10
Die Neuigkeit, daß ihr Sohn mit Lord Damerel heftig verfehdet und Venetia Lanyon bis über beide Ohren in diesen verliebt war, erreichte Lady Denny von dritter Seite, und zwar von den Lippen ihrer ältesten Tochter. Clara war ein sehr vernünftiges Mädchen, Übertreibungen ebensosehr abhold wie ihr Vater, aber selbst ihr gemäßigter Bericht darüber, was Oswald Emily anvertraut und Emily ihr wiedererzählt hatte, konnte ihre Enthüllung auch nicht anders als äußerst beunruhigend machen.
Oswalds Absicht war es gewesen, undurchdringliches Schweigen über die Ereignisse zu bewahren, die seinen Glauben an die Frauen zerstört und ihn mit einem Schlag von einem glühenden Liebenden in einen unheilbaren Weiberfeind verwandelt hatten. Hätten seine Eltern, oder selbst nur seine beiden älteren Schwestern, genug Feinfühligkeit besessen, um zu merken, daß jener Jüngling, der vormittags unbekümmert von daheim weggeritten war, zur Zeit des Abendessens als verbitterter Zyniker zurückkam, so hätte er es abgelehnt, ihre besorgten Fragen zu beantworten, und hätte sie statt dessen in einer Art abgespeist, die darauf berechnet gewesen wäre, sie zu überzeugen, daß er durch ein seelenverhärtendes Erlebnis gegangen war. Unglückseligerweise war die Feinfühligkeit aller vier derart stumpf, daß sie nichts Ungewöhnliches in seiner abgehärmten Miene und seinen einsilbigen Äußerungen merkten, sondern sich das ganze Dinner hindurch über Banalitäten unterhielten, und das mit einer derartigen Heiterkeit, die ihn nur staunen lassen konnte, wie er in eine solche gefühllose Familie hineingeboren war. Seine Weigerung, auch nur von einem der Gerichte, die den zweiten Gang ausmachten, etwas zu sich zu nehmen, entlockte zwar seiner Mama einige Bemerkungen, aber da sie seine Appetitlosigkeit einem übermäßigen Genuß von Zuckerpflaumen zuschrieb, konnte es ihm nur leid tun, daß sie seine Enthaltsamkeit überhaupt bemerkt hatte.
Erst am nächsten Tag erwies sich eine zufällige Bemerkung Emilys als zuviel für seine Kraft, seinen Entschluß durchzuhalten. Mit der ganzen Taktlosigkeit ihrer fünfzehn Jahre staunte sie, daß er nicht zu einem Besuch Venetias weggeritten war, was ihn zu einem bitteren Auflachen führte und dem Ausspruch, er würde die Schwelle von Undershaw nie wieder überschreiten. Als er die Warnung hinzufügte, ihn ja nichts zu fragen, bat sie sofort, ihr zu erzählen, was denn geschehen sei.
Er hatte keinerlei Absicht, ihr irgend etwas zu erzählen, aber sie war ihm von der ganzen Familie geistig am nächsten verwandt, und es dauerte nicht lange, bis er ihren mitfühlenden Ohren zumindest einen Teil seiner Kümmernisse anvertraut hatte, mit einer Reihe Bemerkungen, die ihr zwar keinen sehr genauen Begriff von den Ereignissen des Vortages mitteilten, jedoch stark an ihr romantisches Herz appellierten. Sie sog alles, was er sagte, in sich ein, füllte die Lücken mit Hilfe einer Phantasie, die ebenso dramatisch war wie die seine, und erzählte schließlich Clara das Ganze unter dem Siegel der Verschwiegenheit.
«Aber obwohl ich wirklich überzeugt bin, daß das alles leeres Geschwätz ist, Mama, fühlte ich mich doch verpflichtet, ihr zu sagen, ich könne es nicht für richtig halten, es dir nicht zu erzählen», sagte Clara.
«Nein, wirklich!» rief Lady Denny ganz entsetzt. «Lord Damerel fordern? Guter Gott! Er muß verrückt sein! So etwas habe ich noch nie gehört, und ich zittere, wenn ich daran denke, was dein Vater dazu sagen wird! Oh, das kann nicht wahr sein! Zehn zu eins gewettet ist das eine von Emilys Canterbury-Geschichten!»
«Ich glaube, nicht ganz, Mama», sagte Clara gewissenhaft. «Ich fürchte, es besteht kein Zweifel, daß Oswald wirklich mit Lord Damerel gestritten hat, obwohl es etwas anderes ist, ob er ihn auch wirklich zu einem Duell herausgefordert hat. Du weißt, wie er und Emily übertreiben! Ich hätte angenommen, daß das unmöglich wäre, aber wenn es stimmt, daß Lord Damerel die arme Venetia mit seiner Aufmerksamkeit verfolgt, dann könnte es doch stimmen. Das ist es ja, warum ich es für meine Pflicht hielt, es dir zu sagen, weil Oswald sicherlich in einer seiner extravaganten Aufregungen ist, und wenn das vorkommt, dann kann man sich nicht darauf verlassen, daß er sich vernünftig beträgt. Und sollte er so unvorsichtig sein, Lord Damerel einen Streit aufzuzwingen ...»
«Sag so etwas nicht!» bat Lady Denny erschauernd. «Himmel, o Himmel, warum hat dieser abscheuliche Mensch auch herkommen müssen! Uns alle so in Aufruhr zu versetzen! Venetia verfolgen – hast du gesagt, daß er Undershaw wirklich täglich besucht?»
«Nun, Mama, das hat Oswald Emily erzählt, aber ich habe mich nicht sehr darauf eingelassen, weil er auch sagte, daß Venetia ganz betört sei und Lord Damerel ermutige, sich mit der größten Unanständigkeit zu benehmen, und das muß ja wirklich Unsinn sein, nicht?»
Aber Lady Denny, weit entfernt davon, beruhigt zu sein, wurde ganz blaß und brachte nur heraus: «Ich hätte doch wissen müssen, daß das passieren würde! Und was muß Edward Yardley ausgerechnet in einem solchen Moment anderes einfallen, als sich mit Windpocken hinzulegen! Nicht, daß ich glaube, er wäre auch nur im geringsten von Nutzen, aber er hätte es verhindern können, daß Damerel Venetia ständig am Hals sitzt, statt daß er seine Mutter jedesmal um Mr. Huntspill schicken läßt, wenn sie sich einbildet, sein Puls gehe zu schnell, und ein solches Getue macht, als hätte er die Blattern!»
«O Mama!» protestierte Clara, entsetzt über diese Strenge. «Du weißt, Mr. Huntspill hat uns erzählt, daß Edwards Papa schwindsüchtig war, so daß es kein Wunder ist, wenn Mrs. Yardley ängstlich ist! Und er sagte, daß Edward ganz erledigt sei, viel mehr als meine Schwestern!»
«Was Mr. Huntspill sagte», gab Lady Denny ergrimmt zurück, «war, daß Leute wie Edward Yardley, die eine vorzügliche Konstitution haben und kaum wissen, was das heißt, sich nicht ganz wohl zu fühlen, die schlimmsten Patienten sind, weil sie sich einbilden, an der Schwelle des Todes zu stehen, wenn sie auch nur einen kleinen Anfall von Kolik haben! Rede mir nicht von Edward! Ich muß sofort mit deinem Vater sprechen, denn wie böse er auch werden mag, Oswald ist sein Sohn, und es ist seine Pflicht, irgend etwas in dieser gräßlichen Sache zu unternehmen!»
Aber Sir John war nicht geneigt, der Geschichte, als sie ihm zuerst enthüllt wurde, viel Gewicht beizumessen, und außer daß er sagte, ihm verginge nun endgültig die Geduld mit Oswalds kindischem Theaterspielen, deutete nichts darauf hin, daß er in Wut geriet. Erst als er selbst Clara befragt hatte, begann er einzusehen, daß in der Erzählung mehr Wahrheit stecke, als er angenommen hatte. Selbst dann aber schien er mehr verärgert als entsetzt zu sein. Aber nachdem er sich die Sache überlegt hatte, sagte er, falls Oswald nicht vernünftiger gewesen war, als sich Venenas wegen zu einer lächerlichen Figur zu machen, bleibe nur eines übrig, nämlich ihn in einen anderen Landesteil zu verfrachten, bis er wieder zur Besinnung gekommen sein würde.
«Er soll lieber zu deinem Bruder George fahren», sagte er zu Lady Denny. «Das wird ihn auf andere Gedanken bringen als diese Narretei!»
«Zu George fahren? Aber ...»
«Ich werde nicht das Risiko eingehen, daß er hier irgendeinen infernalischen Krawall veranstaltet. Ich weiß nicht, wieviel ich von der Geschichte glauben soll, aber wenn er derart eifersüchtig ist, wie Clara meint, dann kann man nicht voraussagen, was er anzustellen imstande ist, und ich sage dir auf den Kopf zu, ich lasse nicht zu, daß der Bengel Damerel oder sonst wen belästigt.»
«Nein, nein! Nur bedenke doch, wie gräßlich, wenn er diesem Menschen wirklich einen Streit aufzwingen würde!»
«Na, das wird er nicht tun, also kannst du dich in diesem Punkt beruhigen. Sollte er das gestern wirklich versucht haben, dann hoffe ich aufrichtig, daß ihm Damerel für seine Unverschämtheit eins über den Schädel gegeben hat! Es bleibt nichts übrig, als ihn zu deinem Bruder zu schicken.»
Sie sagte zweifelnd: «Ja, aber vielleicht paßt es ihnen nicht, ihn gerade jetzt in Crossley zu haben. George ist zwar wirklich sehr gutmütig, und Elinor auch, aber ich bin überzeugt, daß sie das Haus voller Gäste haben, denn das haben sie immer, wenn die Jagd beginnt.»
«Darüber brauchst du dich nicht aufzuregen. Ich habe nichts darüber gesagt, weil es mir gar nicht paßt, Oswald zu dieser mondänen Bande zu schicken, aber ich bekam vergangene Woche einen Brief von George, in dem es hieß, sie würden sich freuen, ihn bei sich zu Besuch zu haben, falls ich ihn fahren ließe. Nun, gern tue ich es zwar nicht, aber ich möchte ihn doch lieber hinschicken, als ihn hierbehalten. Ich hoffe nur, daß er sich entsprechend benimmt!»
«Da wird George schon darauf sehen», sagte Lady Denny vertrauensvoll. «Verlassen Sie sich darauf, Sir John, es wäre das Allerbeste für Oswald, und nichts täte ihm besser, als mit seinen Vettern beisammen zu sein. Nur, wie soll man ihn dazu überreden?»
«Ihn überreden?» wiederholte Sir John. «Ihn überreden, daß er eine Einladung annimmt, ins Cottesmore auf Besuch zu fahren? In ein Haus, von dem er weiß, daß er sich mitten in der korinthischen Gesellschaft befinden wird?! Nein, nein, meine Liebste, das ist bestimmt nicht nötig!»
Sie war zwar durchaus nicht überzeugt, aber Sir John hatte ganz recht. Als Oswald die Einladung mitgeteilt wurde, war die Wirkung auf ihn fast lächerlich, so plötzlich und so vollständig verwandelte sie ihn aus dem schmollenden Märtyrer in einen aufgeregten Jungen, in dem Genugtuung, ekstatische Erwartung und eine leichte Unruhe keinen Raum für so untergeordnete Dinge wie Venetias Treulosigkeit, Damerels Schurkerei oder sein eigenes gebrochenes Herz ließen. Betäubt von der Großartigkeit des ihm angebotenen Vergnügens konnte er zuerst nicht mehr als stammeln: «Ob ich g-gern nach Crossley g-ginge? Und ob ich m-möchte!» Nachdem er den Rest des Dinners hindurch in einer Art Trance dagesessen hatte, aus der er später in einer so sonnigen Stimmung auftauchte, daß nicht einmal die Warnung seines Vaters, er müsse sich anständig benehmen, wenn er die Erlaubnis erhalten solle, nach Crossley zu fahren, Schatten in seiner Brust aufsteigen ließ. «O ja, aber natürlich werde ich das!» versprach er Sir John ernst. Dann verbrachte er einen glücklichen Abend damit, daß er mit ihm beunruhigende Probleme diskutierte, wie etwa, was er in Crossley an Trinkgeldern geben solle, wie er am besten seine Jagdpferde hinbringen könne und ob man von ihm erwarten würde, abends Kniehosen zu tragen. Sir John beruhigte ihn in dieser Hinsicht, erließ aber bei dieser Gelegenheit ein Verbot, bunte, nur lose geknüpfte Taschentücher statt adrett arrangierter Halstücher zu tragen. Aber die schwindelerregende Aussicht, mondäne Kreise zu betreten, hatte aus Oswalds Gemüt jegliche Sehnsucht verbannt, sich um eine romantische Note zu bemühen, daher war dies unnötig, und Sir John sah sich bald genötigt, statt dessen den Ankauf eines Paars Reitstiefel mit weißen Stulpen zu verbieten. Oswald war enttäuscht, aber so ungewohnt fügsam, daß sich Sir John ermutigt sah, ihm einige sehr vernünftige Ratschläge hinsichtlich des bescheidenen Betragens zu geben, dessen sich ein Neuling befleißigen sollte, der den Beifall jener erfahrenen Jäger zu gewinnen wünschte, die als die Krone der großen Welt galten. Da er seine ziemlich dämpfende Predigt mit dem Ausspruch einleitete, falls er nicht wüßte, daß er sich der Reitkunst seines Sohnes keineswegs zu schämen brauchte, hätte er keinen Augenblick lang daran gedacht, ihn nach Crossley gehen zu lassen, war Oswald imstande, das Ganze mit guter Miene zu schlukken. Sir John war seit vielen Monaten seinem einzigen Sohn nicht mehr so gnädig gesinnt gewesen, informierte er später Lady Denny und fügte hinzu, als er seine Schlafzimmerkerze ausblies, falls sich der Junge auch in Crossley so nett betrage, zweifle er nicht, daß sein Onkel und seine Tante sehr erfreut über ihn sein würden.
Da Lady Dennys Gemüt um ihre wichtigste Sorge erleichtert war, konnte sie sich der Betrachtung einer zweitrangigen Besorgnis zuwenden. Sir John hatte unmißverständlich einen tastenden Vorschlag abgelehnt, Damerel mit Andeutungen von Undershaw zu entfernen; so beschloß sie, daß es trotz der Ansprüche ihrer bettlägerigen Kinder ihre Pflicht sei, nach Undershaw hinüberzufahren, um selbst zu sehen, wieviel Wahres in Oswalds Behauptungen stekke, und, wenn nötig, Schritte zu unternehmen, die geeignet waren, mit einer sehr gefährlichen Situation Schluß zu machen. Was das für Schritte sein sollten, wußte sie nicht, noch überlegte sie es sich ernstlich, denn je mehr sie über die Sache nachdachte, um so größer wurde ihre Hoffnung, zu entdecken, daß die alarmierende Geschichte nichts als ein Produkt von Oswalds fieberhafter Phantasie war.
Als sie aber am nächsten Tag in Undershaw eintraf, sah sie auf den ersten Blick, daß sie sich einem grundlosen Optimismus hingegeben hatte. Venetia strahlte, war lieblicher denn je, das Glück leuchtete ihr aus den Augen und der rosige Hauch auf ihren Wangen war eine neue Blüte.
Sie begrüßte ihre mütterliche Freundin liebevoll wie immer und mit allem Ausdruck der Freude über ihren Besuch, aber Lady Denny ließ sich nicht täuschen – Venetia lebte in einer eigenen, paradiesischen Welt. Und obwohl sie sich nach den Kranken in Ebbersley erkundigte, voll Anteilnahme einem Bericht über deren Fortschritte lauschte und wirklich an ihnen und an verschiedenen anderen ähnlichen Themen interessiert zu sein schien, lagen ihre Höflichkeiten nur an der Oberfläche.
Während Lady Denny gemütlich dahinplätschernd plauderte, suchte sie nach irgendeiner Möglichkeit, auf den wahren Zweck ihres Besuchs zu kommen, ohne ihn gar zu deutlich zu enthüllen.
Sie hatte sich noch selten in einer derartigen Verlegenheit befunden. Sie hatte beschlossen, die natürlichste Annäherung würde die sein, Aubreys Unfall zu diskutieren. Zwar gelangte sie so weit, zu sagen, daß er Venetia in eine peinliche Situation gebracht habe, aber dieser vielversprechende Eröffnungszug mißlang. Venetia lächelte sie spitzbübisch an und antwortete: «Liebste Ma'am, jetzt haben Sie ja wie Edward gesprochen! Bitte um Verzeihung, aber ich muß einfach lachen! Die Situation war nicht im mindesten peinlich.»
Lady Denny versuchte ihr Bestes. «Nun, meine Liebe, ich bin glücklich, das zu hören, aber ich glaube, du verstehst nicht ganz, daß die Situation besonders heikel war.»
«Nein», stimmte ihr Venetia zu und brachte sie damit völlig aus der Fassung. «Ich kann natürlich verstehen, daß sie peinlich hätte sein können, obwohl ich zunächst viel zu besorgt um Aubrey war, um darüber nachzudenken, und später wäre es albern gewesen, darüber nachzudenken. Die Priory schien mir wie mein eigenes Daheim, und Damerel – oh, ein Freund, den ich schon mein ganzes Leben lang kenne! Ich glaube nicht, daß sowohl Aubrey wie ich je zehn glücklichere Tage verbracht haben. Selbst Nurse, bilde ich mir ein, tat es insgeheim leid, als sie die Priory verlassen mußte!»
Verblüfft über diese unerwartet offene Antwort fiel Lady Denny rein gar nichts ein, was sie hätte sagen können. Bevor sie wieder zur Besinnung kam, unterhielt Venetia sie schon mit einem lebendigen Bericht darüber, wie sich Nurse in der Priory benommen hatte. Die Hoffnung auf eine Gelegenheit, sich ihrer Mission zu entledigen, wurde unaufhaltsam kleiner und verschwand gänzlich, als ihr Venetia erzählte, wie nett Damerel zu Aubrey war und wie sehr Aubrey von seiner Freundschaft profitierte. Sie war kein Narr, und sie sah klar, daß es keinen Zweck haben würde, anzudeuten, daß Damerel Aubrey als Werkzeug benützte; es würde ihr die junge Freundin nur entfremden. Ihr Mut sank. Sie wurde allmählich ernstlich besorgt, weil sie fühlte, daß Venetia ihr entglitten und derart betört war, daß man sich nicht mehr auf ihre ruhige Vernunft verlassen konnte, die früher so charakteristisch für sie gewesen war.
Plötzlich öffnete sich die Tür, Aubrey schaute ins Zimmer herein und sagte: «Venetia, ich fahre mit Jasper nach York. Hast du irgendwelche ...» Er brach ab, als er Lady Denny erblickte, und hinkte durch das Zimmer, um ihr die Hand zu geben. «Verzeihung, Ma'am, wie steht Ihr Befinden?»
Lady Denny erblickte Damerel auf der Schwelle, und während sie Aubrey fragte, ob er sich von den Nachwirkungen seines Sturzes schon ganz erholt habe, gelang es ihr, sowohl Damerel wie Venetia zu beobachten. Wenn einer von beiden auch nur eine Spur von Verlegenheit gezeigt hätte, wäre sie weniger entsetzt gewesen. Aber bei beiden war nichts dergleichen zu merken, und hätte es noch etwas bedurft, um sie zu überzeugen, daß Oswald nicht übertrieben hatte, als er sagte, daß Damerel Undershaw täglich besuche, dann wäre es die völlige Zwanglosigkeit gewesen, mit der sich Venetia ihm gegenüber benahm. Anstatt sich zu erheben, wie sich das für eine Gastgeberin ziemte, und ihm die Hand zu geben, wandte sie nur den Kopf und lächelte ihn an. Lady Denny sah dieses Lächeln, und als sie schnell zu Damerel blickte, sah sie, wie er zurücklächelte – genausogut hätten sie einander gleich küssen können! dachte sie, sich plötzlich einer bisher nicht vermuteten Gefahr bewußt.
«Ich brauche Sie Lady Denny nicht mehr vorzustellen, nicht wahr?» sagte Venetia.
«Nein, ich hatte bereits die große Ehre», antwortete Damerel und kam mit einer Selbstverständlichkeit auf die Lady zu, die Ihre Gnaden als unverschämte Frechheit empfand, um ihr die Hand zu drücken.
Sie begrüßte ihn höflich, weil sie eine wohlerzogene Frau war, aber die Hand juckte ihr, in dieses harte, kühl lächelnde Gesicht zu schlagen. Sie bildete sich ein, Spott in seinen Augen zu entdecken, als fordere er sie, sich ihres Mißfallens wohl bewußt, heraus, doch zu versuchen, ob es ihr gelänge, sich zwischen ihn und Venetia zu stellen, und sie antwortete wirklich nur mit Anstrengung auf seine höfliche Frage, wie es ihrem Gatten gehe.
«Soll ich dir etwas aus York mitbringen?» fragte Aubrey seine Schwester. «Deshalb kam ich eigentlich herein.»
«Nein, wirklich, Liebes?» gab sie neckend zurück. «Bin ich dir aber dankbar! Und so gerührt, wenn ich denke, daß dir so etwas eingefallen ist!»
Er grinste sie, durchaus nicht verlegen, an. «Ist mir ja gar nicht!»
«Du unliebenswürdiger Schlingel!» bemerkte Damerel. «Du könntest doch zumindest so tun, als ob!»
«Warum denn, wenn sie doch weiß, daß ich die Tugend der Liebenswürdigkeit nicht besitze?» sagte Aubrey über die Schulter zu ihm, als er sich von Lady Denny verabschieden ging. «Leben Sie wohl, Ma'am – Sie halten mich doch nicht für unhöflich, wenn ich wegfahre, nicht wahr? Nein, denn ich weiß ja, daß Sie Venetia besuchen gekommen sind. Ich lasse dich nur eine Minute warten, Jasper, aber in Pantoffeln kann ich wohl nicht nach York fahren, oder?»
«Jedenfalls nicht in meiner Gesellschaft», sagte Damerel. Er schaute Venetia an, als sich die Tür hinter Aubrey schloß, und wieder sah Lady Denny das Lächeln, das sie wechselten. Es war so fein, daß es kaum zu merken war – kaum mehr als ein weicherer Ausdruck, eine Zärtlichkeit in den Augen. Sie bemerkte, daß es bei beiden unwillkürlich kam, und erkannte, daß die Sache ernster war, als sie je geträumt hätte, denn was immer Damerels Absichten sein mochten – mit einem verwegenen Flirt unterhielt er sich dabei nicht; es war ihm damit ebenso ernst wie Venetia. Jetzt sprach er mit ihr, nur über Aubrey, aber in einer Art, die verriet, wie vertraut sie miteinander waren. «Ich lasse ihn einfach nicht stundenlang mit der Nase in einem Buch herumsitzen», sagte er eben. «Die Fahrt wird ihm nicht weh tun.»
«Nein, im Gegenteil. Welcher gute Engel hat Ihnen das eingegeben? Mir ist es nicht gelungen, ihn aus der Bibliothek wegzulocken. Es war bald Mitternacht, als ich ihn gestern abend zu Bett gehen hörte, und als ich es wagte, ihm heute morgen Vorwürfe zu machen, informierte er mich, er hätte seit seinem Unfall ziemlich viel Zeit verschwendet und müsse sich jetzt aber wirklich ernstlich seinem Studium widmen! Ich habe gemeint, daß er gerade das die ganze Zeit getan hat!»
«O nein!» sagte Damerel spöttisch. «Er hat sich ja nur mit leichter Lektüre befaßt, solange er bei mir war – der Art etwa, wie sie ein Berkley und ein Hume bieten – mit Ausflügen zu Dugald Stewart. Die reine Entspannung!» Er schaute auf die Uhr an der Wand. «Falls ich ihn Ihnen zum Abendessen wiederbringen soll, ist es am besten, ich schaue einmal nach, was er eigentlich treibt. Ich möchte wetten, daß ich ihn mit einem Schuh an dem einen, einem Pantoffel am anderen Fuß antreffe, die Nase in einem Lexikon, weil ihm gerade eingefallen ist, daß er unbedingt irgendein obskures Wort zu dessen Quelle zurückverfolgen muß.»
Er wandte sich von ihr zu Lady Denny, um sich zu verabschieden, und als er dann Venetia die Hand schüttelte, fragte er: «Wollen Sie wirklich nicht etwas in York besorgt haben?»
«Nein – nicht einmal Fisch in einem Weidenkorb, was Aubrey am meisten haßt!»
Er lachte und ging. Venetia sagte in ihrer freimütigen Art: «Ich bin froh, daß er zufällig hereingekommen ist, während Sie bei mir sind, Mä am.»
«Wirklich, meine Liebe? Warum?» fragte Lady Denny.
«Oh ...! Weil ich erkannte, wie erstaunt Sie darüber sind, daß ich ihn gern mag, denn Sie mochten ihn ja nicht, als Sie ihn zuerst kennenlernten, nicht?»
Lady Denny zögerte und sagte dann: «Ich verstehe vollkommen, warum du ihn magst, Venetia. Ja, ich wäre sogar erstaunt, wenn es ihm nicht gelungen wäre, dich herumzukriegen, denn Männer seines – seines Schlages wissen, wie sie sich Frauen gegenüber charmant zu benehmen haben.»
«Ja», stimmte Venetia zu. «Sie müssen sehr viel Praxis haben, obwohl ich mir nicht denken kann, daß das nur der Praxis allein zuzuschreiben ist, nicht? Ich habe ja vorher noch nie einen Wüstling kennengelernt oder viel darüber nachgedacht, aber ich würde annehmen, daß ein Mann wohl kaum einer werden kann – nun, jedenfalls kein sehr erfolgreicher –, wenn er nicht von Natur aus charmant wäre.»
«Sehr wahr!» sagte Lady Denny ziemlich schwach. «Das ist es ja, was sie so besonders gefährlich macht. Aber du, bin ich überzeugt, bist viel zu vernünftig und nobel, um darauf hereinzufallen. Doch ich wollte, du wärst etwas auf der Hut, mein Liebes. Zweifellos findest du Lord Damerels Gesellschaft angenehm und fühlst dich ihm sehr zu Dank verpflichtet, aber ich gestehe – und du darfst es nicht mißverstehen, wenn ich dir das sage, denn ich kenne die Welt besser als du –, ich gestehe, daß es mir nicht ganz gefällt, daß er sich hier so sehr zu Hause fühlt. Weißt du, es ist nicht ganz das Wahre für eine unverheiratete Dame deines Alters, Herren zu bewirten.»
Venetia kicherte ein bißchen. «Ich wollte, Sie sagten das Edward!» bat sie. «Ihm fällt so etwas nicht ein. Er speist sogar hier, wenn es ihm gelingt, solange herumzusitzen, bis ich aus reiner Höflichkeit gezwungen bin, ihn auch noch zum Essen einzuladen.»
«Nun, meine Liebe – nun, das ist etwas anderes!» sagte Lady Denny und versuchte, ihre Streitkräfte zu sammeln. «Eure Freundschaft ist schon alt, daß – außerdem, dein Papa mochte ihn gern!»
«Nein, nein, Ma'am, wie können Sie Papa so unrecht tun?» protestierte Venetia. «Wenn Sie doch wissen müssen, daß er niemanden gern hatte! Ich weiß jedoch, was Sie sagen wollten – er dachte, daß Edward für mich gut genug sei!»
«Aber, Venetia ...»
Venetia lachte. «Verzeihung! Ich konnte einfach nicht widerstehen! Aber es gibt nicht den geringsten Grund zu Unbehagen, denn Damerel sieht die Sache genauso wie Sie. Vielleicht haben Sie bemerkt, daß ich ihn nicht fragte, ob er zum Abendessen hierbleiben wolle, als er sagte, er würde Aubrey uni die Zeit wiederbringen? Ich weiß, es würde nichts nützen – er wird es nie tun. Er sagt mir, solange er nichts anderes tut, als uns Morgenbesuche zu machen, werden die kritischen Leute sagen, er laufe hinter mir her, wenn er aber gar hier dinieren würde, dann würden sie sagen, daß ich seine sehr unschicklichen Annäherungsversuche ermutige. Beruhigt Sie das, liebste Ma'am?»
Es hatte genau die entgegengesetzte Wirkung auf ihre gütige Freundin. Und es war eine sehr bekümmerte Lady, die nach Ebbersley zurückfuhr und Sir John unverzüglich einen Bericht über ihren Besuch lieferte. Wäre sie weniger abgelenkt gewesen, hätte ihr der Ausdruck auf dem Gesicht ihres Sohnes eine zusätzliche Besorgnis verschafft – er sah gleichzeitig schuldbewußt und ängstlich aus, als sie ins Zimmer schaute, wo er mit Sir John saß, und als sie diesen bat, in ihr Ankleidezimmer zu kommen. Zum Glück jedoch sah sie ihren Sohn nicht an. Nach einer nervenzermürbenden Zeitspanne, in der sich Oswald ausmalte, wie sie seinem Vater sein entsetzliches Verhalten in Aubreys Tischlerscheune enthüllte, erkannte er, als sein Vater wieder zu ihm zurückkam, daß ihn Venetia jedoch nicht verraten hatte, und war derart erleichtert, daß er beschloß, ihr einen sehr höflichen Brief der Entschuldigung zu schreiben, bevor er Ebbersley verließ, um nach Crossley zu fahren.
Sir John sah bei der Erzählung seiner Gattin ernst drein, aber er blieb fest bei seiner Weigerung, sich einzumischen. Lady Denny, die dies für feige hielt, sagte vorwurfsvoll: «Bitte sehr, würdest du vielleicht auch nur zögern, mit Lord Damerel zu sprechen, wenn es um deine Tochter ginge»?
«Nein, bestimmt nicht, aber Venetia ist nicht meine Tochter», antwortete er. «Noch, meine Liebe, ist sie achtzehn Jahre alt. Sie ist fünfundzwanzig und ihre eigene Herrin. Falls sie sich wirklich in Damerel verliebt hat, tut sie mir leid, weil ich fürchte, daß es ihr Schmerz bereiten wird. Aber falls du fürchtest, daß sie irgendeine sehr ernste Unvorsichtigkeit begehen könnte, bin ich überzeugt, daß du deine Besorgnis mit deinem Verstand durchgehen läßt. Was mich betrifft, halte ich Venetia für. ein Mädchen von vorzüglichen Grundsätzen und für sehr verständig und kann nicht annehmen, daß Damerel, dem es, was immer seine Grundsätze sein mögen, sicherlich nicht an Vernunft mangelt, mehr im Sinn hat als einen Flirt.» Er sah, daß Lady Denny den Kopf schüttelte und fügte etwas scharf hinzu: «Gestehe mir doch zu, mein Liebes, daß ich etwas besser weiß als du, wie sich ein Mann wie Damerel zu einem Mädchen in Venetias Position verhält! Er ist liederlich – das leugne ich nicht, aber du bist einfach zu voreingenommen. Was immer seine Torheiten gewesen sein mögen, er hat Lebensart und ein ungewöhnliches Maß an Weltkenntnis, und du kannst dich darauf verlassen, daß er nichts anderes im Kopf hat als gerade nur einen angenehmen Flirt mit einer sehr hübschen Frau. Es ist unrecht von ihm, und sehr unheilvoll, denn er wird sie eine Woche nach seiner Abreise von der Priory vergessen haben, und sehr wahrscheinlich wird sie einen großen Schmerz erleiden. Aber solltest du mit deiner Meinung recht haben, daß sie ein tendre für ihn empfindet, kann das auch durch eine Einmischung meinerseits nicht geheilt werden, noch auch – muß ich hinzufügen – durch irgendeinen Versuch deinerseits, sie zu warnen, daß Damerel nur mit ihr spielt.»
«Oh, Sir John, das brauchen Sie mir nicht zu sagen!» rief sie aus. «Ein solches Kamel bin ich auch nicht, daß ich nicht im Handumdrehen erkannte, wie nutzlos es wäre, mit ihr zu reden! Aber in einem irrst du. Ich gebe zu, als ich mich heute morgen auf den Weg machte, da – aber als ich ihn sah, den Blick in seinen Augen, jedesmal, wenn sie auf ihr ruhten, ergriff mich die schrecklichste Angst! Des einen kannst du sicher sein – er spielt nicht, er ist ebensosehr in sie verliebt, wie sie in ihn! Sir John, falls nichts unternommen wird, um sie vor ihm zu schützen, wird sie ihn heiraten!»
«Guter Gott!» brachte er heraus. «Willst du mir damit erzählen – nein, das glaube ich nicht! Er hat weder die Absicht, Venetia zu heiraten, noch eine andere! Er ist ganze achtunddreißig, und seine Lebensweise festgelegt – das hat er ja der Welt deutlich gezeigt! Falls er je vorhatte zu heiraten, vielleicht wegen eines Erben, würde er wohl kaum alle diese Jahre einen so derart ruinösen Lebenswandel geführt haben. Wenn die Besitzungen nicht Fideikommiß wären, wäre er sie zweifellos genauso losgeworden, wie er schon ein sehr beträchtliches Vermögen verpulvert hat, und wir können danach beurteilen, wie wenig es ihn kümmert, wer nach ihm kommt. Nach den offenen Skandalen zu schließen, die mit ihm verknüpft sind, könnte man fast annehmen, daß er sich absichtlich zu einer höchst untauglichen Partie gemacht hat!»
«Alles, was du sagst, ist zweifellos sehr wahr, hat aber mit dem Fall Venetia nichts zu tun!» gab Ihre Gnaden zurück. «Was immer seine Absichten gewesen sein mögen, die kannst du beiseite tun, mein Lieber, denn die hat er jetzt bestimmt fallengelassen! Ich weiß, wie ein Mann dreinschaut und wie er spricht, wenn er flirtet, und du darfst mir glauben, so war das nicht, was ich heute gesehen habe! Er liebt sie sehr, und wenn er ihr nicht carte Blanche bietet – oder sie nicht derart betört ist, auf einen so sehr schockierenden Vorschlag zu hören! –, wird er sie um ihre Hand bitten, und sie wird ihn akzeptieren!» Sie hatte die zweifelhafte Genugtuung, am Ausdruck Sir Johns zu erkennen, daß es ihr gelungen war, ihn davon zu überzeugen, ihre üblen Vorahnungen seien kein Produkt eines aus den Fugen geratenen Verstandes, und fragte: «Wirst du also jetzt mit Damerel reden?»
Aber er blieb hart. «Bestimmt nicht! Bitte sehr, was wünscht du, daß ich ihm sage? Meine Bekanntschaft mit ihm ist nur sehr oberflächlich; Venetia ist weder mit mir verwandt, noch mir über ihre Handlungen Rechenschaft schuldig. Eine jede solche Einmischung wäre eine grobe Unverschämtheit, Ma'am! Wenn du sie nicht dazu bringen kannst, zu kapieren, wie katastrophal eine solche Heirat ausfallen würde, dann ist in der Sache nichts zu machen.»
Da sie den Klang der Endgültigkeit in seiner Stimme erkannte, gab sie den Versuch auf, ihn für ihre Denkweise zu gewinnen, und sagte bloß, irgend etwas müsse einfach unternommen werden, da es unsinnig sei anzunehmen, man könne Venetia, weil sie fünfundzwanzig war, zutrauen, mit ihren eigenen Angelegenheiten zu Rande zu kommen. Niemandem war das weniger zuzutrauen als einem Mädchen, das die ihr bekannten Junggesellen an den Fingern einer Hand zusammenzählen konnte; somit könne man sich darauf verlassen, daß sie sich in den ersten routinierten Mann verlieben würde, der ihren Weg kreuzte. «Und Sie wissen, was die Leute sagen würden, Sir John! Aber sie ist wirklich nicht wie ihre Mutter, wie sehr sie ihr äußerlich ähnlich sehen mag, und man darf einfach nicht zulassen, daß sie sich ihr Leben ruiniert! Wenn doch nur Aubrey das geringste Interesse für etwas hätte, das außerhalb seiner Bücher liegt – aber du kannst dich darauf verlassen, daß er nicht einmal sieht, was sich vor seiner Nase abspielt, und er würde es mir einfach nicht glauben!»
In dieser Hinsicht irrte sie. Aubrey hatte es nicht nur bemerkt, sondern interessierte sich sogar, wenn auch nicht intensiv, für die Angelegenheit, wie er seiner Schwester ein, zwei Tage später zeigte. Er war so liebenswürdig gewesen, sie nach Thirsk zu fahren, wo sie Besorgungen zu machen hatte. Auf dem Heimweg, als zufällig Damerels Name fiel, wie so häufig, erschreckte er sie damit, daß er ganz sachlich fragte: «Wirst du ihn heiraten, Liebes?»
Sie war ziemlich verblüfft, denn im allgemeinen stand er allem, was nicht seine eigenen Interessen betraf, derart gleichgültig gegenüber, daß sie, wie Lady Denny, angenommen hatte, es sei ihm nie eingefallen, Damerels Besuche in Undershaw könnten dessen Wunsch zuzuschreiben sein, eher sie als ihn zu sehen. Sie zögerte einen Augenblick, und er fügte hinzu: «Hätte ich dich nicht fragen sollen? Du brauchst natürlich nicht zu antworten, wenn du nicht willst.»
«Nun, ich kann gar nicht antworten», sagte sie freimütig. «Er hat nicht um mich angehalten!»
«Das weiß ich, Dummes! Du hättest es mir doch sagen müssen, wenn du dich mit ihm verlobt hättest! Wirst du ihn nehmen, wenn er um dich anhält?»
«Aubrey, wer hat dich dazu angestiftet, mich das zu fragen?» verlangte sie zu wissen. «Lady Denny kann es nicht gewesen sein! War es Nurse?»
«Himmel, nein! Niemand. Warum sollte es jemand sein?»
«Ich dachte, irgendwer hätte dir vielleicht gesagt, du sollst versuchen, ob du mich dazu überreden kannst, daß ich Damerel verbiete, nach Undershaw zu kommen.»
«Weil ich da schon viel darauf gäbe! Weiß es Lady Denny? Warum sollte sie wünschen, daß du Jasper nicht triffst? Mag sie ihn nicht?»
«Nein – das heißt, sie kennt ihn nicht, sondern nur seinen Ruf, und ich bilde mir ein, sie glaubt, er würde mich zum Narren halten.»
«Oh!» Er schaute stirnrunzelnd geradeaus und ließ seine Pferde etwas langsamer gehen, als sie sich dem Pförtnerhaus am Parktor näherten. «Ich weiß nicht viel über solche Sachen, aber ich glaube nicht, daß du dich zum Narren halten ließest. Soll ich Jasper fragen, welche Absichten er hat?»
Sie mußte wider Willen lachen: «Ich bitte dich, es nicht zu tun!»
«Nun, ich möchte es auch lieber gar nicht», gestand er. «Außerdem sehe ich keinen Sinn darin – er könnte es mir ja doch nicht sagen, selbst wenn er es vorhätte, daß er dich verführen will, und jedenfalls, was für eine verdrehte Vorstellung! Denn als ich Nurse loswerden wollte, sagte er, sie müsse in der Priory bleiben, um die Anstandsdame für dich zu spielen! Ich habe nie viel von den Geschichten gehalten, die die Leute über ihn erzählten, aber ich möchte fast behaupten, sie sind nicht wahr. Jedenfalls weißt du wahrscheinlich mehr darüber als ich, und wenn du dich nicht um sie kümmerst, warum sollte ich es dann?»
Sie hatten inzwischen das Tor passiert und tollten durch die Allee, die sich durch den Park schlängelte. Venetia sagte: «Ich weiß nicht, warum sich überhaupt jemand darum kümmert, aber sie scheinen alle zu glauben, ich muß eine dumme Unschuld mit mehr Haaren auf dem Kopf als Verstand sein, weil ich mein ganzes Leben nur hier gelebt habe. Ich bin froh, daß du das nicht glaubst, mein Herz. Ich kann noch nicht sagen, was passieren kann, aber wenn Damerel mich heiraten wollte – dir zumindest würde das nicht mißfallen, nein?»
«Nein, ich glaube, ich wäre sogar froh darüber», antwortete er. «Ich werde natürlich ohnehin nächstes Jahr nach Cambridge gehen, aber da gibt's dann die Ferien, weißt du, und ich würde sie bei weitem lieber bei Damerel als in Conways Haus verbringen.»
Über diesen Gesichtspunkt mußte sie lächeln. Mehr wurde dazu nicht gesagt, denn in diesem Augenblick brachte die letzte Kurve der Allee das Haus in Sicht, und Venetia war überrascht, als sie sah, daß eine beladene vierspännige Postkutsche vor der Haustür stand.
«Nanu, was ist denn das?» rief Aubrey aus. «Guter Gott, das muß Conway sein!»
«Nein, er ist es nicht», sagte Venetia, als sie eines Federhuts ansichtig wurde. «Es ist ein Frauenzimmer! Aber wer in der Welt – oh, könnte es Tante Hendred sein?»
Als jedoch Aubrey die Pferde hinter der Postkutsche anhielt und die Besucherin sich umdrehte, starrte Venetia auf eine völlig fremde Person hinunter. Sie war noch erstaunter, als sie entdeckte, daß die Fremde anscheinend das Abladen einer ungeheuren Anzahl von Reisetaschen und Koffern von der Chaise überwachte. Venetia schaute Ribble verblüfft an und hob die Brauen in einer stummen Frage. Aber er schaute ziemlich niedergeschmettert drein, und bevor sie noch eine Erklärung verlangen konnte, trat die Fremde – eine Dame mittleren Alters, nach der letzten Mode gekleidet – vor und sagte mit einem Air liebenswürdiger Sicherheit: «Miss Venetia Lanyon? Aber ich brauche nicht zu fragen! Und der arme kleine lahme Junge? Ich jedenfalls bin Mrs. Scorrier, wie Sie vielleicht erraten haben werden – obwohl der Butler von unserer zu erwartenden Ankunft nicht informiert worden zu sein scheint!»
«Verzeihung, Ma'am», sagte Venetia und stieg aus dem Phaeton, «aber hier muß ein Irrtum vorliegen! Ich fürchte, ich verstehe nicht!»
Mrs. Scorrier starrte sie einen Augenblick mit einem Ausdruck an, der von Liebenswürdigkeit weit entfernt war. «Wollen Sie mir erzählen, daß das, was der Mann sagte, stimmt, und Sie wirklich keinen Brief von – aber ich hätte es doch wissen müssen! Oh, ich hätte es wirklich erraten können, als ich in London entdeckte, daß der Gazette keine Bekanntgabe eingesandt worden war!
«Bekanntgabe?» wiederholte Venetia. «Gazette?»
Mrs. Scorrier gewann ihre Liebenswürdigkeit zurück und sagte mit einem kleinen Lachen: «Wie schlimm und wie vergeßlich von ihm! Ich werde ihn fürchterlich ausschelten, das verspreche ich Ihnen! Ich glaube wirklich, daß Sie in größter Verlegenheit sein müssen. Nun, ich habe Ihnen eine Überraschung mitgebracht, aber keine, wie ich hoffe, unerfreuliche! Charlotte, mein Liebling!»
Auf diesen Ruf hin, der zur offenen Tür gerichtet war, tauchte ein sehr hübsches Mädchen aus dem Haus auf, mit großen, ängstlichen lichtblauen Augen, einer Menge flachsblonder Ringellocken und einem sanften, überempfindsamen Mund, und sagte mit nervöser, atemloser Stimme: «Ja, Mama?»
«Komm her, mein Liebes!» lud sie Mrs. Scorrier ein. «Liebes Kind! Du hast schon darauf gebrannt, deine neue Schwägerin und deren kleinen lahmen Bruder kennenzulernen, nicht? Hier sind sie beide! Ja, Miss Lanyon – das ist Lady Lanyon!»