, anzustellen! Sie hat doch sogar die Unverschämtheit gehabt, dir heute abend mit der Hand zuzuwinken! Ich werde ewig dankbar dafür sein, daß niemand da war, den ich kenne, der das gesehen hätte! O Himmel, was in aller Welt hat die beiden nach England zurückgeführt, möchte ich wissen?»
«Sie leben jetzt nicht hier, Ma'am?»
«Nein, nein, schon seit Jahren nicht, obwohl ich mir vorstelle, daß Sir Lambert immer wieder hie und da herkommt, denn er hat einen sehr großen Besitz im Staffordshire. Ich glaube, Aurelia bildete sich ein, weil sie den Prinzregenten bei sich zu Gast hatte, und diese ganze Clique, würde die gute Gesellschaft sie wieder empfangen, aber davon war natürlich keine Rede, und daher verkaufte Sir Lambert das Londoner Haus – oh, schon vor sechs oder sieben Jahren –, und ich glaube, sie gingen nach Lissabon oder so irgendwohin. Seit kurzem – seit dem Frieden, meine ich – leben sie in Paris. Warum sie ausgerechnet in diesem Augenblick nach London kommen müssen – dein Onkel weg von daheim – und ich weiß überhaupt nicht, was da zu tun ist.»
«Meine liebste Ma'am, nichts!» sagte Venetia. «Selbst von meinem Onkel kann man nicht erwarten, daß er sie aus dem Land vertreibt!» Sie stand auf und ging im Zimmer herum. «In meinem Kopf wirbelt es nur so!» sagte sie und preßte die Hände an die Schläfen. «Wie ist es nur möglich, daß ich nie auch nur darüber flüstern gehört habe? Sie müssen es doch bestimmt gewußt haben ...? Jeder daheim – Miss Poddemore, Nurse – die Leute im Dorf!»
«Dein Papa hat allen verboten, davon zu sprechen, meine Liebe. Außerdem ist nicht anzunehmen, daß die in Undershaw alles wußten, denn es wurde sehr geheimgehalten – da hat dein Onkel schon darauf gesehen! –, und auf jeden Fall bin ich überzeugt, daß Miss Poddemore – eine ganz ausgezeichnete Frau! – keiner Seele gegenüber je darüber den Mund aufgemacht hätte!»
«Nein. Noch Nurse, noch – aber die Mädchen – nein, sie hatten alle eine solche Ehrfurcht vor Papa – sie hätten es nicht gewagt, nehme ich an. Aber später, als ich erwachsen war ...»
«Du vergißt, daß du seit Sir Francis' Tod nur die Dennys und meine Mutter und mich gekannt hast», sagte Edward. «Außerdem waren da schon mehrere Jahre vergangen. Ich sage nicht, daß der Skandal vergessen worden sei, aber er war zu alt, als daß man im Yorkshire länger daran gedacht hätte. Es war ganz unwahrlich, daß du ihn je erwähnen hören würdest.»
«Habe ich auch nie. Guter Gott, warum konnte es mir nicht Papa erzählen? Von allen infamen – weiß es Conway?»
«Ja, aber Conway ist ein Mann, liebes Kind! Und natürlich mußte er es erfahren, als er nach Eton geschickt wurde, aber Papa hat ihm verboten, je davon zu sprechen!»
«Barbarisch! Absolut barbarisch!» sagte Venetia. Sie sah Edward an. «Das also ist der Grund, warum mich Mrs. Yardley nicht mag!» rief sie aus.
Er hob die Hand. «Ich versichere dir, meine liebe Venetia, da irrst du dich! Meine Mutter hat mir oft gesagt, daß sie dich sehr gern mag. Daß sie eine Zeitlang die Verbindung nicht wünschte, ist – ich weiß, du mußt mir da zustimmen – verständlich, denn ihre Grundsätze sind sehr hoch, und alle Skandale sind ihr widerwärtig – wie sie es ja auch wirklich jedem Menschen mit Anstand sein müssen.»
«So wie dir?» fragte sie.
Er antwortete gewichtig: «Ich leugne nicht, daß es nicht gerade das ist, was mir gefällt. Ja, ich habe mit mir gekämpft, und versucht, eine Zuneigung zu überwinden, die ich mir meinem Gefühl nach nie hätte erlauben sollen, überhaupt zu fassen. Aber es ging nicht. Ich habe mich überzeugt, daß weder in deinem Charakter noch deinem Gemüt etwas ist, das dich unwürdig gemacht hätte, die Nachfolge meiner lieben Mutter als Herrin von Netherfold anzutreten. Du hast manchmal ein bißchen zuviel Flatterhaftigkeit, wie ich dir hie und da andeuten mußte, an deiner Tugend hingegen zweifle ich nicht.»
«Edward, dieses Loblied – entweiht mich geradezu!» sagte Venetia schwach, sank in einen Sessel und bedeckte die Augen mit der Hand.
«Du bist aus der Fassung geraten», sagte er gütig. «Es ist kein Wunder. Es war zu schmerzlich für dich, erfahren zu müssen, was dir großen Kummer zufügen muß, aber du darfst dich von ihm nicht allzu sehr bedrücken lassen.»
«Ich werde mein Bestes tun, um nicht glatt in Verzweiflung zu fallen», versprach Venetia mit schwankender Stimme. «Vielleicht ist es jetzt besser, du gehst, Edward! Ich glaube nicht, daß ich noch weiter darüber sprechen kann, ohne hysterisch zu werden!»
«Ja, es ist sehr natürlich, daß du allein zu sein wünschst, um über alles nachzudenken, was du gehört hast. Ich werde dich denn verlassen, und in guten Händen», fügte er hinzu und verneigte sich leicht vor Mrs. Hendred. «Eines jedoch, was mir soeben einfällt, will ich noch sagen, bevor ich gehe. Es könnte sein, daß – äh – Lady Steeple versuchen wird, dich zu sprechen. Du wirst natürlich einem solchen Ansuchen nicht stattgeben, aber falls sie dir eine Botschaft sendet, antworte nicht darauf, bevor du mich nicht wieder gesehen hast. Es wird zwar eine peinliche Angelegenheit werden, aber ich werde sie mir sorgfältig überlegen und zweifle nicht daran, daß ich bis morgen imstande bin, dich zu beraten, in welche Formulierungen du deine Antwort kleiden sollst. Nun, glauben Sie ja nicht, Sie müßten nach Ihrem Butler läuten, um mich hinauszubringen, Ma'am, ich bitte sehr! Ich kenne mich aus!»
Daraufhin drückte er seiner Gastgeberin die Hand, klopfte Venetia aufmunternd auf die Schulter und begab sich von hinnen. Mrs. Hendred sagte leicht beleidigt: «Na, wenn dich jemand beraten soll, wie du Aurelia zu antworten hast, hätte ich gedacht – aber ich bin überzeugt, er hat es nett gemeint. Armes Kind, du bist ganz außer dir! Ich wünschte zum Himmel ...»
«Ich bin völlig aufgelöst!» gab Venetia zurück, ließ die Hand fallen und zeigte ihrer erstaunten Tante ein Gesicht, das ein einziges Lachen war. «Oh, meine liebe Ma'am, bitte, bitte, schauen Sie nicht so schockiert drein! Können Sie denn nicht verstehen, wie absurd – nein, ich sehe, das können Sie nicht! Aber wenn er noch einen Augenblick länger geblieben wäre, hätte ich vor Lachen gebrüllt! Schmerzliche Neuigkeit? Ich war im Leben noch nie so hocherfreut!»
«Aber, Venetia!» sagte Mrs. Hendred atemlos. «Meine liebste Nichte, du bist wirklich hysterisch!»
«Ich versichere Ihnen, ich bin es nicht, liebste Ma'am – obwohl ich staune, wenn ich an all den Unsinn denke, der über meinen Ruf und meine Aussichten zusammengeredet worden ist, daß ich nicht platt auf dem Boden liege und mit den Füßen strample! Damerel muß doch die Wahrheit gewußt haben! Sie muß ihm einfach bekannt gewesen sein. Ja, ich bin überzeugt, er ist mit meiner Mama sogar sehr gut bekannt, denn sie schaute mir genau nach der Sorte Frauen aus, die er kennen muß! Ja, und wenn ich es jetzt bedenke, dann sagte er mir einmal etwas, das beweist, daß er sie kennt! Nur war er in einer seiner scherzhaften Stimmungen, und ich dachte mir nichts dabei. Aber – aber wenn er alles über meine Mutter wußte, warum hat er dann geglaubt, es wäre mein Ruin, wenn ich ihn heirate? Das ist doch einfach idiotisch!»
Mrs. Hendred, die sich unter diesem frischen Schock wandt, sagte: «Venetia, ich flehe dich inständigst an ...! Es ist ja genau das, was es am allerwichtigsten macht, daß du ihn ja nicht heiratest! Heiliger Himmel, Kind, bedenke nur, was man sagen würde! <Wie die Mutter, so die Tochter.> Wie oft habe ich dir eingeprägt, daß es deine Situation geradezu gebieterisch verlangt, daß du dich mit dem größten Anstand beträgst! Der Himmel weiß, es ist schwierig genug – obwohl dein Onkel sagt, er sei überzeugt, daß du sehr taugliche Anträge bekommst, denn er ist der Meinung, und auch Lord Damerel zweifellos, wenn man sieht, daß du ein unvergleichliches Mädchen bist – überhaupt nicht wie deine Mutter, sosehr du ihr auch ähnlich sehen magst, was, wie ich zugeben muß, geradezu ein Jammer ist –, wird kein vernünftiger Mann zögern – obwohl, je mehr ich an Mr. Foxcott denke, um so mehr zweifle ich, was ihn betrifft, weil...»
«Verschwenden Sie keinen einzigen Gedanken mehr an ihn!» sagte Venetia. «Verschwenden Sie überhaupt keinen einzigen Gedanken mehr an irgendeinen passenden Bewerber, den Sie für mich gefunden haben, liebe Ma'am! In mir steckt mehr von meiner Mama, als Sie nur im geringsten ahnen, und der einzig passende Gatte für mich ist – ein Wüstling!»